KANNER- und ASPERGER-SYNDROM
Autismus (griech. αυτοσ, selbst) ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die sich durch Symptome in folgenden drei Bereichen äußert:
- im sozialen Umgang mit den Mitmenschen,
- in der Kommunikation und
- in sich stets wiederholenden Handlungen.
Die Störung wird als angeborene, unheilbare Wahrnehmungs- und Informationsverhaltensstörung des Gehirns beschrieben, die sich schon in den ersten drei Lebensjahren bemerkbar macht.
Nach Diagnosekriterien wird zwischen frühkindlichem Autismus (Kanner-Syndrom) und dem Asperger-Syndrom unterschieden, das sich oft erst nach dem dritten Lebensjahr bemerkbar macht. Dabei sind die Übergänge in ihrem Schweregrad fließend, sodass das Autismus-Spektrum (Autismus-Spektrum-Störung, ASS) der Klassifikation nach ICD-101 der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und dem DSM-52 der Amerikanischen psychiatrischen Gesellschaft eine genaue Abgrenzung kaum erleichtert. Die Symptome und individuellen Ausprägungen des Autismus können nämlich von leichten Verhaltensproblemen an der Grenze der Auffälligkeit bis zu schweren geistigen Behinderungen reichen.
Die Begriffe „Autismus“ und „autistisch“3 wurden erst 1911 von dem Schweizer Psychiater Eugen Bleuler (1857-1939, Abb. 1) eingeführt und als ein Grundsymptom der Schizophrenie bezeichnet. Sigmund Freud übernahm die Begriffe und setzte sie annähernd mit den Begriffen „Narzissmus“ und „narzisstisch“ gleich.
1943 beschrieb Leo Kanner als Erster den frühkindlichen Autismus, der heute auch als Kanner-Autismus bezeichnet wird. Im gleichen Jahr reichte Hans Asperger, unabhängig von Kanner, bei der Medizinischen Fakultät der Wiener Universität die Habilitationsschrift „Die ,autistischen Psychopathen‘ im Kindesalter“ ein. Seine Beobachtungen beziehen sich im Gegensatz zu Kanner auf Kinder, deren Intelligenz in den meisten Fällen normal ausgeprägt ist, bei denen sich das Autismus-Syndrom erst ab dem vierten Lebensjahr bemerkbar macht und heute als Asperger-Syndrom bezeichnet wird.
Im DSM-5, der am 18. Mai 2015 erfolgten fünften Ausgabe des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM/Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen), das seit 1952 von der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft (American Psychiatric Association, APA) in den USA herausgegeben wird, werden Kanner-Syndrom und Asperger-Syndrom gemeinsam mit dem Autismus und weiteren Erkrankungen, die mit einer Veränderung in der sozialen Kommunikation und sozialen Interaktion verbunden sind, in der neuen Gruppe der sog. Autismus-Spektrum-Störungen (engl. Autism Spectrum Disorders) zusammengefasst, da es zwischen den einzelnen Störungen nur quantitative Unterschiede gäbe. DSM-5 löst zwar die vierte Auflage DSM-IV von 1994 ab, allerdings erfolgt durch die im DSM-5 gegebene Möglichkeit, jede Verhaltensauffälligkeit als „milde“ Störung zu diagnostizieren, eine Inflation von Diagnosen, die den Betroffenen dann lebenslang anhängen können4, wie der ehemalige Vorsitzende der DSM-IV-Kommission, der US-amerikanische Psychiater Allen Frances, kritisiert.5 Auch das National Institute of Mental Health (NIMH) mit seinem Leiter Thomas Insel kritisiert das DSM-5 für seine Unschärfe.6 Wir folgen daher zur besseren Differenzierung der speziellen Beschreibung von Kanner-Syndrom und Asperger-Syndrom und verweisen nur kurz auf den Hochfunktionalen Autismus.
Forschungen haben weiters gezeigt, dass 50% der sog. Inselbegabungen Autisten sind. Es ist daher angebracht, den folgenden Beiträgen über Inselbegabungen eine ausführliche Darstellung der genannten Formen des Autismus vorauszuschicken.
Kanner-Syndrom /
Frühkindlicher Autismus
Leo Kanner (Abb. 2) wurde am 13. Juni 1896 in Klekotow, Österreich-Ungarn, heute Klekotiv in der Ukraine, geboren und starb 1981 in Sykesville, Maryland, USA. 1906 zog die Familie Kanner nach Berlin. Dort begann Kanner nach dem Abitur sein Medizinstudium, das er im Ersten Weltkrieg wegen Einberufung zum medizinischen Dienst in der österreichisch-ungarischen Armee unterbrechen musste. Im Dezember 1919 beendete er an der Universität Berlin erfolgreich sein Medizinstudium und eröffnete nach Erhalt der preußischen Staatsbürgerschaft in Berlin eine ärztliche Praxis.
Nach Veröffentlichungen von Fachpublikationen, insbesondere auf dem Gebiet der Ethno-Neuropsychiatrie, erhielt Kanner 1928 ein Stipendium für die Henry Philipps-Psychiatrie am Johns Hopkins Hospital in Baltimore, USA, wo er 1930 die Leitung des Children’s Psychiatric Service übernahm. Es handelte sich dabei um die erste kinderpsychiatrische Institution an einer Kinderklinik in den USA. Ab 1938 konzentrierte sich Kanner auf eine kleine Gruppe von Kindern mit sehr speziellen autistischen Symptomen und veröffentliche 1943 den Artikel Autistic Disturbances of Affective Contact.7 Im folgenden Jahr veröffentlichte er in The Journal of Pediatrics eine Kurzfassung unter dem Titel Early infantile autism (frühkindlicher Autismus), der, wie das Synonym Kanner-Syndrom, zu einem festen Begriff in der Literatur wurde und womit er in die Geschichte einging.8
Der frühkindliche Autismus, meist angeboren, bzw. das Kanner-Syndrom weist tiefgreifende Entwicklungsstörungen auf, die hier aus den oben genannten Gründen zur besseren Abgrenzung nach DSM-IV9 in Anlehnung an DSM-5 durch die folgenden Merkmale gekennzeichnet werden.
1. Autistische Merkmale
A) Qualitative Beeinträchtigung der zwischenmenschlichen Beziehungen:
1) Deutlich mangelndes Bewusstsein für die Existenz oder Gefühle anderer; behandelt den anderen wie einen Gegenstand und hat offensichtlich kein Empfinden für das Verlangen anderer nach Privatsphäre.
2) Kein Verlangen nach Trost bei Kummer oder Krankheit.
3) Kein bzw. beeinträchtigtes Nachahmungsverhalten.
4) Zeigt kein oder abnormes soziales Spielverhalten (benutzt z.B. andere Kinder beim Spielen nur als „mechanische Hilfen“).
5) Starke Beeinträchtigung der Fähigkeit zum Knüpfen von Freundschaften mit Gleichaltrigen.
B) Qualitative Beeinträchtigung der verbalen und nonverbalen
Kommunikation sowie der Phantasie:
1) Kommunikation weder durch Plappern als Kommunikationsversuch, Gesichtsausdruck, Gestik oder Mimik, noch durch Sprechen.
2) Deutlich abnorme nonverbale Kommunikation in Körperhaltung, Gestik oder Blickkontakt, meidet Körperkontakt.
3) Fehlen von phantasievollen Aktivitäten wie Spielen von Erwachsenen- und Phantasierollen oder Tieren; mangelndes Interesse an phantastischen Geschichten.
4) Deutliche Auffälligkeiten beim Sprechen, einschließlich Lautstärke, Tonhöhe, Betonung, Geschwindigkeit, Rhythmus und Intonation.
5) Deutliche Auffälligkeiten in Form oder Inhalt des Sprechens, z.B. stereotyper oder wiederholter Gebrauch von Sprachformen (spricht etwa bei einem Gespräch über Sport plötzlich über Zug-Fahrpläne).
6) Deutliche Beeinträchtigung der Fähigkeit zum Anknüpfen oder Führen einer Konversation mit anderen, trotz ausreichenden Sprachvermögens (hält beispielsweise ungeachtet der Bemerkungen von Seiten anderer lange Monologe über ein Thema).
C) Deutlich eingeschränktes Repertoire von Aktivitäten und Interessen:
1) Stereotype Körperbewegungen, z.B. Handbewegungen in alle Richtungen, Drehen des Körpers, starke Nickbewegungen, komplexe Bewegungen des ganzen Körpers.
2) Beharrliche Beschäftigung mit Teilen oder Objekten (Beschnüffeln, Befühlen, Drehen der Räder oder Vorliebe für ungewöhnliche Objekte).
3) Deutliches Unbehagen über Änderungen in der alltäglichen Umgebung.
4) Besteht ohne nachvollziehbaren Grund darauf, dass wiederkehrende Aktivitäten immer exakt gleich ausgeführt werden.
5) Deutlich eingeschränkte Interessensphäre.
Nach DSM-5 sollte bei Personen mit einer gesicherten DSM-IV Diagnose einer Autistischen Störung, einer Asperger-Störung oder einer nicht näher bezeichneten tiefgreifenden Entwicklungsstörung die Diagnose der Autismus-Spektrum-Störung gestellt werden. Bei Personen, die deutliche Defizite in der sozialen Kommunikation haben, deren Symptome jedoch ansonsten nicht die Kriterien der Autismus-Spektrum-Störung erfüllen, sollte die Diagnose Soziale Kommunikationsstörung erwogen werden.
Helmut Remschmidt fasst die Merkmale für den Autismus wie folgt zusammen:10
ICD-10 | DSM-IV |
1. Qualitative Beeinträchtigungen wechselseitiger sozialer Aktionen (z.B. unangemessene Einschätzung sozialer und emotionaler Signale; geringer Gebrauch sozialer Signale) | 1. Qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktion (z.B. bei nonverbalen Verhaltensweisen wie Blickkontakt etc.; Beziehungsaufnahme zu Gleichaltrigen; Ausdruck von Gefühlen) |
2. Qualitative Beeinträchtigungen der Kommunikation (z.B. Fehlen eines sozialen Gebrauchs sprachlicher Fertigkeiten; Mangel an emotionaler Resonanz auf verbale und nonverbale Annäherungen durch andere Menschen; Veränderungen der Sprachmelodie) | 2. Qualitative Beeinträchtigung der Kommunikation (z.B. verzögerte oder ausbleibende Sprachentwicklung; stereotyper oder repetitiver Gebrauch der Sprache; Fehlen von entwicklungsgemäßen Rollen- und Imitationsspielen) |
3. Eingeschränkte Interessen und stereotype Verhaltensmuster (z.B. starre Routine hinsichtlich alltäglicher Beschäftigungen; Widerstand gegen Veränderungen) | 3. Beschränkte, repetitive und stereotype Verhaltensweisen, Interessen und Aktivitäten |
4. Unspezifische Probleme wie Befürchtungen, Phobien, Schlaf- und Essstörungen, Wutausbrüche, Aggressionen, Selbstverletzungen | 4. Beginn vor dem 3. Lebensjahr und Verzögerungen oder abnorme Funktionsfähigkeit |
5. Manifestation vor dem 3. Lebensjahr |
2. Unspezifische Probleme
Neben den angeführten diagnostischen Merkmalen zeigen autistische Kinder auch oft eine Reihe von unspezifischen Problemen wie Befürchtungen, Phobien, Schlaf- und Essstörungen, Wutausbrüche und Aggressionen oder Selbstverletzungen. Bezüglich Freizeit und Arbeit haben sie Schwierigkeiten, Konzepte zu entwickeln. Diese charakteristischen Defizite ändern sich zwar mit zunehmendem Alter, bleiben aber in ihrer Grundstruktur erhalten. Wichtig ist die diagnostische Feststellung, dass die Entwicklungsauffälligkeiten bereits in den ersten drei Jahren vorhanden waren. Das Syndrom kann nämlich in allen Altersgruppen diagnostiziert werden. Zudem kann bei einem Autismus jedes Intelligenzniveau vorkommen, wenngleich in drei Viertel der Fälle eine deutliche Intelligenzminderung vorliegt.
3. Inzidenz
Insgesamt wird die Diagnose kindlicher Autismus sehr selten gestellt. Neuere Untersuchungen weisen jedoch eine höhere Häufigkeit auf. Frühkindlichen Autismus haben ca. 1,3-2,2 von 1000 Kindern, wobei die Erkrankung bei Jungen sehr viel häufiger auftritt. Das Verhältnis von Jungen zu Mädchen beträgt 2:1 bis 6,5:1. Davon können nur 1 bis 2% ein normales Leben führen. Gut 75% aller Autisten sind geistig massiv behindert, weshalb 60 bis 70% der Betroffenen sehr pflegebedürftig sind und meist in Heimen leben müssen. Weitere 20% zeigen so deutliche Auffälligkeiten, dass sie zumindest teilweise der Pflegebetreuung in Heimen bedürfen.
4. Ursachen
Was die Ursachen des Autismus betrifft, so gibt es zwar viele Erklärungsansätze für dessen Entwicklung, doch lässt sich keine allgemeine Ursache ausmachen. Jedenfalls spielen verschiedene biologische Faktoren eine wesentliche Rolle, während psychosoziale und Umweltfaktoren von untergeordneter Bedeutung sind. So herrscht heute die Ansicht vor, dass es sich um eine Entwicklungsstörung des Gehirns handelt, die eine hohe erbliche Komponente hat. Daher ist die Wahrscheinlichkeit bei einem von Autismus betroffenen Elternteil, auch ein Kind mit Autismus zu haben, stark erhöht. Aktuell wird die Vererbung von Autismus auf ca. 70-80% geschätzt. Dabei geht man davon aus, dass nicht ein einzelnes Gen zum Autismus führt, sondern dass zur Entstehung autistischer Spektrum-Störungen höchstwahrscheinlich mehrere Gene bzw. deren Wechselwirkungen beitragen, die aus diesem Grund eine hohe Variationsbreite in Bezug auf den Schweregrad und die Ausdrucksform zeigen.
Einzelne molekulargenetische Ursachen, wie z.B. das fragile X-Syndrom, das bei ca. 3% aller Autismus-Störungen festgestellt wurde, sind weitgehend aufgeklärt. Auch der Einfluss eines höheren Alters der Väter, aber auch der Mutter, auf erhöhte Raten von Autismus konnte bestätigt werden. Risikofaktoren sind schließlich nicht zuletzt Infektionskrankheiten der Mutter in der Schwangerschaft, starke Frühgeburtlichkeit, mütterlicher Diabetes und Lungenfunktionsprobleme.11
5. Diagnose
Für die Diagnose sind Verzögerungen oder abnorme Funktionsfähigkeit zumindest in folgenden Bereichen mit Beginn vor dem 3. Lebensjahr ausschlaggebend:
Soziale Interaktion
Manchmal zeigt sich schon in den ersten Lebensmonaten eine qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktion durch fehlende Kontaktaufnahme zu den Eltern, insbesondere zur Mutter. Viele der betroffenen Kinder strecken der Mutter nicht die Arme entgegen, um hochgehoben zu werden, lächeln nicht zurück, wenn sie angelächelt werden, und nehmen keinen angemessenen Blickkontakt zu den Eltern auf. Dennoch sind autistische Kinder mit ihrer Mutter emotional stark verbunden.12 Hingegen ist die Objektbezogenheit häufig auf bestimmte Gegenstände beschränkt, während andere völlig unbedeutsam sind.
Kommunikation
Was die Kommunikation betrifft, so entwickelt jedes zweite autistische Kind keine Lautsprache. Bei den anderen verzögert sich die Sprachentwicklung. Die Pronomen werden vertauscht. Sie reden von anderen als „ich“, von sich selbst als „du“ oder in der dritten Person. Diese Eigenart kann sich im Laufe der Entwicklung bessern. Zudem haben autistische Kinder oft Probleme mit Ja/Nein-Antworten, mit der Semantik: häufig treten Wortneuschöpfungen (Neologismen) auf, aber auch das Haften an bestimmten Formulierungen.13
Besonders ausgeprägt in der Kommunikation sind Schwierigkeiten, Gesagtes über die genaue Wortbedeutung hinaus zu verstehen, was die Kontaktaufnahme zur Außenwelt und zu anderen Menschen beeinträchtigt, weshalb autistische Kinder früher auch „Muschelkinder“ oder „Igelkinder“ genannt wurden. Hingegen sind visuelle und auditive Wahrnehmungen oft intensiver als bei normalen Kindern.
Vor diesem Hintergrund ist die Kommunikation mit Autisten schwer und muss mit Bedacht und je nach individueller Reaktionsform aufgebaut werden.14
Repetitive und stereotype Verhaltensmuster
Veränderungen der Umwelt von Autisten können sogar zu panikartigen Reaktionen führen, weil ihr Umweltbezug meist ritualisiert abläuft und Änderungen zu Orientierungslosigkeit führen. Bei stark autistischen Menschen findet man auch sich wiederholende (repetitive) Stereotypien wie Schaukeln mit dem Kopf oder Oberkörper, im Kreis herumgehen, Finger verdrehen, Oberflächen betasten, Selbstverletzungen, wie Finger blutig knibbeln, Nägel bis zum Nagelbett abkauen, Kopf anschlagen, mit der Hand an den Kopf schlagen, sich selbst kratzen oder beißen, mit sichtbaren Spuren auf der Haut, die jedoch nicht mit den Selbstverletzungen zum Abbau von Spannungen, seltener aus suizidalen Tendenzen, zu verwechseln sind.
Sich wiederholende Verhaltensweisen wirken auf alle Menschen beruhigend, so auch bei Autisten. Diese positiven Effekte repetitiver Verhaltensweisen werden insbesondere im Yoga genutzt. So gibt es auch einen speziellen Yogaunterricht für Autisten.15
6. Implikationen
Autismus beeinträchtigt nicht nur die Entwicklung der Persönlichkeit, sondern auch die Berufschancen und die Sozialkontakte erheblich, wobei die individuelle Ausprägung von besonderer Bedeutung ist. Die Ursache des Autismus selbst kann nicht behandelt werden. Möglich ist nur eine Hilfe in einzelnen Symptombereichen, wie ein dem Autismus gerechtes Umfeld etwa bei Schmerzempfinden für bestimmte Tonfrequenzen. Auch Kommunikationstraining unter Freunden und Familienangehörigen sowie eigene Schulen sind hilfreich. In Großbritannien kümmert sich die National Autistic Society um die schulischen Belange.
Allerdings sind beim frühkindlichen und atypischen Autismus die Verbesserungen begrenzt. Etwa 10-15% der Menschen mit frühkindlichem Autismus erreichen im Erwachsenenalter eine eigenständige Lebensführung, die anderen benötigen in der Regel lebenslange Hilfe und Betreuung.16
7. Rechtliche Stellung
Nach dem deutschen Schwerbehindertenrecht gehören die autistischen Syndrome zur Gruppe der psychischen Behinderungen. Der Grad der Behinderung beträgt bei den leichten Formen (Asperger, HFA) 50-80, ansonsten 100 Grad der Behinderung.
Es gibt keine medikamentöse Behandlung gegen die (unbekannte) Ursache des Autismus. So wurde auch bis heute noch kein einziges Medikament mit der Indikation „Autismus“ zugelassen. Lediglich eine medikamentöse Behandlung der Begleitsymptome, wie Angst, Depression, Aggressivität oder Zwänge, ist unter besonderer Vorsicht gegeben.
8. Forschung
Was die Forschung betrifft, so werden sich nach „autismus Deutschland e.V.“17 Fortschritte in der Behandlung von Menschen mit Autismus nur ergeben, wenn es gelingt, die Ursachen dieser tiefgreifenden Störung aufzudecken. Das erfordert eine intensive Forschungstätigkeit, die sich nicht nur auf Ätiologie und Grundlagenforschung erstreckt, sondern auch die Diagnostik-, Therapie-, Interventions- und Verlaufsforschung einbezieht. Im Einzelnen sieht man dringenden Forschungsbedarf in folgenden Bereichen:
– Genetische Hintergründe autistischer Störungen,
– Bedeutung von Hirnentwicklungs- und Hirnfunktionsstörungen,
– biochemische und immunologische Besonderheiten,
– Diagnostik,
– Intervention und Therapie,
– Verlauf und Prognose 18
9. Andere Formen des Autismus
Hochfunktionaler Autismus
Im englischen Sprachraum werden beim frühkindlichen Autismus verschiedene Formen unterschieden.
Treten die Symptome des frühkindlichen Autismus zusammen mit normaler Intelligenz (einem IQ von mehr als 70) auf, spricht man vom Hochfunktionalen Autismus (High-Functioning Autism, HFA)19 – ein Begriff, der in den Vereinigten Staaten weiterhin gebräuchlich ist. Angewandt wird er auf Menschen, bei denen man in früher Kindheit Autismus diagnostiziert hatte. Weniger verwendet wird er hingegen bei Kindern, deren frühe Entwicklung nicht mit dem typischen Autismus übereinstimmte. Im Übrigen sind die Unterschiede zum Asperger-Syndrom, das nun in das DSM-5 aufgenommen wurde, gering.20 In der Diagnose werden beim Hochfunktionalen Autismus allerdings die verzögerte Sprachentwicklung und die gegenüber dem Asperger-Syndrom deutlich besseren motorischen Fähigkeiten ausgewiesen. Die Sprache muss sich dabei nicht zwangsläufig entwickeln. Viele hochfunktionale Autisten können trotzdem eigenständig leben und sich schriftlich mitteilen. Online-Dienste und Internet tragen bei diesen Menschen zu einer bedeutenden Steigerung ihrer Lebensqualität bei.
Da der Unterschied zwischen HFA und Asperger-Syndrom, wie erwähnt, sehr gering ist, werden beide Syndrome oft synonym verwendet, zumal die Gemeinsamkeiten weit größer sind als die Unterschiede. Lorna Wing 21 machte daher bereits 1991 den Vorschlag, Autismus als nahtloses Kontinuum unterschiedlich schwerer Störungen zu beschreiben, in dem HFA und Asperger-Syndrom milde Ausprägungsformen bilden. Diesem Vorschlag folgt heute das 2015 veröffentlichte DSM-5 mit der neuen zusammenfassenden Gruppe der sog. Autismus-Spektrum-Störungen (engl. Autism Spectrum Disorders), da es zwischen den einzelnen Störungen nur quantitative Unterschiede gäbe.
Da beim Asperger-Syndrom das Autismus Spektrum nicht endet, sondern weit in die Normalität hineinreicht, etwa in die ganz normale Schüchternheit oder Eigenbrötelei, soll es hier eigens behandelt werden.
Atypischer Autismus
Der Vollständigkeit halber sei auch auf die Bezeichnung Atypischer Autismus verwiesen. Damit wird jene Form des Autismus bezeichnet, die nicht alle Diagnosekriterien des frühkindlichen Autismus erfüllt oder sich erst nach dem dritten Lebensjahr zeigt. Als Unterform des frühkindlichen Autismus wird der atypische Autismus differenzialdiagnostisch vom Asperger-Syndrom abgegrenzt.22
Asperger-Syndrom
Hans Asperger (Abb. 3) wurde am 18. Februar 1906 in Hausbrunn, Österreich, geboren und starb am 21. Oktober 1980 in Wien. Asperger war Kinderarzt und Heilpädagoge. Er beschrieb als Erster das später nach ihm benannte Asperger-Syndrom, die Form des leichten Autismus.
Nach dem Abitur studierte Asperger in Wien Medizin und arbeitete nach der Promotion als Assistent an der Kinderklinik der Universität Wien. Ab 1932 leitete er die heilpädagogische Abteilung der Klinik, war Berater beim Wiener Hauptgesundheitsamt und Gutachter in Sonderschulen sowie bei „schwierigen, psychisch auffälligen Kindern“ in Normalschulen. Von 1957 bis 1962 war er im Vorstand der Innsbrucker Kinderklinik. Von 1962 bis zu seiner Emeritierung 1977 wirkte Asperger als Professor für Pädiatrie und als Leiter der Universitäts-Kinderklinik in Wien.
Am 3. Oktober 1938 beschrieb er in einem Vortrag anhand eines Fallbeispiels die Merkmale der autistischen Psychopathen. 1943 reichte er das Thema als Habilitationsschrift ein, die ein Jahr später veröffentlicht wurde.23 1944 beschrieb Asperger erstmals das später nach ihm benannte Syndrom. Er selbst nannte die Störung „autistische Psychopathie“, wobei er das Wort „autistisch“ Eugen Bleuler entlieh, um bestimmte Eigenschaften der Schizophrenie, nämlich die Einengung der Person und ihre Reaktion auf sich selbst und die damit verbundene Beschränkung der Reaktionen auf die Reize der Umwelt zu verdeutlichen.
Da Asperger seine Veröffentlichungen größtenteils in deutscher Sprache verfasste und diese kaum übersetzt wurden, blieben sie weitgehend unbekannt. Erst in den 1990er Jahren wurde seine Arbeit in Fachkreisen international bekannt. Es war die britische Psychologin Lorna Wing (1928-2014, Abb. 4), die Aspergers Forschung in den 1980er Jahren fortführte und die betreffende Störung nach ihrem Erstbeschreiber erstmals Asperger-Syndrom nannte.
1. Merkmale
Asperger selbst beschrieb in seiner Veröffentlichung die vier Jungen Fritz, Harro, Ernst und Hellmuth, die er als „autistische Psychopathen“ bezeichnete. Ihnen eigneten, bei durchschnittlicher bis hoher Intelligenz, ein Mangel an Empathie, die Unfähigkeit, Freundschaften zu schließen, Störungen im Blickkontakt, in Gestik, Mimik und Sprachgebrauch, intensive Beschäftigung mit einem Interessengebiet sowie motorische Störungen. Sie waren selbstbezogen, konnten sich nicht in andere Menschen hineinversetzen und nicht auf diese eingehen. In ihrem Gefühlsleben wirkten sie disharmonisch und in ihrem oft angstvollem Verhalten fehlte ihnen die affektvolle Beteiligung. Helmut Remschmidt fasst die Merkmale für das Asperger-Syndrom in Tab. 2 zusammen.24
ICD-10 | DSM-IV |
1. Fehlen einer Sprachentwicklungsverzögerung oder einer Verzögerung der kognitiven Entwicklung. Die Diagnose erfordert, dass einzelne Wörter im 2. Lebensjahr oder früher benutzt werden. | 1. Qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktion in mehreren (mindestens 2) Bereichen (z.B. bei nonverbalem Verhalten, in der Beziehung zu Gleichaltrigen, in der emotionalen Resonanz) |
2. Qualitative Beeinträchtigungen der wechselseitigen sozialen Interaktionen (entsprechend den Kriterien des frühkindlichen Autismus) | 2. Beschränkte, repetitive und stereotype Verhaltensmuster (z.B. in den Interessen, Gewohnheiten oder der Motorik) |
3. Ungewöhnliche und sehr ausgeprägte umschriebene Interessen (ausgestanzte Sonderinteressen) und stereotype Verhaltensmuster | 3. Klinisch bedeutsame Beeinträchtigung in sozialen oder beruflichen Funktionsbereichen |
4. Die Störung ist nicht einer anderen tief greifenden Entwicklungs- oder psychischen Störung zuzuordnen. | 4. Kein klinisch bedeutsamer Sprachrückstand und keine klinisch bedeutsamen Verzögerungen der kognitiven Entwicklung |
5. Die Störung erfüllt nicht die Kriterien einer anderen tief greifenden Entwicklungsstörung. |
In diesem Zusammenhang ist auch eine tabellarische Gegenüberstellung der Merkmale des Kanner-Autismus, wie oben beschrieben, und des Asperger-Autismus besonders aufschlussreich, zumal die beiden Autoren zunächst nichts von der Arbeit des jeweils anderen wussten.
Wie Tab. 3 zeigt, ist das Asperger-Syndrom im Gegensatz zum Kanner-Syndrom nicht nur mit Beeinträchtigungen, sondern auch mit Stärken verbunden, wie in den Bereichen von Wahrnehmung, Introspektion, Aufmerksamkeit und Gedächtnisleistung. Die Frage, ob das Asperger-Syndrom als Krankheit anzusehen sei, wird nach wie vor diskutiert. So wurde es in der Psychiatrie auch erst 1926 von der russischen Kinderpsychiaterin Grunja Jefimowna Sucharewa (1891-1981) als „schizoide Psychopathie“25 bezeichnet.
Kanner-Autismus | Asperger-Autismus |
Auffälligkeiten meist schon in den ersten Lebensmonaten, Diagnose bis zum dritten Lebensjahr | Auffälligkeiten etwa vom 3. Lebensjahr an, Durchschnittsalter bei Diagnose: 8 Jahre |
Große intellektuelle Unterschiede zwischen Betroffenen, häufig Sonderbeschulung | Geistig normal entwickelt, häufig Spezialinteressen, mitunter Hochbegabung |
Große Schwierigkeiten in sozialen Situationen | Schwierigkeiten in sozialen Situationen |
Verzögerte Sprachentwicklung, mitunter Mutismus | Keine oder leichte Verzögerungen der Sprachentwicklung |
Keine motorischen Einschränkungen | Motorische Ungeschicktheit |
Inzwischen wird die Häufigkeit des Asperger-Syndroms auf 1 bis 3 von 1000 Kindern im Schulalter geschätzt. 8 von 9 sind männlich. Die Charakteristik neigt jedoch dazu, bis ins Erwachsenenalter fortzubestehen.
1991 wurde das Asperger-Syndrom in das medizinische Klassifikationssystem ICD der Weltgesundheitsorganisation aufgenommen und seit 1994 scheint es auch im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) der American Psychiatric Association auf.
Während nämlich die ersten Auffälligkeiten des frühkindlichen Autismus bereits in den ersten Lebensmonaten zutage treten, wird das Asperger-Syndrom erst nach dem dritten Lebensjahr manifest. Allgemeine Kennzeichen sind eine qualitative Beeinträchtigung der sozialen Kommunikation und Interaktion, mangelndes Einfühlungsvermögen, sensorische, motorische und sprachliche Auffälligkeiten sowie ausgeprägte Sonderinteressen.
Motorik
Beim Asperger-Syndrom treten motorische Auffälligkeiten häufig auf, während sie beim frühkindlichen Autismus und auch beim Hochfunktionalen Autismus normalerweise fehlen. Zu diesen Auffälligkeiten zählen eine ungelenke und linkische Motorik, motorische Ungeschicktheit sowie grob- und feinmotorische Koordinationsstörungen.26 Manche Kinder zeigen bei Erregung oder Angst motorische Manierismen, wie sie auch beim frühkindlichen Autismus vorkommen, z.B. flatterndes Auf- und Abschlagen der Arme, Hände oder Finger.
Sozialverhalten
Auch Kinder mit Asperger-Syndrom nehmen nur selten und nur flüchtig Blickkontakt auf. Auffällig ist im Alltag auch ihr mangelndes Einfühlungsvermögen und ihr Unverständnis für zwischenmenschliche Interaktionen und Situationen. Sie sind sozial isoliert und ecken aufgrund ihrer Verhaltensauffälligkeiten überall an. In der Schule werden sie häufig gehänselt und gemobbt.27 Beim Versuch, mit anderen Kontakt aufzunehmen, werden sie wegen ihres häufig abgewandten Blickes und ihrer „verschlossenen“ Körpersprache von Nicht-Autisten nicht selten als förmlich, gefühllos, ängstlich, schüchtern, ausweichend, abweisend oder desinteressiert wahrgenommen, was eine Kontaktaufnahme häufig beeinträchtigt.28 Hans Asperger beobachtete, dass die betroffenen Kinder zudem auch zur „autistischen Selbstbeschau“ neigen. Wo andere Kinder selbstvergessen „dahinleben“, stehen Asperger-Kinder sich selbst und ihren körperlichen Funktionen oft (kritisch) beobachtend gegenüber.29
Sprache
In Gegensatz zum frühkindlichen Autismus zeigen Kinder mit Asperger-Syndrom in der sprachlichen Entwicklung eine grammatisch und stilistisch hochstehende Sprache. Was hingegen den Sprachbeginn betrifft, gehen die Meinungen auseinander. Nach Remschmidt beginnen Asperger-Kinder früh zu sprechen.30 Nach Tony Attwood lernt fast die Hälfte dieser Kinder erst spät sprechen, kann den Rückstand aber bis zum Alter von fünf Jahren aufholen.31 Wie schon Asperger beobachtete, fallen betroffene Kinder regelmäßig auch durch eine ihrem Alter nicht entsprechende erwachsene, pedantische Ausdrucksweise und eine unnatürliche Prosodie (Gesamtheit suprasegmentaler Eigenschaften der Sprache, wie Akzent, Intonation, Quantität und (Sprech-)Pausen) auf. Dabei ist die Modulation oft monoton und undifferenziert, Sprechgeschwindigkeit und Lautstärke sind unangepasst oder ungewöhnlich; auch ruckartiges Sprechen kommt vor.32
Viele Kinder und Erwachsene neigen dazu, unablässig vor allem über ihr Lieblingsthema zu sprechen, ohne Rücksicht auf die Zuhörer, was mit ihrer Unempfindlichkeit für soziale Belange zusammenhängt. Dabei mangelt es oft an der Unterscheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem, verbunden mit abruptem Themenwechsel und Verwendung von Wortschöpfungen, die nur dem Sprecher geläufig sind. Weitere Auffälligkeiten sind das Festhalten an Formulierungen, die wie auswendig gelernt oder aus einem Buch vorgetragen klingen. Weitere Charakteristika sind Selbstgespräche, das Nichterfassen von Nuancen, wie Ironie oder Necken, und ungenaues Zuhören.
Spezialinteressen
Ganz allgemein betrachtet scheinen Personen mit Asperger-Syndrom an den Belangen der Mitmenschen kaum interessiert zu sein, trotz eines oft großen Interesses an sozialen Begegnungen, die für sie allerdings nur schwer zu bewerkstelligen sind, da sie die Körpersprache und Mimik anderer kaum erkennen.
Dafür haben sie andere Spezialinteressen, insbesondere in technischen oder naturwissenschaftlichen Bereichen, wie Informatik, Mathematik, Physik, Biologie oder Astronomie, Musik oder im Auswendiglernen verschiedenartigster Fakten. Andere wiederum sind leidenschaftliche Sammler oft ungewöhnlicher Objekte.33 Im Laufe ihres Lebens pflegen viele zwar mehrere Spezialinteressen, doch selten mehr als eines oder zwei gleichzeitig. Einige weisen sogar eine Inselbegabung auf.34
Emotionen
Nach Asperger sind Personen mit dem Asperger-Syndrom nicht gefühlsarm, sondern haben nur eine andere Art von Gefühlsqualität. So sagte Temple Grandin: „Meine Emotionen sind einfacher als die der meisten anderen Menschen. Ich weiß nicht, was eine vielschichtige Emotion in einer zwischenmenschlichen Beziehung ist. Ich verstehe nur einfache Emotionen wie Wut, Furcht, Glück und Traurigkeit.“35
Intelligenz
Im Gegensatz zum frühkindlichen Autismus ist die Intelligenz bei Personen mit Asperger-Syndrom häufig normal ausgeprägt. Zuweilen erlernen sie schon im frühen Kindesalter, weit vor ihren Altersgenossen, das Lesen und sind oft stark von Buchstaben und Zahlen fasziniert. Ganz allgemein weisen Kinder mit Asperger-Syndrom ein inhomogenes Intelligenzprofil auf, mit Stärken vor allem in verbalen Aufgaben. Dies kann auch als Kriterium zur Abgrenzung vom hochfunktionalen Autismus gesehen werden, da Personen mit hochfunktionalem Autismus sprachlich häufig weniger gute Leistungen zeigen, dafür aber im Handlungsbereich stärker sind.36
Asperger-Syndrom und Genie
Hans Asperger schrieb: „Es scheint, dass für Erfolg in der Wissenschaft oder in der Kunst ein Schuss Autismus erforderlich ist.“37 Mit dieser Frage nach dem Verhältnis von Asperger-Syndrom und herausragenden Leistungen beschäftigt sich auch der irische Kinderpsychiater Michael Fitzgerald, der seit 1999 in Aufsätzen und Büchern die Lebensläufe berühmter Persönlichkeiten auf Anzeichen des Asperger-Syndroms durchforstet. Er ist davon überzeugt, dass viele Merkmale des Syndroms Kreativität begünstigen und dass die Fähigkeit, sich intensiv mit einem Gegenstand zu befassen und dafür große Mühsal auf sich zu nehmen, für das Asperger-Syndrom charakteristisch sei.38
Diese Ansicht vertreten auch Christopher Gillberg39 und Oliver Sacks40, die ähnliche postume Diagnoseversuche unternommen haben. Um manche Persönlichkeiten, darunter Isaac Newton und Albert Einstein, sind regelrechte Kontroversen entstanden.41 Andere Forscher wie Fred Volkmar42 vom Yale Child Study Center stehen diesen Aussagen reserviert gegenüber.
Konzentrations- und Lernprobleme
Manche Kinder mit Asperger-Syndrom werden dadurch klinisch auffällig, dass sie ihre Aufmerksamkeit nicht willentlich steuern können. So sind sie bei Aktivitäten, die sie nicht selbst gewählt haben, wie etwa in der Schule, hochgradig unkonzentriert, was selbst bei hoher Intelligenz zu erheblichen Lernschwierigkeiten führen kann:
„Diese Störung der aktiven Aufmerksamkeit ist bei Kindern dieses Typs fast regelmäßig zu finden. Es ist also nicht oder nicht nur die landläufige Konzentrationsstörung vieler neuropathischer Kinder zu beobachten, die von allen äußeren Reizen, von jeder Bewegung und Unruhe um sie herum von ihrem Arbeitsziel abgelenkt werden. Diese Kinder sind vielmehr von vornherein gar nicht geneigt, ihre Aufmerksamkeit, ihre Arbeitskonzentration auf das zu richten, was die Außenwelt, in diesem Fall die Schule, von ihnen verlangt.“43
Wenn solche Konzentrationsschwierigkeiten vorliegen, ist das Asperger-Syndrom sogar mit ADHS (Aufmerksamkeitsdefizits- und Hyperaktivitätssyndrom) zu verwechseln. Als Lernhindernis erweist sich tendenziell auch die für das Asperger-Syndrom typische Beeinträchtigung der Fähigkeit, zwischen Wichtigem und Unwichtigem zu unterscheiden.
Ritualisierte Handlungen
Menschen mit Asperger-Syndrom sind oft darauf fixiert, ihre äußere Umgebung und ihren Tagesablauf möglichst gleichbleibend zu gestalten. Plötzliche Veränderungen können sie überfordern oder sehr nervös machen.44 Dies hängt damit zusammen, dass Veränderungen einen höheren Grad an Aufmerksamkeit erfordern, was bei gegebener Aufmerksamkeitsschwäche von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung, Informationen auszublenden, eine erhöhte Anstrengung verlangt.
Ritualisierte Denk- und Wahrnehmungshandlungen
Zu den ritualisierten Handlungen können neben motorischen Stereotypien und repetitiven Sprechhandlungen auch repetitive und stereotype Handlungen des Denkens und der Wahrnehmung gezählt werden. Diese bestehen in der intensiven Konzentration auf einige wenige Spezialinteressen. Ihr Ziel ist es, durch Reduktion von Komplexität und Konzentration auf Weniges den neuronalen Apparat zu entlasten und damit in der Energiebilanz des Gehirns günstiger zu operieren.45
Die intensive Herausbildung von Spezialinteressen führt zur Entwicklung von Inselbegabungen größerer oder kleinerer Ausprägung. Nach dieser Sicht sind Inselbegabungen keine Fähigkeiten, die unabhängig von den Handlungen der jeweiligen Person einfach vorhanden sind, sondern resultieren aus einer langen und intensiven Beschäftigung mit einem bestimmten Gegenstandsbereich.46 Die Aneignung der Fähigkeiten geschieht jedoch nicht ohne spezifische Neigung und Veranlagung. Zudem lassen sich die Leistungen der Inselbegabungen rein hirnphysiologisch nicht erklären, wie dann im Beitrag „Inselbegabungen“ dargelegt werden soll.
Das Asperger-Syndrom im Erwachsenenalter
Im Erwachsenenalter leben Menschen mit Asperger-Syndrom oft zurückgezogen und ohne besondere Sozialkontakte. An deren Stelle tritt häufig Internetkommunikation. Einigen gelingt es zwar, eine stabile Partnerschaft aufzubauen und eine Familie zu gründen47, andere haben diesbezüglich aufgrund mangelnder Sozialkompetenz jedoch Schwierigkeiten, überhaupt Kontakt zu potenziellen Partnern zu knüpfen. Zudem werden Anforderungen einer Partnerschaft nicht selten als zu anstrengend empfunden. Außerdem stellt sich für die berufliche Entwicklung von Menschen mit Asperger-Syndrom die grundsätzliche Frage, ob die Spezialinteressen beruflich umgesetzt werden können.
Einige Erwachsene mit Asperger-Syndrom suchen bewusst oder unbewusst Bekanntschaften mit Menschen, deren charakterliche Eigenschaften ihnen entsprechen. Auf diese Weise bauen sie sich ein soziales Netzwerk mit ebenfalls sehr introvertierten Menschen auf, die vorwiegend auf einer sachlichen Ebene kommunizieren und oftmals ebenfalls Spezialinteressen haben, aber selbst nicht notwendigerweise autistisch sind. Dabei sind sich Erwachsene mit Asperger-Syndrom in einem funktionierenden sozialen Umfeld ihrer autistischen Züge häufig nicht bewusst. Sie werden hingegen leicht überfordert, wenn sie unfreiwillig etwas mit Menschen zu tun haben, deren Persönlichkeit sich zu sehr von ihrer eigenen unterscheidet.
Diagnose im Erwachsenenalter
Bei der Diagnose des Asperger-Syndroms im Erwachsenenalter spielen oft weniger der Schweregrad als vielmehr die Lebensumstände eine Rolle. Bei guter Integration, privat und beruflich, bedarf es meist keiner Diagnose oder zusätzlichen Therapie. Bei Lebenskrisen, etwa hervorgerufen durch Arbeitslosigkeit, Scheidung und dgl., werden diese Menschen häufig durch fehlende Kompensationsstrategien auffällig. Davon berichten viele Autisten, die erst im Erwachsenenalter als Autisten diagnostiziert wurden.48
Beruf
„Gerade bei den Autistischen sehen wir – mit weit größerer Deutlichkeit als bei den ‚Normalen‘ –, dass sie schon von frühester Jugend an für einen bestimmten Beruf prädestiniert erscheinen, dass dieser Beruf schicksalhaft aus ihren besonderen Anlagen herauswächst.“49
Der Geophysiker Peter Schmidt beschreibt, wie sich das Asperger-Syndrom im modernen, akademischen Berufsleben auswirkt. Danach wird der Akademiker hinsichtlich seines Asperger-Syndroms mehr als „Problemfall“ und hinsichtlich seiner Stärken als „Kapazität“ wahrgenommen. Menschen mit Asperger-Syndrom, die bereits von Kindheit an für einen bestimmten Beruf prädestiniert zu sein scheinen, stoßen bei der Mobilität, Flexibilität, Team- und Funktionsfähigkeit der modernen Arbeitswelt zumeist auf große Schwierigkeiten. Hier die für sie entsprechende Nische zu finden, hängt sowohl von den Menschen ab, mit denen sie zusammenarbeiten müssen, insbesondere von den Vorgesetzten, als auch von den bereitgestellten Arbeitsbedingungen.50
Wohin Versagen im Beruf von Menschen mit Asperger-Syndrom führen kann, beschreibt Cyril Northcote Parkinson. Ein außergewöhnlich begabter Mitarbeiter sprüht voller Ideen, die er gerne mitteilen würde. Als er überlegt, wie er seine Ideen in einem Ausschuss vortragen kann, erinnert er sich daran, dass er früher schon scheiterte, weil seine weniger kompetenten Kollegen ihm nicht folgen konnten. Am Ende schwieg er, weil er nicht noch einmal das Gesicht verlieren wollte.51
Die besonderen Fähigkeiten von Menschen mit Asperger-Syndrom, wie logisches Denken und präzises Arbeiten, sind vor allem in der IT-Branche sehr gefragt. So werden mittlerweile sogar gezielt Stellen für Asperger-Autisten angeboten, wie von auticon GmbH.52 Dort sieht man das enorme Potential von Menschen im Autismus-Spektrum: Mustererkennung, Präzision, Logik und eine Affinität zur Fehlersuche zählen zu den herausragenden Fähigkeiten von Asperger-Autisten. Mitarbeiter entwickeln kreative Lösungsansätze und ergänzen so effizient die Qualitätssicherung der Kunden.
Kriminalstatistik
Wenngleich noch keine hinreichenden Studien vorliegen, vermuten die meisten Autoren, dass autistisch veranlagte Menschen eine niedrigere Kriminalrate haben als nicht autistische Personen. Sie seien eher Opfer als Täter. Zudem würden sie dazu neigen, Gesetze streng anzuwenden, da sie Probleme mit Gesetzesüberschreitungen hätten.53
Prognose
Was schließlich die Prognose von Menschen mit Asperger-Syndrom betrifft, so hängt dies, nach Hans Asperger, vom intellektuellen Begabungsgrad ab. Weniger begabte Menschen kämen oft nur in einen untergeordneten Außenseiterberuf hinein und trieben sich im ungünstigsten Fall als „komische Originale auf den Straßen herum“.54 Bei „intellektuell intakten“ und überdurchschnittlich begabten Autisten komme es „zu einer guten Berufsleistung und damit zu einer sozialen Einordnung, oft in hochgestellten Berufen, oft in so hervorragender Weise, dass man zu der Anschauung kommen muss, niemand als gerade diese autistischen Menschen seien gerade zu solcher Leistung befähigt.“55
SCHLUSSBEMERKUNG
Die hier vorgelegte Beschreibung des Autismus stellt bewusst das Kanner-Syndrom bzw. den frühkindlichen Autismus dem Asperger-Syndrom gegenüber, obwohl nach DMS-5 die beiden Syndrome in der Gruppe Autismus-Spektrum-Störungen zusammengefasst werden. Sie weisen jedoch hinsichtlich Persönlichkeitsentwicklung und Auftreten der Störungen grundsätzliche Unterschiede auf, die eine getrennte Betrachtung rechtfertigen.
Der frühkindliche Autismus setzt vor dem 3. Lebensjahr ein und zeigt große intellektuelle Unterschiede und Schwierigkeiten in sozialen Situationen, verzögerte Sprachentwicklung, mitunter Mutismus; ist hingegen in der Motorik nicht beschränkt.
Das Asperger-Syndrom äußert sich nach dem dritten Lebensjahr, bei normaler geistiger Entwicklung bis zur Hochbegabung. Die Schwierigkeiten in sozialen Situationen sind zum Teil behebbar, die Sprachentwicklung ist normal. Die Motorik dagegen ist beschränkt.
Der Funktionelle Autismus und der Atypische Autismus werden nur am Rande genannt, weil die vorliegende Beschreibung des Autismus lediglich als Einleitung zu den folgenden Beiträgen über Inselbegabungen gedacht ist, zumal 50% der Inselbegabten Autisten der verschiedensten Formen des Autismus sind. Ohne Kenntnis der verschiedenen Formen des Autismus wäre daher ein abgewogenes Verständnis der betreffenden Inselbegabungen nicht möglich.
GW 65 (2016) 1, 59-83