Andreas Resch: Gnosis

GNOSIS
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Die umfassendste und bis heute in ihrer Entstehung noch völlig ungeklärte Sicht von Welt und Mensch entwickelte sich an der Nahtstelle von magischem und schamanistischem Weltverständnis und dem Aufbruch der christlichen Heilslehre – die Gnosis.

Mit „Gnosis“ (griech. gnosis = Wissen) bezeichnet man ganz allgemein ein Wissen um göttliche Geheimnisse, das einer Elite vorbehalten ist. Dieses Wissen wird durch ein Erkennen erfasst, das im schauenden Einswerden mit dem Gegenstand der Erkenntnis besteht.

1. Welt- und Menschenbild

Gegenstand der Erkenntnis sind die von Gott ausgehenden Zwecke und Gesetze der Welt und des menschlichen Lebens. Gott selbst ist unerkennbar. Er ist transzendent und daher antikosmisch. Er wird von Wesen (Äonen) umgeben, die aus ihm hervorgehen und mit ihm das Pleroma (die Fülle) bilden.

Abb. 1: Engelsturz

Eine Gestalt am Rande des Pleroma, meist die Sophia (Weisheit), fällt einer Krise anheim, da sie es nicht schafft, Gott zu erkennen oder seine Schaffenskraft nachzuahmen. (Abb. 1) Als Folge dieses Scheiterns entstehen der Weltschöpfer (Demiurg) und seine Helfer (Archonten), Materie, Kosmos und Protoplast (Lebenssubstanz), in den ein pleromatischer Funke gelangt. So besitzt der Mensch – als Protoplast mit pleromatischem Funken – einen Wesenskern, ein Selbst, das nicht dem Tod verfallen ist. Dieses Selbst, ein Organ des Erkennens, befindet sich infolge der anfänglichen göttlichen Katastrophe im Zustand der „Selbstvergessenheit“, da Zwänge wie astrologische Gesetze und Sexualität den Weltmächten ihre Herrschaft erhalten. Das Selbst kann daher nur durch einen überweltlichen Eingriff in Form einer Selbstgewisswerdung freigesetzt werden. Dies kann auf zweierlei Weise erfolgen: Entweder ersucht der Mensch kraft seines Selbst sein jenseitiges Selbst um Befreiung, oder das jenseitige Selbst erleuchtet das durch die Körperlichkeit im Menschen eingesperrte Selbst und ermöglicht ihm dadurch die Erkenntnis, die Gnosis, und somit die Befreiung. Die gnostische Erlösung ereignet sich daher, wenn eine Geistkraft als Selbst des Pleroma das menschliche Selbst an sich selbst erinnert.1
Tappt man auch trotz vieler Quellen sowohl über die soziale Zugehörigkeit als auch über die religiöse Herkunft der Gnostiker immer noch völlig im Dunkeln, so verbindet doch alle gnostischen Gruppen folgendes Welt- und Menschenbild (Abb. 2):
– die Grundvorstellung vom Dualismus einer dämonisch-bösen Welt und eines fernen, unbekannten transzendenten Gottes
– die Grundvorstellung der Gefangenschaft und des Ausgeliefertseins des pneumatischen Seelenkerns an die Mächte dieser Welt
– die Grundvorstellung vom Empfang der Gnosis und dem eschatologischen Aufstieg des“ Selbst“ zum göttlichen Ursprung.

Abb.. 2: Skizze: Gnosis

2. Erlösung

Damit wird auch der Satz verständlich:

„Gnosis ist die Erlösung des inwendigen Menschen.“2

So lautet ein gnostischer Aspekt:

„Unterlasse es, nach Gott und nach der Schöpfung und dergleichen (also: nach etwas außer dir) zu suchen. Suche dich selbst von dir aus … du wirst dich selbst in dir finden … und du wirst von dir selbst den Ausweg finden.“3

Gnosis ist also Erlösung. Erlösung ist Herstellung des ursprünglich glücklichen Zustandes des Menschen und des Kosmos, wie dies besonders in den beiden für die Gnosis repräsentativen Systemen des Valentinianismus (2. Jh.) und Manichäismus (3. Jh.) zum Ausdruck kommt. So sind nach dem valentinianischen „Evangelium der Wahrheit“ Schicksal und Chance des Einzelmenschen mit dem Schicksal des Kosmos verbunden:

„Da der Mangel entstanden ist, weil sie (= die Licht-Ichs der Gnostiker zusammen mit allen Äonen) den Vater nicht kannten, wird dann, wenn sie den Vater erkennen, der Mangel von diesem Augenblick an nicht mehr bestehen. So löst sich durch die Erkenntnis eines Menschen, dann wenn er erkennt, seine Unwissenheit von selbst auf. Wie die Finsternis sich auflöst, wenn das Licht erscheint, so löst sich auch der Mangel in der Vollendung auf … Aus der Einheit wird jeder einzelne sich empfangen. In Erkenntnis wird er sich reinigen aus einer Vielzahl von Arten hinein in eine Einheit, während er die Materie in sich verschlingt wie Feuer und die Finsternis durch Licht, den Tod durch Leben.“4

Um dies zu erreichen, muss der Mensch allerdings die erlösende Gnosis leben.

„Denn jeder wird durch seine Handlung (Praxis) und seine Erkenntnis (Gnosis) seine Natur (Physis) offenbaren.“5

Bekanntlich hat die Gnosis auch auf das Christentum einen nicht geringen Einfluss ausgeübt und umgekehrt. So wurde Christus in die gnostische Gestalt vom erlösten Erlöser übergeführt, wobei man in einer Deutung sogar eine Teilung seiner Gestalt in zwei Gestalten vornimmt, nämlich den irdischen Jesus und den himmlischen Christus. Das heißt, Jesus ist die vorübergehende Erscheinung in Menschengestalt des himmlischen Christus.

3. Traditionen und Merkmale

Fasst man nun die Grundeinstellungen der Gnosis zusammen, so können diese folgendermaßen formuliert werden:

a) Traditionen

Was das Entstehen der gnostischen antikosmischen Daseinshaltung betrifft, so kann diese weder auf einen heidnischen vorchristlichen Synkretismus noch auf einen vorchristlichen Urmensch-Erlösermythos zurückgeführt werden. Folgende Traditionen sind vielmehr von Bedeutung:

– Selbstspekulation mit Hilfe einer spiritualisierten Makrokosmos-Mikrokosmos-Idee. So ist z. B. für PHILO von Alexandrien der Kosmos ein großer Mensch, wie der Mensch ein kleiner Kosmos ist.6 Gleichzeitig hängen das Wesen des Kosmos (der Logos), der Kosmos, das Selbst des Menschen (Nous) und der Mensch zusammen oder sind identisch.
– Die frühjüdische Lehre über die Weisheit neben Gott (als Schöpfungsvermittlerin), die zugleich bei den Menschen sein will.7
– Die platonische Nous (Verstand)-Lehre (iranisch: Vohu mana).
– Die alttestamentliche Schöpfungslehre und eine Fülle von Einzeltraditionen.
– Die ägyptischen, vielleicht auch orphischen Schöpfungserzählungen; griechisch-ägyptische Vorgaben von Dämonologie und Engellehre, Astrologie, Magie und Mantik sowie Mysterientraditionen von Attis und Eleusis.
– Die Neutestamentliche Heilslehre u. a. m.

b) Merkmale

Als besondere Merkmale können also genannt werden:

– Eine völlige Trennung zwischen Urgott, Zwischenwesen und materieller Welt.
– Das Selbst lebt im Sinne eines radikalen Dualismus als Gefangener in der als prinzipiell böse geltenden Materie.
– Die Schöpfung der Körperwelt dient nicht der Verherrlichung Gottes und stammt auch nicht vom Urgott, sondern von einem Zwischenwesen (Demiurg).
– Der Erlöser, ein Geistwesen, ruft den vom göttlichen Pneuma durchdrungenen Menschen auf, an der Überwindung der materiellen Welt mitzuwirken.
– Die menschliche Seele hat als Geistwesen und Teil der göttlichen Substanz präexistiert, ehe sie, ihre wahre Natur vergessend, in den Körper einging, allerdings mit nur dem Wissenden bewussten Auftrag, die Körperwelt als Illusion zu erkennen und zugunsten ihrer geistigen Urheimat aufzugeben.
– Verschiedenheit des höchsten Gottes vom Weltschöpfer.
– Annahme von Äonen, von Kräften und himmlischen Wesenheiten, in denen sich die absolute Gottheit entfaltet.
– Annahme, dass die gegenwärtige Welt aus einem widergöttlichen Unternehmen (Sündenfall) entstanden ist und das Produkt eines bösen oder mittleren Wesens sei.
– Das Zweiteilen von Jesus Christus in den himmlischen Äon Christus und in die menschliche Erscheinung desselben als Jesus.
– Die Annahme eines von Natur gesetzten Unterschiedes der Menschen in Pneumatiker (die Geisterfüllten), Psychiker (die von den psychischen Kräften Beherrschten), Somatiker (die vom Leib Beherrschten) und Hyliker (die von der Materie Beherrschten).
– Die Annahme der Erlösung durch Erkenntnis. So lautet ein Text der Valentinianer:

„Vollkommene Erlösung ist die Erkenntnis der unsagbaren Größe als solche (ipsa agnitio): Denn durch Unwissenheit entstand Mangel und Leidenschaft. Durch Erkenntnis (Gnosis) wird der gesamte Zustand der Unwissenheit aufgelöst. So ist die Erkenntnis (Gnosis) die Erlösung des inneren Menschen … Pneumatisch muß die Erlösung sein. Erlöst wird nämlich durch die Gnosis der innere pneumatische Mensch. Darum genügt uns die Erkenntnis (Gnosis) von allem (des Alls, der Totalität). Und das ist die wahre Erlösung.“8

– Die Annahme der Präexistenz der Seelen.

In diesem Zusammenhang muss noch auf den christlichen Theologen ORIGENES von Alexandrien verwiesen werden, der bei der damaligen Verschränkung der verschiedenen geistigen Bewegungen, nämlich Christentum, Platonismus und Gnosis, vom präexistenten Sündenfall der vor dieser Welt geschaffenen Geistwesen berichtet, dessen Folge die mindereren Existenzwesen in dieser „zweiten“ Schöpfung sind, die dazu geschaffen wurde, sie zur Bestrafung und Läuterung aufzufangen.9 Diese Anschauung der Origenisten wurde auf dem Konzil von Konstantinopel 543 mit folgenden Sätzen zurückgewiesen:

„Wer sagt oder daran festhält, die Menschenseelen hätten ein Vorleben gehabt, d. h. sie seien zuvor Geister und heilige Gewalten gewesen, sie seien aber der göttlichen Anschauung satt geworden, hätten sich dem Bösen zugewandt, seien deswegen in der Liebe Gottes erkaltet, hätten so den Namen ,Seelen‘ (= die Kalten) bekommen und seien zur Strafe dafür in die Körper gebannt worden, der sei ausgeschlossen.“10

ORIGENES diente der Präexistenzgedanke zur Klärung der krassen Ungleichheiten zwischen den Menschen. Gott hat nämlich die Geistwesen alle gleich geschaffen. Die Ungleichheiten gehen daher auf den Gebrauch der Willensfreiheit, nicht aber auf Gott zurück. Für die Idee der Seelenwanderung hat ORIGENES dagegen keine Möglichkeit gesehen, wenngleich das heute immer wieder gesagt wird.
Außer bei ORIGENES, der die Reinkarnation als Diskussionsfrage beachtet, gibt es nur noch einen kirchlichen Theologen, von dem positive Äußerungen zur Seelenwanderung überliefert sind, nämlich den Afrikaner ANOBRIUS den Älteren, der an der Wende des 4. Jahrhunderts schrieb und an die Seelenwanderungslehre, die in der griechischen Philosophie damals durchwegs geläufig war, die Konzession machte, dass es sich bei ihr um eine nützliche und tiefe Idee nicht ohne Sinn handle, die allerdings für die Christen mit ihrem Glauben an ein definitives Schicksal nach dem Tod nicht in Frage komme11
– Die Annahme, dass der Weg zum unbekannten Gott entsprechend dem mehrschichtigen Weltbild mit griechischen und orientalischen Einflüssen, besonders auch der babylonisch-chaldäischen Sternkunde, durch die verschiedenen Sternbereiche führe, mit den ihnen zugeordneten Archonten. So haben manche gnostische Systeme ihren Anhängern einen gefahrlosen Durchgang durch die gefährlichen Zonen mittels Aussprechen bestimmter Passworte versprochen, wie sie auch in den sog. orphischen Unterweltstafeln enthalten sind. Besonders in der volkstümlichen Ausprägung der Gnosis spielen Zahlenmagie und Zahlenmystik, Wortmagie, ein ausgeprägter Dämonenglaube und Nachklänge altorientalischer Astrologie eine wichtige Rolle.12

4. Auswirkungen

Die angeführten Gedanken der Gnosis haben bis heute ihre Faszination behalten, vor allem der Dualismus und der Monismus.
Der Dualismus wird umgemünzt in altes und neues Zeitalter, Paradigmawechsel. Diese Negation der Gegenwart erfährt in der so genannten New-Age-Weltanschauung einen gewissen spiritualisierten Zug, verbunden mit einer radikalen Weltverneinung, einem unbedingten Heilsindividualismus, einem negativen Zug zur Politik, Ablehnung aller Institutionen in Politik und Kirche. Die Heilsvermittlung erwartet man in persönlicher Erleuchtung, die von jenseits der Äonen und Kosmen die Einzelseele trifft. Diese Mitteilung des Heilswissens könne nur der geistbegabte Mensch, der Pneumatiker, voll erfassen.
Der Monismus, die Betonung des All-Einen, wird umgemünzt in die Deutung der ganzen Wirklichkeit in ein Geschehen der evolutiven Selbstorganisation. Diese quasi-göttliche Energie der Selbstorganisation und Selbsttranszendenz wirkt als der eine und selbe Geist vor allem im menschlichen Bewusstsein auf eine letzte durchgeistigte Einheit aller mit allem hin. Derartige Vorstellungen finden gegenwärtig besonders in der Philosophie der Postmoderne, der Esoterik und im New Age ihren Niederschlag.

 

Anmerkungen:
1 G. RUDOLPH (Hg.): Gnosis und Gnostizismus (1975); H. LEISEGANG: Die Gnosis (1985); N. BROX: Erleuchtung und Wiedergeburt (1989)
2 IRENÄUS: Gegen die Häresien I 21, 4
3 Philippus-Evangelium (Nag Hammadi-Codex II / 3), 73, 2-8; Logion 90a
4 Evangelium der Wahrheit (Nag Hammadi-Codex 1 / 3),24,28-25,19
5 Schlußsatz der Schrift vom Ursprung der Welt (Nag Hammadi-Codex 11 / 5), 127,16 f.
6 PHILON: De opificio mundi; ders.: De aeternitate mundi
7 Buch der Sprüche und Buch der Weisheit des Alten Testaments
8 IRENÄUS: Gegen die Häresien 121,4
9 ORIGENES: Prinzipien 1: Vorwort 3; 17,4; 119,6
10 J. NEUNER / H. ROOS: Der Glaube der Kirche (1971), S.200
11 L. SCHEFFCZYK: Der Reinkanmationsgedanke in der altchristlichen Literatur (1985), S. 26 f.
12 H. LEISEGANG: Gnosis (1985), S. 1-59