Andreas Resch: Tiefenpsychologie

Mit der sog. tiefenpsychologischen Betrachtung kommt zur Betrachtung der Elemente, der Reaktionen, des Geistes und der Geschichte der völlig neue Aspekt des Unbewussten als ein weitgehend selbständiges Energiepotential hinzu.
Der Vater dieser Denkform ist Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus (1493/94-1541; Abb. 19), der von einem Magneten im Sinne einer Bioenergie26 sprach, ein Gedanke der dann von Franz Anton Mesmer (1734-1815; Abb. 20) aufgegriffen wurde27, indem er bei der Heilung von Hysterikern vom sog. tierischen Magnetismus sprach, was zu einer heftigen Auseinandersetzung mit der offiziellen Wissenschaft führte und schließlich in den Streit „Fluidum (Bioenergie) oder Suggestion“ mündete.
Es war dann vor allem die um 1850 einsetzende spiritistische Bewegung mit den verschiedenen Formen des psychischen Automatimus28, die immer mehr Ärzte für das Studium des automatischen Schreibens und der sog. hysterischen Personen mit ihren Lähmungserscheinungen und ihrer Unempfindlichkeit auf den Gedanken einer anscheinend doppelten Kontrolle des menschlichen Verhaltens durch einen unbewussten und einen bewussten Geist brachte.

 

So veröffentlichte Eduard von Hartmann (1842-1906; Abb. 21) bereits 1869 das Buch Die Philosophie des Unbewußten29 mit der Feststellung, dass im Unbewussten eine sog. Allenergie steckt.
Die genannten Studien der Automatismen und histeroider Reaktionen fanden dann vor allem in den Büchern von Pierre Janet (1859-1947): Psychische Automatismen (1889), Alfred Binet (1857-1911): Double Consciousness (1889-1900), Max Dessoir (1867-1947, Abb. 22): Das Doppel-Ich (1890) ihren Niederschlag, wobei durch die Betonung von Suggestion und Hypnose der psychische Aspekt den bioenergetischen zunächst vedrängte, weil für die offizielle Wissenschaft der Begriff der Suggestion leichter zu verkraften war als die Vorstellung eines tierischen Magnetismus im Sinne einer Bioenergie.
So waren bereits zur Zeit S. Freuds Einteilungen des Bewusstseins wohlbekannt. Es geht hier nicht mehr so sehr um bewusste Funktionen der Wahrnehmung oder um bewusstes Erfassen als vielmehr um unbewusste Triebkräfte, deren Grundsubstrat jedoch nicht eine substantielle Seele ist, sondern verschiedene Energiebereiche bilden, die sich aber nicht auf Physik oder Physiologie zurückführen lassen, sondern eine eigene Qualität besitzen, die eng an den lebenden Organismus gebunden ist. Damit wurde neben Körper und Geist eine neue Energieform, nämlich dieEnergie des Unbewussten, in die Betrachtung des Menschen eingeführt, die zu völlig neuen Denkansetzen führte.

Psychoanalyse

Unter diesem Aspekt des Unbewussten gestaltet Sigmund Freud (1856-1939; Abb. 23) sein System der Psychoanalyse, indem er in der Psyche drei Bereiche unterscheidet:

– Das Bewusstsein oder die Wahrnehmung nach außen und innen;
– das Vorbewusstsein oder die Erinnerungen, die nicht von selbst ins Bewusstsein gelangen, aber jederzeit ins Bewusstsein gerufen werden können;
– das Unbewusste oder all jene psychischen Inhalte, denen von der primären oder sekundären Verdrängung der Zugang zum Vorbewusstsein oder zum Bewusstsein verwehrt und nur durch die freie Assoziation und den Traum ermöglicht wird.

Die Energien dieser drei psychischen Bereiche des Menschen werden von den Trieben angefeuert und von der Instanz des Hüters kontrolliert. Beherrscht werden diese drei Bereiche von drei völlig verschiedenen Instanzen: dem Es, dem Ich und dem Überich:

– Das Es, aus dem sich Ich und Überich bilden, ist jener irrationale, brodelnde Kessel, in dem Eros und Todestrieb sich bekämpfen.
– Das Ich umfasst den Bereich der Wahrnehmung, des Vorbewussten und reicht bis ins Unbewusste, da der Großteil seiner Abwehrhandlungen unbewusst sei.
– Das Überich ist das Resultat der Auseinandersetzung von Es und Ich bei der Entwicklung des Kindes, wo bei der Überwindung des Ödipuskomplexes das Bild des gleichgeschlechtlichen Elternteils zum Idealbild erhoben wird, wodurch es dem anderen Teil des Ichs als Überich erscheint.

Diese drei Instanzen befinden sich in einer ständigen Auseinandersetzung, so dass der Mensch dann als psychisch gesund gilt, wenn es dem Ich gelingt, eine gewisse Abgewogenheit der psychischen Dynamik zu erreichen. (Abb. 24)
Getragen wird diese ganze Dynamik von der Libido, der Lebensenergie, die bei Freud die Färbung einer Sexualenergie hat.
Auf diesem Grundgerüst errichtete Freud sein großes Gebäude der Psychoanalyse, das durch die Beschreibung der Abwehrmechnanismen, der Traumdeutung und der Gruppenpsychologie zur Grundlage einer breitgefächerten Lebens- und Gesellschaftsdeutung sowie vielfältigster Psychotherapieformen wurde und weltweite Resonanz erlangte, wenngleich in der Experimentalpsychologie die Kritik immer mehr zunahm.

Was schließlich die Frage nach dem Wesen des Menschen betrifft, so ist für Freud der Mensch ein Organismus ohne Seele, in dem bewusste und unbewusste Energien ihre Lebensdynamik gestalten. Aus diesem Grund ist für ihn Religion nichts anderes als eine Wunschprojektion und Moral eine Introjektion des Überichs.30

Individualpsychologie

Während Freud aus der Arbeit mit psychisch Kranken unter Verwendung des Begriffs des Unbewussten sein großes und überaus erfolgreiches System der Psychoanalyse aufbaute, befasste sich sein Zeitgenosse Alfred Adler (1870-1937; Abb. 25) vor allem mit der Beobachtung der Gesellschaft, lehnte den Begriff des Unbewussten ab und stellte das Spannungsfeld zwischen dem Gefühl der Minderwertigkeit und dem Machtstreben als psychische Grunddynamik im Menschen hin.

a) Minderwertigkeitsgefühl und Machtstreben

So besteht die Persönlichkeitsentfaltung nach Adler in der Überwindung des Minderwertigkeitsgefühls unter Einsatz des Machtstrebens, das mit Entfaltung gleichzusetzen ist. Ohne Minderwertigkeitsgefühl und ohne Machtstreben gibt es keine Entfaltung. Diese Entfaltung muss grundsätzlich darauf ausgerichtet sein, sich in der Gemeinschaft, im Beruf und in der Liebe wohlzufühlen. Wer sich nämlich in der Gemeinschaft, im Beruf und in der Liebe wohlfühlt, der ist psychisch gesund und hat seinen Entwicklungsgrad erreicht. Dabei ist allerdings der Grad der Aktivität je nach Entfaltungsgrad des Willens, der Bildung und des Gemeinschaftssinnes verschieden, wobei der soziale Aspekt dem individuellen Aspekt vorangeht. So ist der psychisch gesunde Mensch ein sozialer Mensch. Psychisch krank sind hingegen Herrscher und Drückeberger.

b) Lebensstil

Damit ist jedoch nicht gesagt, dass der soziale Aspekt die Individualität unterdrücken darf. Im Gegenteil, jeder muss seinen eigenen Lebenstil entfalten, wobei der eigene Lebensentwurf sub specie aeternitatis zu erfolgen hat, im Blick auf das Vollkommene und Überdauernde.
Mit diesem Ansatz, der an und für sich mit Tiefenpsychologie nichts zu tun hat, sondern eher in die Sozialpsychologie einzureihen ist, jedoch immer in diesem Zusammenhang gebracht wird, hatte AdlerR vor allem in der Pädagogik großen Erfolg. Was das Wesen des Menschen betrifft, so arbeitet auch er mit dem Triebbegriff und umschreibt den Sinn des Menschen mit Glück in Beruf, Liebe und Gemeinschaft. Die Frage nach der Psyche als solcher im Sinne einer Seelensubstanz wird nicht gestellt und auch nicht beantwortet.31

Analytische Psychologie

Das weitaus umfassendste System der Tiefenpsychologie hat ohne Zweifel der Schweizer Psychologe Carl Gustav Jung (1875-1961; Abb. 26) erstellt, das er als Analytische Psychologiebezeichnete.
Jung versteht Psyche als Gesamtheit aller psychischen Prozesse, bewusste wie unbewusste, und teilt sie – ontogenetisch gesehen – in folgende Schichten ein:

a) Das Bewusstsein

Das Bewusstsein ist für Jung die Funktion oder Aktivität, welche die Beziehung der psychischen Inhalte zum Ich darstellt. Alle unsere inneren und äußeren Erfahrungen müssen nämlich, um wahrgenommen zu werden, durch das Ich, sonst bleiben sie unbewusst. So umfasst das Ich einen Komplex von Vorstellungen, die das Subjekt des Bewusstseins bilden. In jedem Individuum gibt es vier angeborene Funktionen des Bewusstseins:
Denken,
Fühlen
Empfinden und
Intuition.
Diese Funktionen können im einzelnen Individuum nach dem Einstellungstypus – Extraversion/Introversion – verschieden gewichtet sein.
So kam Jung, je nachdem welcher Funktionstyp und welcher Einstellungstyp beim einzelnen Individuum jeweils vorherrscht, zur Aufstellung folgender Typologie:

Intellektuell extravertiert – Intellektuell introvertiert
Affektiv extravertiert – Affektiv introvertiert
Sensitiv extravertiert – Sensitiv introvertiert
Intuitiv extravertiert – Intuitiv introvertiert

Von der jeweils gegebenen Typologie hängt auch die Art des allgemeinen psychischen Verhaltens des einzelnen Menschen zu seiner Umwelt ab, was Jung als Persona bezeichnet. Sie stellt einen Ausschnitt des Ichs dar, der sich ausschließlich auf das Verhältnis zu den Objekten, zum Außen bezieht und einen Kompromiss zwischen Individuum und Sozietät bildet. So hat eine richtig funktionierende Persona drei Faktoren Rechnung zu tragen:

– dem eigenen Ich-Ideal,
– dem Bild, das sich die Umwelt von einem macht, demUmweltideal, sowie
– den physisch und psychisch gegebenen Bedingtheiten, die der Verwirklichung des Ich- und Umweltideals Grenzen setzen.

b) Das Unbewusste

Neben dem Bewusstsein hat auch bei Jung das Unbewusste einen besonderen Stellenwert. Es umfasst zwei Bereiche, das persönliche Unbewusste und das kollektive Unbewusste.

– Das persönliche Unbewusste enthält Vergessenes, Verdrängtes, unterschwellig Wahrgenommenes, Gedachtes und Gefühltes aller Art.
– Das kollektive Unbewusste mit den genuinen Wesenszügen des Menschen ist die gewaltige geistige Erbmasse der Menschheitsentwicklung, wiedergeboren in jeder individuellen Struktur, und kann in folgende Zonen geschieden werden:

– Zone der Emotionen und primitiven Triebe, über die unter Umständen noch eine bestimmte Ichkontrolle möglich ist;
 Zone der Invasionen (Visionen, Halluzinationen, Neurosen und Psychosen sowie der schöpferischen Geister), die elementar hervorbrechen, nie ganz bewusst zu machen sind und einen völlig autonomen Charakter haben;
– Zone des nie Bewusstzumachenden, des kollektiven Unbewussten, die zentrale Kraft, aus der sich einstens die Einzelpsychen ausgeschieden haben.

Was die Äußerungsformen des Unbewussten betrifft, so ist das Unbewusste nur aufgrund seiner Wirkungen, wie sie in der Bewusstseinsebene sichtbar werden, feststellbar, wobei sich folgende Erscheinungsformen unterscheiden lassen:

– Symptome als Stauung eines gestörten Energieablaufs,
– Komplexe als seelische Persönlichkeitsteile, psychische Inhalte, die sich vom Bewusstsein abgetrennt haben und autonom funktionieren,
– Archetypen als angeborene Abbilder von instinktiven, d.h. psychisch notwendigen Reaktionen auf bestimmte Situationen,
– Synchronizität als Prinzip akausaler Zusammenhänge.

Dieses hier nur skizzierte psychische System befindet sich nach Jung in dauernder energetischer Bewegung, die von der Libido aufgrund der Gegensatzstruktur der Psyche getragen wird:

– Libido ist die Gesamtheit jener psychischen Energie, die sämtliche Formen und Tätigkeiten des psychischen Systems durchpulst und miteinander verbindet.
– Gegensatzstruktur ist ein der menschlichen Natur inhärentes Gesetz zur Selbstregulierung.

Die Psyche ist ein System der Selbstregulierung und jede Selbstregulierung wird vom Gegensatz getragen.

c) Individuation

Wie Freud hat auch Jung ein Modell der Persönlichkeitsentwicklung erstellt, wobei er zu den wenigen Psychologen gehört, welche die psychische Entfaltung bis zum Alterhin gestalten. Diese Entwicklung nennt er Individuation, die folgende Stufen umfasst:

Die Erfahrung des Schattens als Begegnung mit jener Uranlage, die man nicht aufkommen lässt, weil sie zu den bewussten Prinzipien im Gegensatz steht;
die Begegnung mit der Gestalt des „Seelenbildes“ –anima“ beim Mann, „animus“ bei der Frau – als komplementär-geschlechtlicher Anteil der Psyche;
 die Begegnung des Mannes mit dem Archetypus des Alten Weisen, der Personifikation des geistigen Prinzips, und
 die Begegnung der Frau mit der Magna Mater, der Erdmutter, dem stofflichen Prinzip;
 die Begegnung mit dem Selbst als dem letzten Erfahrbaren in und von der Psyche.
Das Selbst ist nämlich eine dem Bewusstsein übergeordnete Größe, die nicht nur den bewussten, sondern auch den unbewussten Psycheteil umfasst. (Abb. 27).
Somit ist nach Jung die Individualpsyche ein Teil der Universalpsyche, der nach dem Tod in die Universalpsyche aufgeht. Sie ermöglicht die Allverbundenheit und die Individualität.32
Was schließlich die religiöse Dimension des Menschen betrifft, so sagt Jung:
„Jegliche Aussage über das Transzendente soll streng vermieden werden, denn sie ist stets nur eine lächerliche Anmaßung des menschlichen Geistes, der seiner Beschränktheit unbewusst ist. Wenn daher Gott oder Tao eine Regung oder ein Zustand der Seele genannt wird, so ist damit nur über das Erkennbare etwas ausgesagt, nicht aber über das Unerkennbare, über welches schlechthin nichts ausgesagt werden kann.“33

Anmerkungen:
26 Paracelsus: Die Bücher von den unsichbtaren Krankheiten (1532); H. Schott: Paracelsus – Mesmer – Freud (1989).
27 Schreiben über die Magnetkur von Herrn A. Mesmer, Doktor der Arzneigelährtheit, an einen auswärtigen Arzt (Wien: Kurzböck, 1775) , wo er das erste Mal vom animalischen Magnetismus spricht. – Der Begriff stammt von Athanasius Kircher: De Magnetismo Animalium (1643), siehe E. Benz: Theologie der Elektrizität (1970).
28 T.K. Österreich: Die philosophische Bedeutung der mediumistischen Phänomene (1924).
29 E. v. Hartmann: Die Philosophie des Unbewussten (1870-1890).
30 S. Freud: Gesammelte Werke (1940-1952); C. Kottayarikil: Sigmund Freud on Religion and Morality: a Challenge to Christianity (1977).
31 A. Adler: Praxis und Theorie der Individualpsychologie (1918); ders.: Menschenkenntnis (1927).
32 C.G. Jung: Gesammelte Werke (1964ff.).
33 C.G. Jung: Kommentar zu „Das Geheimnis der goldenen Blüte“ (1947), S. 50.