Nahtoderfahrung

Auch Nahtoderlebnis, kurz NTE, Übersetzung des von Raymond Moody geprägten Begriffs near-death experience bzw. NDE. Mit NTE ist eine spezifische Art der Außerkörperlichen Erfahrung gemeint, die situationsgebunden ist und in lebensgefährlichen Momenten, bei Unfällen oder bedrohlichen Krankheiten, oft auch während des sog. „klinischen Todes“ auftritt. Häufig wird dabei der eigene physische Körper aus der Perspektive des „neuen Körpers“ (Astralleib) bzw. des gelegentlich auch als körperlos empfundenen Zustandes wahrgenommen (Autoskopie). Ferner berichten die Betroffenen von Außersinnlichen Wahrnehmungen in ihrer unmittelbaren Umgebung (Parker, 228). NTEs wurden ursprünglich als Reisen in die Unterwelt verstanden, und die Berichte von Erfahrungen in Todesnähe und Jenseitsvorstellungen durchziehen die Geschichte der Menschheit (vgl. Zaleski), wie wir aus der Bibel (Jes 26,19; Dan 12,2), aus dem Tibetanischen Totenbuch, dessen Inhalt nach jahrhundertelanger mündlicher Überlieferung im 8. Jh. n. Chr. niedergeschrieben wurde, von Platon (Phaidon, Gorgias, Staat) u.a. wissen.

Einen Meilenstein in der zeitgenössischen NTE-Forschung setzte das Erlebnis des Arztes George Ritchie ‒ es war der erste Bericht, der dem amerikanischen Psychiater und Philosophen Raymond Moody zu Ohren kam und der die Forschung, die kurz zuvor von der Schweizer Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross eröffnet wurde, ins Rollen brachte. Ritchie war als 20-Jähriger nach einer militärischen Übung in Camp Barkeley,Texas, schwer erkrankt und verlor vom 20. bis zum 24.12.1943 das Bewusstsein: Er saß auf seinem Krankenhausbett im Barkeley Station Hospital und hatte das Gefühl, soeben aufgewacht zu sein, konnte sich aber nicht daran erinnern, wie er sich hingesetzt hatte, auch nicht, wie er in dieses Zimmer gekommen war. Als er auf seine Uhr schauen wollte, war sie nicht mehr am linken Arm. Sein einziger Wunsch war, wieder nach Richmond, Virginia, nach Hause zu gelangen. Er machte sich auf den Weg, musste jedoch feststellen, dass niemand auf ihn reagierte, ja, ein Mann geradewegs durch ihn hindurchging. Plötzlich fand er sich in erheblicher Höhe, etwa 500 Fuß, in rasendem Tempo fliegend wieder. Der Position des Polarsterns zufolge flog er Richtung Osten, konnte eine Landschaft mit Hügeln und Bäumen erkennen, einen breiten Fluss mit einer Brücke und eine Stadt am östlichen Ufer. Er flog nun tiefer und konnte nun das lichtblaue Schild der Biersorte Pabst Blue Ribbon Beer draußen an einem weißen Café erkennen. Der Himmel war kristallklar und die Nacht musste eisig sein, doch Ritchie fror absolut nicht. Er hatte auch keine Ahnung, wie weit er inzwischen gekommen war. Als er jemanden nach dem Weg nach Richmond fragte, wanderte zum zweiten Mal ein Mensch mitten durch ihn hindurch. Ritchie realisierte nun, er müsse wohl tot sein, und entschloss sich, seinen alten Körper wiederzubekommen. Er fand nun zwar das Hospital, doch erst nach langem Suchen das kleine Zimmer, in dem er seiner Vermutung nach seinen Körper zurückgelassen hatte. Anhand eines bestimmten Ringes an dem Ringfinger seines alten Körpers konnte er endlich sein Zimmer identifizieren, wenn es ihm auch nicht gelang, die über den Kopf gelegte Bettdecke herunterzuziehen. Er konnte sich zwar auf das Bett neben den abgedeckten Körper setzen, doch war es ihm beim besten Willen nicht möglich, mit seinem spirituellen oder Seelenkörper wieder in seinen alten Körper durch irgendeine kleine Öffnung hineinzuschlüpfen. Wie er sich immer tiefer in seine Trauer hineinsteigerte, sprach er die Worte: „Oh Gott, wo bist du, wo ich so verloren und entmutigt bin?“ Da tauchte ein Licht am Bettende auf ‒ er dachte erst, es sei eine kleine Nachttischlampe ‒ , doch es wurde immer intensiver und heller, so hell, dass normale Augen bei seinem Anblick erblindet wären. Dann sagte ihm plötzlich eine Stimme aus seinem tiefsten Inneren heraus: „Steh auf, du befindest dich in der Gegenwart von Gottes Sohn.“ Er wurde geradezu aus dem Bett hochgerissen, und aus dem brillianten Licht am Kopfende des Bettes stieg das herrlichste Wesen, das er jemals gesehen hatte. Die Krankenhauswände verschwanden und an deren Stelle trat ein lebendiges Panorama seines gesamten Lebens, das alle Details von seinem Kaiserschnitt während der Geburt bis auf den gegenwärtigen Tag vorführte. Ritchie befand sich, wie er es formuliert, in der Gegenwart des Einen, der da sagt: „Ich bin das Alpha und das Omega“ (Ritchie, 87-99).
Kurz nach Erscheinen des einschlägigen Buches On Death and Dying von Kübler-Ross (1968), dt. „Interviews mit Sterbenden“ (1973) erschien das Buch Life after Life von Moody (1975), in dem er den harten Kern der NTEs, für die das Erlebnis von Ritchie beispielhaft ist, herauskristallisiert:
1) Gefühl eines oft als unsagbar bezeichneten Friedens,
2) Empfindung, vom physischen Körper getrennt zu sein,
3) Eintritt in eine Dunkelheit oder einen Tunnel,
4) Begegnung mit einem strahlenden und außergewöhnlich schönen Licht,
5) Aufgenommenwerden von diesem Licht.

Noch weiter differenziert Evelyn Elsaesser Valarino in ihrem Buch Erfahrungen an der Schwelle des Todes (1995) die Phasen der NTEs und beschreibt 12 Stationen, die allerdings nur selten in einer einzelnen NTE durchschritten werden (Elsaesser Valarino 1995, S. 12f.):
1) Verlassen des physischen Leibes
2) Tunnelerlebnis
3) Strahlendes Licht
4) Begegnung mit einem Lichtwesen, das die absolute Liebe personifiziert.
5) Empfindung unendlichen Glücks, einer unsagbaren Freude, eines tiefen Friedens
6) Begegnung mit nahestehenden Verstorbenen oder mit unbekannten Wegbegleitern
7) Vision einer Lichtstadt
8) Rückblick auf das eigene Leben (Lebensfilm)
9) Erkenntnis des absoluten Wissens
10) Gewissheit, Teil eines harmonischen universalen Ganzen zu sein.
11) Verschiedene Wahrnehmungen, die eine Grenze symbolisiseren, deren Überschreitung die Rückkehr in das Leben unmöglich machen würde.
12) Gewollte oder erzwungene Rückkehr ins Leben.

Neben diesem typischen Verlaufsmuster einer NTE gibt es kulturelle Varianten, etwa bei dem Tunnelerlebnis und dem Lebensrückblick, die beide eher kennzeichnend für westliche Gesellschaften sind, nicht jedoch für Jäger- und Sammlergesellschaften oder Ackerbauern und Viehzüchter, wie der australische Soziologe Allan Kellehear zeigt (Kellehear 2000).
Unterschiede gibt es auch bei den besonders tiefgehenden Wahrnehmungen eines Lichtwesens. So wird das Lichtwesen als das charakteristische göttliche Wesen der eigenen Religion, z.B. als Christus, Krishna, Buddha oder Mohammed, erkannt und dessen grenzenlose Liebe als unbeschreiblich schön empfunden (Winkler 1996, S.115ff.). Kübler-Ross betont, daß viele katholische Kinder in den Sterbeminuten Maria sehen, protestantische dagegen nicht. Jeder sieht den, der für ihn die größte Bedeutung hat (Kübler-Ross, 16). Kinder sehen bei einem Nahtodeserlebnis oft auch „Spielkameraden“. Diese werden unter christlichem Einfluss als Schutzengel erlebt und von den meisten Forschern als „Geistführer“ bezeichnet (Kübler-Ross, 61). Allgemein wird bei NTEs auch von Begegnungen mit verstorbenen Verwandten und Freunden berichtet. Nach Kübler-Ross wollen 99% der befragten Kinder, welchen Menschen sie am liebsten bei sich haben würden, ihre Eltern treffen. Schwarze Kinder bevorzugen dagegen ihre Großeltern. In der Tat sehen die Kinder beim Sterben in der Regel jedoch nicht ihre Eltern, sofern diese noch am Leben sind, so wie nach dem reichen Erfahrungsschatz von Kübler-Ross generell Personen gesehen werden, die schon tot sind, auch wenn sie erst vor einer Minute verstorben sind.
Eine weitere kulturelle Variante ist der point of no return, an den die Reisenden gelangen. Diese Grenze kann z.B. ein Wall, eine Brücke, ein Fluss oder ein Gebirgszug sein (Winkler 1996, S.115ff.), und Kübler-Ross berichtet von einer eigenen NTE (Kübler-Ross, 17): „Ich als Schweizerin durfte einen Alpenpass mit Alpenblumen überqueren. Jeder bekommt den Himmel, den er sich vorstellt.“ Aus dem abendländischen Kulturkreis sind die Flüsse der Unterwelt bekannt, so aus der griechischen Mythologie vor allem der Acheron und der Styx, dann auch der Kokytos und der Pyriphlegethon, die es zu überwinden gilt, wenn wir uns in die andere Welt begeben. In der alten iranischen Kultur und in der Religion des Zarathustra trifft der Reisende auf die Richterbrücke, die „Brücke des Scheiders“, unter der sich die Hölle befindet. Jeder, der auf eine solche Grenze stößt und dessen Blick über diese Grenze hinausreicht, verspürt eine starke Sehnsucht, weiterzugehen und nie wieder zurückzukehren. Eben diese letztgenannte Erfahrung ist es, die den anschließend doch ins Leben Zurückgekehrten einschneidend verändern und dessen Einstellung zum Leben um eine ethische, wenn nicht religiöse Dimension wesentlich bereichern kann. > Astralprojektion, > Astralleib.

Lit.: Moody, Raymond: Leben nach dem Tod. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1977; Evans-Wentz, W.Y. (Hg.): Das Tibetanische Totenbuch oder Nahtod-Erfahrungen auf der Bardo-Stufe. Olten und Freiburg i.Br.: Walter-Verlag, 1982; Osis, Karlis/Haraldsson, Erlendur: Der Tod ‒ ein neuer Anfang. Freiburg i.Br.: Hermann Bauer ²1987; Kübler-Ross, Elisabeth: Über den Tod und das Leben danach. Melsbach: Verlag Die Silberschnur, 1989; Zaleski, Carol: Nah-Todeserlebnisse und Jenseitsvisionen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Frankfurt a.M./Leipzig: Insel Verlag, 1993; Kellehear, Allan: Culture, biology, and the near-death experiencew. Journal of Nervous and Mental Disease 181 (1993), 148-156; Elsaesser Valarino, Evelyn: Erfahrungen an der Schwelle des Todes. Weyarn, Schweiz: Seehamer Verlag GmbH, 1995; Bailey, Lee W./Yates, Jenny: The Near-Death Experience. A Reader. New York/London: Routledge, 1996; Ritchie, George: My Life After Dying, in: Lee W. Bailey/Jenny Yates: The Near-Death Experience. A Reader. New York und London: Routledge 1996, S. 87-99; Winkler, Engelbert J.: Das Abendländische Totenbuch. Hamburg: Corona Verlag, 1996; Kellehear, Allan: Scienza, esperienze di pre-morte e prospettiva sociologica. Proceedings of the “Fourth International Congress on Borderland Experiences. NDE’s magic universe: stories, analyses and memory of life beyond life”. San Marino, April 14-16, 2000, 75-84; Parker, Adrian: What Can Cognitive Psychology and Parapsychology Tell Us About Near-Death Experiences. Journal of the Society for Psychical Research 65 (2001), 225-240.

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