Andreas Resch: Die Geisteswissenschaftliche Psychologie

 WELTBILDER DER PSYCHOLOGIE

Diesen rein mess- und quantifizierbaren Denkmodellen der Psychologie stellt sich die sog. Geisteswissenschaftliche Psychologie entgegen, indem sie ein immanentes geistiges Prinzip als steuerndes Prinzip betont, wobei vor allem die Gestaltpsychologie, die Phänomenologische Psychologie und die Verstehende Psychologie zu nennen ist.

Gestaltpsychologie

Bereits 1880 wies der Philosoph Chr. v. Ehrenfels (1859-1932; Abb. 10) unter dem Einfluss von F. Brentano (1838-1917) und A. Meinong (1853-1920) in seiner Schrift über „Gestaltqualitäten14“ im Gegensatz zur Elementepsychologie darauf hin, dass Gestalten nicht die Summe ihrer Elemente sind, denn in der Wahrnehmung sei ein Moment wirksam, das von den Empfindungen unabhängig sei, nämlich die Gestaltqualität.
Jedes Glied in einem gefügehaften Ganzen hänge vom Ganzen ab, von dem es seinen Sinn erhält. Dies sei dadurch bedingt, dass unserem ganzen Erleben ein „Zug zur guten Gestalt“, eine „Prägnanztendenz“, innewohne.15

 

Dies führte F. Krüger (1874-1948; Abb. 11) zur Aufstellung folgenden Prinzips:
„Ein strukturiertes Seelenwesen ist reale, notwendige und denkende Voraussetzung für alles, was wir an psychischen Phänomenen vorfinden.“16
Sein Schüler H. Volkelt (1886-1964), der den Begriff „genetische Ganzheitspsychologie“ prägte, sagt:
„Das Prinzip der Zusammengesetztheit wird schlechthin ausnahmslos durch das Prinzip der seelischen Ganzheit ersetzt … folglich ist kein Gesamt- oder Sonderinhalt – weder für das unmittelbare Primär-Erleben noch ein für die nachherige Analyse sich als Komplex erweisender Gesamt- und Sonderinhalt – je als Summe oder Aggregat aufzufassen.“17
Damit bekommt der vom Funktionalismus verbannte Begriff der Seelensubstanz nicht nur als „tragender Grund“, als „Seiendes von ontologischer, mithin metaphysischer Qualität“, sondern auch als „die dem Menschen aufgegebene Form des Daseins“ eine neue Bewertung.18
Dieses stark philosophisch geprägte Gestaltverständnis der von Leipzig ausgehenden „Ganzheitspsychologie“ versuchten die Vertreter der Berliner Schule, wie M. Wertheimer (1880-1943; Abb. 12), K. Koffka (1886-1941), K. Lewin (1890-1947)19 und W. Köhler (1887-1967; Abb. 13), naturwissenschaftlich zu untermauern, indem sie vor allem betonen, dass nicht die Summe der auf den Sehnerv einwirkenden Reize für den Wahrnehmungseindruck entscheidend sei, sondern ein Ordnungsprinzip, das gestalthafter Natur ist. Diese dynamische Ganzheit wird dann vor allem von Köhler mit dem „Feld“-Begriff gekennzeichnet, der eine hirnphysiologische Entsprechung habe.20
Diese Untersuchungen gaben auch Anstöße zur Analyse der Zusammenhänge von Wahrnehmung und Persönlichkeit. So kam E.R. Jaensch (1883-1940) bei der Analyse des Wahrnehmungsverhaltens für seine Typenlehre zu folgender Feststellung.
„Die typologischen Unterschiede, die das höhere Seelenleben der einzelnen Menschen charakterisieren, sind schon in den elementarsten Funktionsschichten mehr oder weniger nachweisbar und mit exakten empirischen Methoden zu ermitteln.“21

Die Phänomenologische Psychologie

Eng verwandt mit der Gestaltpsychologie ist ihrem Ursprung nach die sog. Phänomenologische Psychologie mit ihrem Postulat, dass die innere Erfahrung jeder äußeren mindestens ebenbürtig ist.
So sagt William James (1842-1910; Abb. 14), dass wir im Erlebnis nie einzelne Empfindungen haben.
„Bewusstsein ist seit unserer Geburt Bewusstsein einer übergroßen Vielfalt von Dingen und Relationen…. Das einzige, was die Psychologie von Anfang an postulieren darf, ist die Tatsache des Denkens (Erlebens) selbst.“22

Dieser psychologische Ansatz der phänomenologischen Betrachtung wurde dann vom Begründer der Phänomenologischen Philosophie, Edmund Husserl (1859-1938; Abb. 15), aufgegriffen:

„Alles, was sich uns in der Intuition originär darbietet, einfach hinnehmen als was es sich gibt“, denn „wenn man nur den Mut hat, ganz ausschließlich in einer konsequent durchgeführten Innenschau das Bewusstsein selbst zu befragen und ihm gewissermaßen zuzusehen, wie es das Bewusstwerden solcher Gegenständlichkeiten zustande bringt, wie es in sich selbst als Objektivität leistendes Bewusstsein aussieht“,dann erschließe sich intuitiv die Mannigfaltigkeit des Innenlebens.23

Die Bedeutung dieses Ansatzes soll hier, neben dem Hinweis auf die Arbeiten von Alexander Pfänder (1870-1941), Max Scheler (1874-1928), Edith Stein (1872-1942) und Conrad Martius (1888-1966), durch die „Phänomenologie der Mystik“ der früheren Vizepräsidentin von IMAGO MUNDI, Gerda Walther (1897-1977; Abb. 16), für das Verständnis veränderter Bewusstseinszustände, wie etwa das mystische Erleben, hervorgehoben werden.

Nach Walther ist das Grundwesen, die Seelensubstanz als Geist, jene Lichtsphäre im Innern des Menschen,„die in sich über sich selbst hinausweist auf eine geistige Urquelle und die ihm auch in verwandter Form aus anderen Wesen in seiner Umwelt entgegenstrahlt. Der Mensch erlebt sich also hier unter Umständen zugleich auch als Glied einer geistigen Welt, eines geistigen Reiches, trotzdem er selbst noch individuell gebunden ist, seine eigene geistige Qualität und deren Quelle sehr wohl von der anderer Subjekte in und außer sich unterscheiden kann.“24

Die Verstehende Psychologie

Neben dieser phänomenologischen Betrachtung des Menschen entstand aus der geistesgeschichtlichen Lebensphilosophie die sog. Verstehende Psychologie. Ihr Hauptvertreter ist Wilhelm Dilthey (1833-1911; Abb. 17), der die Geistewissenschaften als verstehende und ideographische, d.h. individualiserend beschreibende, den „erklärenden“,„monothetischen“, „generalisierenden“ Disziplinen der Naturwissenschaft gegenüberstellte.
Die Verstehende Psychologie versucht deshalb ein Nachvollziehen von Sinngebilden. Diese erschließen sich nach der Verstehenden Psychologie jedoch nicht der Introspektion, sondern treten in der menschlichen Äußerung zutage.
„Die mächtige inhaltliche Wirklichkeit des Seelenlebens reicht über die Psychologie hinaus. In den Werken der Dichter, in den Reflexionen des Lebens, wie große Schriftsteller, ein Seneca, Marc Aurel, Augustinus, Machiavelli, Montaigne, Pascal sie ausgesprochen haben, ist das Verständnis des Menschen in seiner ganzen Wirklichkeit enthalten, hinter dem alle erklärende Psychologie weit zurückbleibt.“25
Dilthey versucht daher, aus geistwissenschaftlichen Quellen eine allgemeine Lehre vom seelischen Zusammenhang zu schaffen, wobei er in der Individualität das Geheimnis allen Daseins sieht. So wurde das Erfassen des jeweils Besonderen eines Menschen oder einer historischen Gestalt in den Mittelpunkt der Verstehenden Psychologie gerückt.
Doch obwohl Psychologen wie E. Spranger (1882-1963), W. Stern (1871-1938), L. Klages (1872-1956), G.W. Allport (1897-1967), Philipp Lersch (1898-1972; Abb. 18) und viele andere diesen Gedanken der Geistesgeschichte und der Individualität in den verschiedenen Richtungen ausbauten, ist er für die heutige offizielle Psychologie nicht viel mehr als eine schöngeistige Unterhaltung. Hinzu kommt noch, dass aufgrund der nicht mehr zu bewältigenden Informationsflut Zeit und Interesse für ein Persönlichkeitsverständnis aus der individuellen Lebensgeschichte fehlen und zunehmend fehlen werden.

Anmerkungen:
14 Chr. v. Ehrenfels: Über „Gestaltqualitäten“ (1890).
15 M. Metzger: Psychologie (1954), S. 198.
16 F. Krüger: Zur Philosophie und Psychologie der Ganzheit (1953), S. 7.
17 H. Volkelt: Grundbegriffe der Ganzheitspsychologie (1934), S. 2.
18 A. Wellek: Das Problem des seelischen Seins (1941), S. 37.
19 K. Lewin: Field Theory of Learning (1942).
20 W. Kohler: Die Aufgabe der Gestaltpsychologie (1971).
21 H. Weil: Sinnespsychologische Kriterien menschlicher Typen (1929), S. 241.
22 W. James: Principles of Psychology (1890), S. 229.
23 E. Husserl: Vorlesungen über die phänomenologische Psychologie (1962), S. 28.
24 G. Walther: Phänomenologie der Mystik (1976), S. 122.
25 W. Dilthey: Ideen zu einer beschreibenden und vergleichenden Psychologie (1910), S. 114.
22 W. James: Principles of Psychology (1890), S. 229.
23 E. Husserl: Vorlesungen über die phänomenologische Psychologie (1962), S. 28.
24 G. Walther: Phänomenologie der Mystik (1976), S. 122.