Andreas Resch: Das Globotron


Im Jahr 2000 lud eine Elektronikfirma zu einer Informationsveranstaltung, bei der vier geladene Referenten jeweils einen achtminütigen Impulsvortrag zur Präsentation „Elektronik 2010“ zu halten hatten. Mir fiel dabei das Thema „Elektronik 2010: Segen oder Fluch?“ zu. Da in acht Minuten lediglich Aussagen, nicht aber Argumentationen vorgebracht werden können, entschloss ich mich, die Thematik in eine Fabel einzubinden, um sowohl den technischen Fortschritt als auch die menschlichen Belange mit anzusprechen. Dabei bediente ich mich einer Gestalt aus der Geschichte, eines Ausdrucks psychologischer Gestimmtheit und einer Form des technischen Fortschritts.
Die historische Gestalt nannte ich Lucullus unter Bezug auf Lucius Licinius Lucullus (117-56 v. Chr.), den römischen Senator und Feldherrn, bekannt vor allem für seine üppigen Gastmähler, sodass man heute noch von „lukullischen Genüssen“ und „lukullischen Gastmählern“ spricht, ein Lebemensch also. Seine Frau ist Luculla. Den psychologischen Aspekt verband ich mit dem Namen der beiden Kinder, Jucunda, die Liebliche, und Jucundus, der Liebliche. Den technischen Fortschritt umschrieb ich hingegen mit „Globotron“ als Symbol der weltumspannenden Elektronik. Die Fabel selbst hörte sich unter Verwendung der genannten Gestalten folgendermaßen an:

Abb. 1: Das Globotron am Handgelenk

Zu Beginn der 1980er Jahre erblickte Lucullus das Licht der Welt. Schon als Kind überraschte er seine Eltern in Sprache, Verhalten und technischer Begabung. Volks- und Mittelschule waren für ihn der reinste Spaziergang. An der Universität studierte er zunächst Biologie, um seine Körperlichkeit auszuloten, dann Medizin, um mögliche Krankheiten in den Griff zu bekommen. Anschließend vertiefte er sich in Philosophie und Theologie, um die Konturen seines geistigen Horizonts zu ergründen. Am Ende befasste er sich noch mit Physik und Informatik. Prüfungen legte er keine ab, weil er dies als Zweifel an seiner Erhabenheit bewertete. Schließlich waren sein Wissen und Können allen wohlbekannt! Doktorarbeit und Habilitation lehnte er ebenso ab. Selbst das Angebot einer Professur schlug er aus, weil dies seinen Freiheitsraum beeinträchtigt hätte. Schließlich arbeitete er Tag und Nacht am Globotron an seinem Handgelenk, jener Welt und Kosmos umfassenden Informationsmaschine, die auf Blickimpulse hin sämtliche Informationen über Körper, Gesundheit, individuelle und kollektive Denkinhalte in Geschichte und Forschung sowie über das aktuelle Geschehen offenlegte und gegebenenfalls auch gleich die nötigen Rezepte und Heilmittel zur Hand hatte.
In einer globotron- und denkfreien Stunde verliebte er sich eines Tages in Luculla und nahm sie zur Frau. Nach einer weiteren globotronfreien Stunde wurde Luculla schwanger und brachte eine Tochter zur Welt, die sie Jucunda, die Liebliche, nannte. Lucullus selbst nahm Schwangerschaft und Geburt kaum zur Kenntnis, hätte dies doch seinen Freiheitsraum im Umgang mit dem Globotron empfindlich eingeschränkt! Eine neuerliche globotronfreie Stunde bescherte Luculla schließlich einen Sohn, dem sie den Namen Jucundus, der Liebliche, gab, zumal Lucullus gerade auf Weltreise war. Luculla, eine hochgebildete Frau widmete von nun an ihr ganzes Leben den Kindern, denn nur dort erfuhr sie Zuneigung und Liebe und konnte diese auch erwidern. Lucullus war selbst bei den seltenen Gelegenheiten seiner Anwesenheit in der Familie so sehr mit seinem Globotron beschäftigt, dass er kaum je ein Auge für Frau und Kinder hatte. Dies blieb natürlich nicht ohne Folgen. Luculla kämpfte gegen Einsamkeit und die Kinder entwickelten eine Verhaltensstörung, sodass sie auf dem Schulweg die Hand von fremden Männern im Alter ihres Vaters ergriffen, um mit ihnen ein Stück des Weges mitzugehen. Dies wurde alsbald der Schulbehörde gemeldet und der Schulpsychologe verordnete daraufhin eine Verhaltenstherapie. Luculla traf dies sehr. Sie fühlte sich immer mehr im Stich gelassen, nahm aber schließlich all ihren Mut zusammen und bekundete Lucullus bei einem seiner kurzen Aufenthalte im Kreis der Familie ihr Bedürfnis nach Zuneigung. Dieser konsultierte umgehend sein Globotron, um gleich den aktuellsten Ausdruck der Zuneigung abzurufen. Die Anzeige lautete: ein Kuss, ausgeführt durch Hochziehen des linken Beines und Vorneigen des Oberkörpers bis zum vollen Lippenkontakt. Lucullus brachte sich sogleich in Pose, verlor jedoch beim Vorneigen des Oberkörpers das Gleichgewicht, fiel zu Boden und zog sich einen Oberschenkelbruch zu. Sein Blick auf das Globotron sagte ihm unmissverständlich: Krankenhaus!
Im Spital wurde Lucullus das Globotron abgenommen, woraufhin er sofort in eine tiefe Depression fiel und für einige Tage unansprechbar war. Luculla stand an seiner Seite. Als er sich wieder fasste, ergriff er ihre Hand und wollte sie nicht mehr loslassen. Luculla sollte immer bei ihm sein. Schließlich fragte er: „Wo sind denn die Kinder?“ „Die Kinder sind beim Psychotherapeuten“, antwortete Luculla, „sie leiden unter dem Vatersyndrom. Solltest du auch ihnen die Zuneigung und Zeit gewähren, die du jetzt mir abverlangst, dann erübrigt sich der Psychotherapeut. Und solltest du schließlich gar den Blick nach oben wagen, dann könnte dir neben Gefühl auch noch Weisheit beschieden sein!“
Lucullus kehrte mit seinem Globotron am Handgelenk nach Hause zurück. Letzteres hatte jedoch nur mehr Funktionscharakter. Sein Zuhause war fortan die Familie. Das Gefühl der Geborgenheit hatte endlich mit dem Denken gleichgezogen und das Globotron wurde zum hilfreichen technischen Gerät, das Lucullus ohne jede Gefühlsschwankung auch einmal abstellen konnte, denn von seinem Zwang zur reinen Technik war er ein für allemal geheilt. Frau und Kinder blühten auf und Lucullus war erfolgreicher und freier als je zuvor.
Heute schreiben wir das Jahr 2010. Zehn Jahre sind also seither vergangen und es stellt sich die Frage: Ist die Fabel nun Fabel geblieben oder hat sie die inzwischen erfolgte Entwicklung in Technik und Leben in gewissem Sinne schon vorweggenommen?
Technisch gesehen ist man dem Globotron hart auf den Fersen. Jene Welt und Kosmos umfassende Informationsmaschine, die auf Blickimpulse hin sämtliche Informationen und gegebenenfalls auch gleich die nötigen Rezepte zur Hand hat, ist es allerdings noch nicht und wird es auch nie sein. Dazu bedarf es nämlich nicht nur der technischen Voraussetzungen, sondern auch des ganzen Bemühens in Neurologie und Neurochirurgie zur Bereitstellung der geforderten künstlichen Intelligenz, damit Blickimpulse die gewünschte Frage „globotronkonform“ weitergeben. Es geht hier in technischer Hinsicht also nicht nur um das Gerät am Handgelenk, sondern auch um die entsprechende Schulung und hirnphysiologische Konditionierung seines Trägers, elektronische und radiologische Implantate mit eingeschlossen. Vor allem muss das Globotron auch in der Lage sein, im Körperkontakt am Arm alle notwendigen biologischen Parameter in Realzeit anzuzeigen, und zwar so, dass ein Arzt im Ernstfall die entsprechende Ferndiagnose stellen und die nötigen Vorkehrungen mitteilen kann. Was hingegen die Information bezüglich Geschichte, Forschung und aktuellem Geschehen betrifft, sind die Voraussetzungen bereits gegeben und können so ausgebaut werden, dass jeder Schul- und Bildungsbesuch am Globotron abgewickelt werden kann. Hingegen bleiben individuelle und kollektive Inhalte selbst bei Einsatz künstlicher Intelligenz in ihrer Ureigenart dem Individuum und seiner Teilnahme am kollektiven Empfinden vorbehalten. Das Gleiche gilt für die individuelle Qualität der erlebten Emotion. Das dürften aber die einzigen Bereiche bleiben, die sich dem technischen Zugriff entziehen.
Damit ist bereits der psychische Aspekt der Fabel angesprochen. Familiärer Gefühlsaustausch und bioenergetisches Feld, die nicht nur für das Gemeinschaftsleben in Familie und Gesellschaft, sondern für die harmonikale Persönlichkeitsbildung des Individuums selbst unabdingbar sind, werden durch jede Form der Technisierung gemindert bis ausgeschaltet. Dies führt notgedrungen zu psychischen Störungen, wie sich dies bei Luculla, Jucunda und Jucundus zeigt. Dabei hat es Lucullus, der nicht nur das Leben der Familie, sondern vor allem sich selbst technisiert, am tiefsten getroffen. Durch seine Flucht in die Technik sind die Gefühle verkümmert. Als ihm die Fluchtmöglichkeit, sprich: das Globotron, genommen wird, bricht er orientierungslos zusammen. Auch seine bioenergetische Ausstrahlung ist ihm abhanden gekommen. Dank Luculla am Krankenbett gelingt es ihm, die Lücken aufzufüllen. Dabei ist er schon so „ausgetrocknet“, dass er die Hand seiner Frau nicht mehr loslassen will, weil er sich erst bioenergetisch aufladen muss, um überhaupt fühlig zu werden. Der Kuss, den er Luculla bei seinem unglücklichen Sturz geben wollte, war eine rein rituelle Geste ohne jeden Emotionsbezug. Als er wieder fühlig wird, tauchen in seiner Vorstellung auch die Kinder wieder auf, die ihn aber völlig neu in ihre Gefühlswelt einbauen müssen, litten sie doch bisher am Vatersyndrom, jenen inzwischen weit verbreiteten Störungen von Kindern ohne Vaterkontakt. Sie waren nicht im eigentlichen Sinne krank, sondern litten schlicht an Emotionsmangel, den man heute vielerorts durch „Leihväter“ zu beheben sucht. Dieser Mangel an Emotion und Bioenergie, gepaart mit Einsamkeit, hat sich in den letzten zehn Jahren nicht nur bei Kindern, sondern in der Gesellschaft insgesamt verstärkt. Nun versucht man das Unbehagen vor allem durch das Handy in den Griff zu bekommen. Der unverbindliche Kontakt stärkt zwar die individuelle Freiheit, doch wird diese nicht selten unerträglich, denn die Höchstform der Freiheit ist immer auch die Höchstform der Einsamkeit. Hier meldet sich nach außen das in jedem Menschen verankerte Streben nach Anerkennung und Geborgenheit und nach innen die tiefe Sehnsucht, ewig und glücklich zu sein. Dennoch: Diese Seite des Lebens war auch in den letzten zehn Jahren in Wissenschaft und Forschung kein Thema, weil sie in Erfahrungsräumen liegt, die nach wie vor als Grenzgebiete gelten, da sie nur erfahren, nicht aber erklärt bzw. gemessen werden können. Die Offenheit dem Nichterklärbaren gegenüber aber bereichert das Leben und erfüllt es mit Hoffnung.
Elektronik 2010: Segen oder Fluch? – Segen, wenn das Machbare so eingesetzt wird, wie Lucullus dank Luculla es gelernt hat, um für die Kinder, Jucunda und Jucundus, der ersehnte Vater zu sein.

GW 59 (2010) 1, 3-6