Andreas Resch: Fátima, 100 Jahre

Die Hundertjahrfeier der Marienerscheinungen von Fátima 1917 im Zentrum Portugals, gegen Ende des 1. Weltkrieges, ist uns ein besonderer Anlass, die Ereignisse von damals, welche bis heute nachwirken, in Erinnerung zu rufen. Dabei wollen wir uns der im Auftrag des Bischofs von Leiria, José II. Alves Correia da Silva (Abb. 1), im Gehorsam angeforderten Niederschrift der Erinnerungen der Seherin Lucia dos Santos bedienen, die von P. Luis Kondor SVD (Abb. 2), dem Leiter der Seligsprechungsprozesse von Francisco und Jacinta, übersetzt wurden.1

Abb. 1: Bischof José II. Alves Correia da Silva (1872-1957); Bischof von Leira (1920-1957)

Abb. 2: P. Ludwig Kondor SVD (1928-2009)

Nach Kondor stellen diese „Erinnerungen“ von Schwester Lucia das reichste, umfassendste und lebendigste Zeugnis der Geschehnisse in der Cova da Iria dar. War sie es doch, die nicht nur die Gruppe der Seher beim Gespräch mit Unserer Lieben Frau von Fátima anführte, sondern auch alles miterlebte. Die Bilder entstammen dem Archiv des IGW.

DIE SEHER VON FÁTIMA

Zu den Sehern von Fátima gehören Lucia dos Santos sowie Jacinta und Francisco Marto (Abb. 3).

Abb. 3: Die Seher von Fatima: Lucia, Francisco, Jacinta

Lucia dos Santos

Lucia dos Santos (Abb. 4) wurde am 22. März 1907 als Tochter von Antonio dos Santos und Maria Rosa in Aljustrel, einem Weiler in der Pfarre Fátima, geboren und am 30. März 1907 auf dem Namen Lucia getauft.

Abb. 4: Lucia dos Santos (1907-2005)

Als jüngstes von sieben Kindern, sechs Mädchen und ein Junge, wurde sie in ihrer Kindheit von Zärtlichkeit umgeben. Im Alter von sechs Jahren empfing sie die erste heilige Kommunion. Entsprechend den Erfordernissen der häuslichen Verhältnisse wurde sie Hirtin. Laut Gefährten aus dem Ort wurden 1917 ihre Kusine Jacinta und ihr Vetter Francisco Marto ihre ausschließlichen Begleiter. Im Rahmen der im Folgenden beschriebenen Erscheinungen wurde Lucia aufgefordert, lesen und schreiben zu lernen. Als Seherin war sie besonderen Anforderungen ausgesetzt. So kam sie am 17. Juni 1921 mit 14 Jahren und drei Monaten in das Kolleg der Schwestern von der Hl. Dorothea in Vilar bei Porto, wo sie eine hervorragende Ausbildung erhielt. Am 24. Oktober 1925 trat sie, wenngleich ihr die Karmelitinnen besser entsprachen, bei den Dorotheerinnen in Pontevedra in Spanien, direkt an der Grenze Portugals, als Postulantin ein, wo sie bis zum 20. Juli 1926 weilte. Anschließend kehrte sie nach Tuy ins Kloster zurück, wo sie am 3. Oktober 1928 die zeitlichen und am 3. Oktober 1934 die ewigen Gelübde ablegte. Nur wenige Tage später wurde sie erneut nach Pontevedra versetzt. Nach dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs wurde sie 1936 in das Colégio do Sardão bei Porto (Portugal) geschickt. Im Mai 1937 kehrte sie nach Tuy zurück, wo sie auch ihre Erinnerungen niederschrieb. Ende Mai 1946 ging sie wieder nach Portugal. Am 25. März 1948 trat sie mit dem Gunsterweis Pius XII. zu den Karmelitinnen von Coimbra über, um sich ihren Wunsch nach Einsamkeit zu erfüllen. Bei der Einkleidung erhielt sie den Ordensnamen Sr. Maria Lucia vom Unbefleckten Herzen. Am 31. Mai 1949 legte sie die feierliche Profess ab. Am 13. Februar 2005 verstarb die Seherin im Karmel von Coimbra knapp 98-jährig.
Der Tag ihres Begräbnisses, der 15. Februar 2005, wurde in Portugal zum nationalen Trauertag erklärt. Am 19. Februar 2006, am Vorabend des liturgischen Festes der beiden seligen Seherkinder Francisco und Jacinta, wurde ihr Sarg aus Coimbra in die Basilika von Fátima überführt und neben dem Grab von Jacinta beigesetzt. An ihrem dritten Todestag 2008 erteilte Papst Benedikt XVI. sein Einverständnis für die Einleitung des Seligsprechungsprozesses von Sr. Lucia.

Francisco Marto

Francisco Marto

Abb. 5: Francisco Marto (1908-1919)

Francisco Marto (Abb. 5) wurde am 11. Juni 1908 in der Pfarrei Fátima, Bezirk Vila Nova de Ourém, geboren und neun Tage später auf den Namen Francisco getauft. Er war das sechste Kind von Manuel Pedro Marto und Olimpia de Jesus, der Schwester von Lucias Vater. Francisco war ein wortkarger Junge und legte schon früh eine erstaunliche Liebe zur Natur an den Tag. Am liebsten hütete er seine Schafe zwischen abgelegenen Felsen, wo er sich verstecken konnte. Dort spielte er auf seiner Mundharmonika, sang selbst gedichtete Lieder dazu oder betete. Bei dieser Tätigkeit erlebte er gemeinsam mit seiner Schwester Jacinta und seiner Kusine Lucia dos Santos 1916 drei Erscheinungen eines Engels und 1917 die Erscheinungen der Gottesmutter, die er jedoch nie sprechen hörte, sodass er immer fragen musste, was sie gesagt hatte. Bei der Erscheinung am 13. Juni 1917 wurde ihm sein baldiger Tod angekündigt. Nach den Entbehrungen im Gefängnis und den Anforderungen als Seher erkrankte Francisco im Dezember 1918 an der Spanischen Grippe. Wenn Lucia auf dem Weg zur Schule am Haus vorbeiging, ersuchte er sie, in die Kirche zu gehen und Jesus viele Grüße von ihm auszurichten. Während seiner halbjährigen Krankheit wurde er von Jung und Alt besucht, besonders aber von Lucia und Jacinta.
Nach Ablegen der Beichte und Empfang der Kommunion starb Francisco gottergeben am 4. April 1919 um 22 Uhr und wurde am darauffolgenden Tag auf dem Friedhof von Fátima beerdigt. Am 13. März 1952 wurden seine Gebeine in die Basilika von Fátima überführt.

Abb. 6: Heiligsprechung von Francisco und Jacinta Marto am 13. Mai 2017 in Fátima

Anlässlich der Wallfahrt von Papst Johannes Paul II. nach Fátima wurde er am 13. Mai 2000 gemeinsam mit seiner Schwester seliggesprochen. Die Heiligsprechung von Francisco durch Papst Franziskus erfolgte am 13. Mai 2017 ebenfalls in Fátima. Sein Gedenktag ist der 4. April.

Jacinta Marto

Abb. 7: Jacinta Marto (1910-1920)

Jacinta Marto (Abb. 7) wurde am 11. März 1910 in der Pfarrei Fátima, Bezirk Vila Nova de Ourém, geboren und am 19. März auf den Namen Jacinta getauft. Sie war das jüngste Kind von Manuel Pedro Marto und Olimpia de Jesus, der Schwester von Lucias Vater. Olimpia war zweimal verheiratet – das erste Mal mit dem Bruder von Lucias Mutter, mit dem sie zwei Kinder hatte. Aus der zweiten Ehe gingen dann sieben Kinder hervor, von denen Francisco und Jacinta die jüngsten waren und als Hirten am liebsten in Gesellschaft mit ihrer Kusine Lucia die Schafe auf die Weide führten, wo sie 1916 gemeinsam die Erscheinungen des Engels und 1917 die Erscheinungen der Gottesmutter erlebten und dabei in Ekstase fielen. Bei der Erscheinung am 13. Juni 1917 wurde Jacintas baldiger Tod angekündigt.
Nach den Entbehrungen im Gefängnis und den Anforderungen als Seherin erkrankte Jacinta im Oktober 1918 an Lungenentzündung.
Während ihrer Krankheit bekam sie Besuch von Unserer Lieben Frau, die ihr mitteilte, dass Francisco sie bald in den Himmel holen, sie vorher aber noch ins Krankenhaus kommen werde. Am 1. Juli 1919 wurde Jacinta in das Krankenhaus des hl. Augustinus in Vila Nova de Ourém eingeliefert. Am 21. Januar 1920 kam sie nach Lissabon in das Waisenhaus von Madre Godinho und dann in das Krankenhaus D. Estefania, wo ihr am 10. Februar zwei Rippen entfernt wurden. Eine Besserung trat jedoch nicht ein.

Abb. 8: Jacinta Marto, Inspektion ihrer sterblichen Überreste, 12. September 1935

Abb. 9: Jacinta Marto, Inspektion der sterblichen Überreste des ganzen Körpers, 30. April 1951

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Jacinta starb gottergeben am 20. Februar 1920 um 22.30 Uhr, wie es ihr Unsere Liebe Frau auf Tag und Stunde vorausgesagt hatte. Ihr Leichnam wurde nach Vila Nova de Ourém überführt und in der Grabstätte des Barons von Alvaiázeres beigesetzt. Die Bedeckung des Leichnams mit einer dicken Kalkschicht und die Bestattung in einer Gruft hatte einen verzögerten Verwesungsprozess zur Folge. Als man am 12. September 1935 ihren Sarg öffnete und den Leichnam unversehrt vorfand (Abb. 8), wurde dieser noch am gleichen Tag in den Friedhof von Fátima übertragen.

Im Rahmen des Seligsprechungsverfahrens wurde am 30. April 1951 bei der Identifikation des ganzen Körpers von Jacinta festgestellt, dass das Gesicht identisch war (Abb. 8). Daraufhin wurde sie am 1. Mai 1951 im Querschiff der Basilika auf der linken Seite beigesetzt.
Die Seligsprechung gemeinsam mit ihrem Bruder Francisco erfolgte anlässlich der Wallfahrt von Papst Johannes Paul II. nach Fátima am 13. Mai 2000. Am 13. Mai 2017 wurde Jacinta von Papst Franziskus in Fátima heiliggesprochen (Abb. 10). Ihr Gedenktag ist der 20. Februar. Mit Francisco und Jacinta wurden erstmals Kinder heiliggesprochen, die keine Märtyrer waren.

Abb. 10: Jacinta und Francisco Marto, Basilika von Fátima, Heiligsprechung 2017


ENGELERSCHEINUNGEN

Den Marienerscheinungen von Fátima gingen zwischen April und Oktober 1915 bereits Licht- und Engelerscheinungen voraus. So berichtet Lucia:
„Als ich mit drei Gefährtinnen namens Theresa Matias, ihrer Schwester, Maria Rosa Matias, und Maria Justino aus dem Dorf Casa Velha am Südhang des Cabeço den Rosenkranz betete, gewahrte ich über den Bäumen im Tal zu unseren Füßen etwas wie eine Wolke, weißer als Schnee, durchsichtig und von menschlicher Gestalt. Meine Gefährtinnen fragten mich, was das sei. Ich erwiderte, ich wüsste es nicht. An ver­schiedenen Tagen wiederholte sich das noch zweimal.“ (L 141)
Wären nicht noch die folgenden Ereignisse geschehen, hätte Lucia dies wohl vergessen, weil sie damals nicht einmal die Wochentage zählen konnte.

Erste Engelerscheinung

Die Erscheinungen, die als Engelerscheinungen bezeichnet werden, begannen dann 1916, wie Lucia berichtet.
„Es scheint mir jedoch, dass es im Frühjahr des Jahres 1916 war, als der Engel uns auf dem Loca do Cabeço zum ersten Mal erschien.“ (L 141)

Abb. 11: Erste Engelerscheinung im Frühjahr 1916, Gemälde in Fátima

Es war nach dem Mittagessen, als wir „in einiger Ent­fernung über den Bäumen gegen Osten ein Licht erblickten, weißer als der Schnee, in der Form eines durchsichtigen Jünglings, strahlen­der als ein Kristall im Sonnenlicht. Je näher er kam, um so besser konnten wir seine Züge unterscheiden. Wir waren sehr überrascht und ganz hingerissen. Wir sagten kein Wort. Als er bei uns anlangte, sagte er:
Habt keine Angst, ich bin der Engel des Friedens! Betet mit mir.‘ Er kniete sich auf die Erde und beugte seine Stirn bis zum Boden (Abb. 11). Durch einen übernatürlichen Zwang mitgerissen, taten wir das Gleiche und wiederholten die Worte, die wir ihn sprechen hörten: ‚Mein Gott, ich glaube an Dich, ich bete Dich an, ich hoffe auf Dich und ich liebe Dich. Ich bitte um Verzeihung für jene, die nicht an Dich glauben, die Dich nicht anbeten, die auf Dich nicht hoffen und die Dich nicht lieben.‘
Nachdem wir das dreimal wiederholt hatten, erhob er sich und sagte:
So sollt ihr beten; die Herzen Jesu und Mariä hören auf eure Bitten.‘ Und er verschwand.
Die Atmosphäre des Übernatürlichen, die uns umgab, war so intensiv, dass wir ziemlich lange kaum unseres eigenen Daseins inne wurden; wir blieben in der Haltung, in welcher der Engel uns zurückgelassen hatte, und wiederholten ständig dasselbe Gebet.
Wir fühlten die Gegenwart Gottes so gewaltig und innerlich, dass wir nicht einmal untereinander zu sprechen wagten. Noch am nächsten Tag war unser Geist in diese Atmosphäre gehüllt, die nur sehr langsam verschwand.“ (L 142)
Die Seher wurden bei dieser Vision geistig in einen ekstatischen Zustand versetzt, während sie körperlich bis in den Zustand der Biokömese2 versanken. Sie blieben unbeweglich und  geistig völlig vereinnahmt.

Zweite Engelerscheinung

Die zweite Engelerscheinung erfolgte im Hochsommer 1916, als sich die Seherkinder im Schatten der Bäume um einen Brunnen herum aufhielten, von dem noch die Rede sein wird. So sagt Lucia:

Abb. 12: Zweite Engelerscheinung im Sommer 1916, Gemälde in Fátima

„Plötzlich sahen wir denselben Engel vor uns (Abb. 12):
‚Was tut ihr? Betet! Betet viel! Die Herzen Jesu und Mariä haben mit euch Pläne der Barmherzigkeit. Bringt dem Allerhöchsten unaufhörlich Gebete und Opfer dar … als Bitte um die Bekehrung der Sünder. So werdet ihr den Frieden auf euer Vaterland herabziehen. Ich bin sein Schutzengel, der Engel Portugals. Vor allem, nehmt die Leiden, die euch der Herr senden wird, mit Ergebung an und ertragt sie geduldig.‘
Diese Worte des Engels prägten sich in unseren Geist ein wie ein Licht, das uns erkennen ließ, wer Gott ist, wie sehr Er uns liebt und von uns wiedergeliebt sein will. Wir erkannten den Wert des Opfers und wie wohlgefällig es Ihm ist; und wie Er um des Opfers willen Sünder bekehrt.
Von dieser Zeit an begannen wir daher, dem Herrn alles aufzuopfern, was uns kränkte, doch suchten wir damals keine anderen Abtötungen oder Bußübungen, als stundenlang zur Erde niedergeworfen das Gebet des Engels zu wiederholen.“ (L 142-143)

Dritte Engelerscheinung

Die dritte Erscheinung des Engels muss nach Lucia Anfang Oktober oder Ende September 1916 stattgefunden haben, da die Kinder die Mittagspause schon nicht mehr zu Hause verbrachten, sondern in Lapa do Cabeça. Dort beteten sie zuerst den Rosenkranz und das Gebet, das sie der Engel bei seiner ersten Er­scheinung gelehrt hatte. Bei dieser dritten Erscheinung hielt der Engel (Abb. 13) „einen Kelch in der Hand, darüber eine Hostie, aus der Blutstropfen in den Kelch fielen.

Abb. 13: Dritte Engelerscheinung im Herbst 1916, Gemälde in Fátima

Er ließ den Kelch und die Hostie in der Luft schweben (Abb. 14), kniete sich auf die Erde nieder und wiederholte dreimal das Gebet:
‚Allerheiligste Dreifaltigkeit, Vater, Sohn und Heiliger Geist, in tiefster Demut bete ich Euch an, und opfere Euch auf den kostbaren Leib und das Blut, die Seele und die Gottheit Unseres Herrn Jesus Christus, gegenwärtig in allen Tabernakeln der Welt, zur Sühne für alle Lästerungen, Sakrilegien und Gleichgültigkeiten, durch welche Er selbst beleidigt wird. Durch die unendlichen Ver­dienste Seines Heiligen Herzens und des Unbefleckten Herzens Ma­riens erflehe ich von Euch die Bekehrung der armen Sünder.‘

Abb. 14: Engelerscheinung im Herbst 1916, Gemälde in Fátima

Dann erhob er sich und ergriff wieder Kelch und Hostie. Die Hostie reichte er mir, den Inhalt des Kelches gab er Jacinta und Francisco zu trinken mit den Worten:
‚Empfanget den Leib und trinkt das Blut Jesu Christi, der durch die Undankbarkeit der Menschen so schrecklich beleidigt wird; sühnt ihre Sünden, tröstet euren Gott.‘
Dann kniete er sich erneut auf die Erde nieder und sprach mit uns dreimal dasselbe Gebet: Allerheiligste Dreifaltigkeit etc… und ver­schwand.
Bewegt von der Kraft des Übernatürlichen, das uns umhüllte, ahmten wir den Engel in allem nach, das heißt, wir knieten wie er nieder und wiederholten die Gebete, die er gesprochen hatte. Die Kraft der Gegenwart Gottes war so intensiv, dass sie uns fast gänzlich fesselte und vernichtete. Sie schien uns längere Zeit selbst des Gebrauches unserer körperlichen Sinne zu berauben. In diesen Tagen vollbrachten wir unsere äußeren Handlungen gleichsam getragen von demselben über­natürlichen Wesen, das uns dazu bewegte. Der Friede und das Glück, das wir fühlten, war sehr groß, aber rein innerlich und konzentrierte die Seele völlig auf Gott. Auch die körperliche Entkräftung, die uns niederwarf, war sehr groß.“ (L 143-144)
Die Erscheinung des Engels versetzte die Seherkinder seelisch in einen ekstatischen und körperlich in einen biokömetischen Zustand, der sich dann erst langsam auflöste.

Lucias Schweigen

Die Seher waren von diesen Engelerscheinungen so beeindruckt, dass sie ein völlig neues Lebensgefühl erwarben. So sagt Lucia:
„Ich weiß nicht, warum die Erscheinungen Unserer Lieben Frau in uns ganz andere Wirkungen hervorbrachten: dieselbe innere Freude, den­selben Frieden und dasselbe Glücksgefühl… Doch trotz dieser Gefühle spürte ich mich gedrängt zu schweigen, vor allem über einige Dinge. Ich spürte bei den Verhören eine innere Stimme, die mir die Antwor­ten eingab, welche, ohne dabei gegen die Wahrheit zu verstoßen, nicht das offenbarten, was ich damals verschweigen musste. In dieser Hin­sicht bleibt mir nur ein Zweifel: ob ich nicht beim kanonischen Verhör hätte alles sagen müssen. Aber ich fühlte keine Skrupel, dass ich ge­schwiegen habe, weil ich zu dieser Zeit die Wichtigkeit dieses Verhörs noch nicht begriff. Ich betrachtete es daher als eines der vielen, an die ich gewöhnt war. Ich fand es nur merkwürdig, einen Eid ablegen zu müssen. Da es aber mein Beichtvater war, der mir den Eid auf die Wahrheit abverlangte, leistete ich ihn ohne Schwierigkeiten. Ich ahnte damals nicht, was der Teufel später daraus machen sollte, um mich mit endlosen Skrupeln zu quälen; aber Gott sei Dank ist das alles vorbei.“ (L 144)

MARIENERSCHEINUNGEN

Nach diesen Engelerscheinungen erfolgten von Mai bis Oktober 1917 sechs Erscheinungen Unserer Lieben Frau vom Rosenkranz, als die sich die Weiße Dame bei der Erscheinung am 13. Oktober zu erkennen gab.

Erste Erscheinung, 13. Mai 1917

Lucia,  Francisco und Jacinta befanden sich am 13. Mai 1917 auf dem Gipfel des Abhanges der Cova da Iria. Plötzlich gewahrten sie so etwas wie einen Blitz und versuchten, sich und die Herde nach Hause zu bringen. Als sie den Abhang hinunterstiegen, sahen sie neben einer großen Eiche wieder einen Blitz. Einige Schritte weiter erblickten sie über einer Steineiche eine Dame, ganz in Weiß gekleidet und strahlender als die Sonne. Völlig überrascht blieben sie innerhalb des Lichts, das sie ausstrahlte, etwa eineinhalb Meter vor der Dame, stehen (Abb. 15). Diese sagte zu den Sehern:

Abb. 15: Erste Marienerscheinung, 13. Mai 1917, Gemälde in Fátima

„Habt keine Angst! Ich tue euch nichts Böses!“
Woher sie komme, fragte Lucia.
„Ich bin vom Himmel!“
Und was sie von ihr wolle, fragte Lucia weiter.
„Ich kam euch zu bitten, dass ihr in den folgenden sechs Monaten, jeweils am Dreizehnten zur selben Stunde, hierher kommt. Dann werde ich euch sagen, wer ich bin und was ich will. Ich werde danach noch ein siebtes Mal hierher zurückkehren.“ (L 145 und 147)
Ob sie auch in den Himmel komme, fragte Lucia und erhielt eine bejahende Antwort, ebenso Jacinta. Francisco müsse hingegen noch viele Rosenkränze beten.
Lucia fragte auch nach zwei unlängst verstorbenen Mädchen und bekam zur Antwort, dass Neves im Himmel sei, Amelia hingegen bis zum Ende der Welt, das heißt für lange Zeit, im Fegefeuer bleibe.
Zudem fragte die Dame:
„Wollt ihr euch Gott darbieten, um alle Leiden zu ertragen, die Er euch schicken wird, zur Sühne für alle Sünden, durch die Er be­leidigt wird und als Bitte um die Bekehrung der Sünder?“
„Ja, wir wollen es!“ antworteten Lucia, Jacinta und Francisco.
„Ihr werdet also viel leiden müssen, aber die Gnade Gottes wird eure Stärke sein!“ sagte die Dame. Zum ersten Mal öffnete sie die Hände und strahlte die Seher mit einem starken Licht an. Dieses drang bis in die tiefste Tiefe ihrer Seelen und ließ sie sich selbst viel klarer als im besten Spiegel in Gott schauen, der dieses Licht war. Auf eine innere Anregung hin fielen die Seher auf die Knie und wie­derholten ganz innerlich:
„O Heiligste Dreifaltigkeit, ich bete Dich an; Mein Gott, mein Gott, ich liebe Dich im heiligsten Sakrament.“
Nach einigen Augenblicken fügte die Dame noch hinzu:
Betet täglich den Rosenkranz, um den Frieden der Welt und um das Ende des Krieges zu erlangen!“ (L 147)
Dann erhob sie sich in Richtung Sonnenaufgang, bis sie in der Unendlichkeit verschwand.
Auffallend ist, dass die Seher ganz ruhig blieben. Beim Anstrahlen mit Licht fielen sie allerdings in den veränderten Bewusstseinszustand der Ekstase mit einer Gottesschau.
Die mutige Sprecherin war Lucia, wobei zu bedenken ist, dass Francisco, wie oben gesagt, die Dame nur sah, aber nicht hörte.

Zweite Erscheinung, 13. Juni 1917

Abb. 16: Zweite Marieenerscheinung über der Steineiche, 13. Juni 1917, Gemälde in Fátima

Am 13. Juni 1917 begaben sich die drei Seher wieder zur vereinbarten Stelle und beteten mit einigen Anwesenden den Rosenkranz. Danach gewahrten sie von neuem den Lichtschein, der immer näher kam, bis die Dame, wie im Mai, über der Steineiche (Abb. 16) erschien. Auf Lucias Fragen antwortete sie:
„Ich möchte, dass ihr am Dreizehnten des kommenden Monats hierher kommt, dass ihr alle Tage den Rosenkranz  betet und lesen lernt. Später sage ich euch, was ich möchte.“
Lucia bat um die Heilung eines Kranken.
„Wenn er sich bekehrt, wird er in diesem Jahr gesund werden.“
Daraufhin bat Lucia die Dame, sie alle in den Himmel mitzunehmen, worauf die Dame eine einschneidende Aussage machte.
„Ja! Jacinta und Francisco werde ich bald holen. Du aber bleibst noch einige Zeit hier. Jesus möchte sich deiner bedienen, damit die Menschen mich erkennen und lieben. Er möchte auf Erden die Vereh­rung meines Unbefleckten Herzens begründen.“

Abb. 17: Maria im Strahlenkranz, mit einem von Dornen umkränzten Herz in der Hand, Gemälde in Fátima

Lucia, wurde traurig und fragte, ob sie allein zurückbleibe, worauf die Dame antwortete:
„Niemals werde ich dich verlassen, mein Unbeflecktes Herz wird deine Zuflucht sein und der Weg, der dich zu Gott führen wird.“ (L 149)
Während die Dame diese letzten Worte sagte, öffnete Sie die Hände und übermittelte den drei Kindern zum zweiten Mal den Widerschein, in dem sie sich wie in Gott versenkt fühlten.
Jacinta und Francisco standen im Lichtstrahl, der sich zum Himmel erhob, Lucia hingegen in dem Teil, der sich über die Erde ergoss. Vor der rechten Handfläche der Dame befand sich ein Herz, umgeben von Dornen, die es zu durchbohren schienen (Abb. 17). Die Seher deuteten dies als Unbeflecktes Herz Mariens, verletzt durch die Sünden der Menschheit.

Dritte Erscheinung, 13. Juli 1917

Als die drei Seher in der Cova da Iria bei der Steineiche angekommen waren und mit einer großen Volksmenge den Rosenkranz beteten, sahen sie den gewohnten Lichtschein und bald darauf die weiße Dame über der Steineiche. Lucia stellte ihr wiederum die Frage, was sie wolle, worauf die Dame antwortete:
„Ich möchte, dass ihr am Dreizehnten des kommenden Monats wieder hierher kommt, dass ihr weiterhin jeden Tag den Rosenkranz zu Ehren Unserer Lieben Frau vom Rosenkranz betet, um den Frieden für die Welt und das Ende des Krieges zu erlangen, denn nur sie allein kann es erreichen.“
Nun fragte Lucia zum ersten Mal, wer sie sei, und ersuchte um ein Wunder, damit auch die anderen an ihr Erscheinen glauben könnten, worauf  die Dame erwiderte:
„Kommt weiterhin jeden Monat hierher. Im Oktober werde ich euch sagen, wer ich bin und was ich wünsche, und werde ein Wunder tun, damit alle glauben…
Opfert euch auf für die Sünder und sagt oft, besonders wenn ihr ein Opfer bringt: O Jesus, das tue ich aus Liebe zu Dir, für die Bekehrung der Sünder und zur Sühne für Sünden gegen das Unbefleckte Herz Mariä.“

Bei diesen letzten Worten, schreibt Lucia, öffnete die Dame neuerlich die Hände wie bei den vorhergehenden Erscheinungen:
„Der Strahl schien die Erde zu durchdringen, und wir sahen gleichsam ein Feuermeer und eingetaucht in dieses Feuer die Teufel und die Seelen, als ob sie durchscheinend und schwarz oder bronzefarbig glühende Kohlen in menschlicher Gestalt seien, die in diesem Feuer schwammen, emporgeschleudert von den Flammen, die unter Wolken von Rauch aus ihnen selbst hervorschlugen; sie fielen nach allen Seiten wie Funken bei gewaltigen Bränden, ohne Schwere und Gleichgewicht, unter Schreien und Heulen vor Schmerz und Verzweiflung, das vor Schrecken erbeben und erstarren ließ….
Die Teufel unterschieden sich durch die schreckliche und scheußliche Gestalt widerlicher, unbekannter Tiere, sie waren aber durchscheinend wie schwarze, glühende Kohle.“
Erschrocken blickten die Seher zur Dame um Hilfe auf, die voll Güte und Traurigkeit zu ihnen sprach:
Ihr habt die Hölle gesehen, wohin die Seelen der armen Sünder kommen. Um sie zu retten, will Gott die Andacht zu meinem Unbe­fleckten Herzen in der Welt begründen. Wenn man tut, was ich euch sage, werden viele gerettet werden, und es wird Friede sein. Der Krieg geht seinem Ende entgegen; wenn man aber nicht aufhört, Gott zu beleidigen, wird unter dem Pontifikat von Pius XI. ein anderer, schlim­merer Krieg beginnen. Wenn ihr eine Nacht erhellt sehen werdet durch ein unbekanntes Licht,3 dann wisset, dass dies das große Zeichen ist, das Gott euch gibt, dass er nun die Welt für ihre Missetaten durch Krieg, Hungersnot, Verfolgung der Kirche und des Heiligen Vaters strafen wird.
Um das zu verhüten, werde ich kommen, um die Weihe Russlands an mein Unbeflecktes Herz und die Sühnekommunion an den ersten Sams­tagen zu fordern.4 Wenn man auf meine Wünsche hört, wird Russ­land sich bekehren, und es wird Friede sein; 5 wenn nicht, dann wird es seine Irrlehren über die Welt verbreiten, wird Kriege und Ver­folgungen der Kirche heraufbeschwören, die Guten werden gemartert werden und der heilige Vater wird viel zu leiden haben; verschiedene Nationen werden vernichtet werden; am Ende aber wird mein Unbe­flecktes Herz triumphieren. Der heilige Vater wird mir Russland weihen, das sich bekehren wird, und eine Zeit des Friedens wird der Welt ge­schenkt werden. In Portugal wird sich immer das Dogma des Glau­bens erhalten etc… Davon sagt niemandem etwas; Francisco könnt ihr es mitteilen.
Wenn ihr den Rosenkranz betet, dann sagt nach jedem Gesetz: O mein Jesus, verzeihe uns unsere Sünden; bewahre uns vor dem Feuer der Hölle, führe alle Seelen in den Himmel, besonders jene, die Deiner Barmherzigkeit am meisten bedürfen.“ (L 151 und 153)

Die drei Geheimnisse von Fátima

Diese Botschaften vom 13. Juli 1917 enthalten auch die sogenannten drei Geheimnisse von Fátima: 1. Vision der Hölle, 2. Voraussage des 2. Weltkrieges, der Bekehrung Russlands und der Weihe der Welt an das Unbefleckte Herz Mariens, sowie das 3. Geheimnis, das lange  geheim gehalten wurde, weil darin von einem Attentat auf den Papst die Rede ist. Bevor nämlich Lucia den versiegelten Umschlag, der den dritten Teil des Geheimnisses enthält, dem damaligen Bischof von Leiria-Fátima übergab, hatte sie in eigener Entscheidung auf den äußeren Umschlag geschrieben, dass dieser erst nach 1960 entweder vom Patriarchen von Lissabon oder vom Bischof von Leiria geöffnet werden dürfe, weil man es vorher nicht verstehen würde.
Auch Johannes XXIII. und Paul VI. gaben die Veröffentlichung nicht frei. Johannes Paul II. ließ sich nach dem Attentat vom 13. Mai 1981 den im Heiligen Offizium aufbewahrten Text zukommen und dachte sofort daran, die Welt dem Unbefleckten Herzen Mariens zu weihen, was am 7. Juni 1981, dem Pfingstfest, im Gedenken an die 1600 Jahre nach dem ersten Konzil von Konstantinopel und 1550 Jahre nach dem Konzil von Ephesus in der Basilika Santa Maria Maggiore in Rom in Abwesenheit des Papstes vollzogen wurde.
Ein Jahr später, am 13. Mai 1982, wurde diese  Weihe von Papst Johannes Paul II.  in Fátima persönlich wiederholt. Am 25. März 1984 erfolgte schließlich die Weihe aller Menschen und Völker an das Unbefleckte Herz Mariens.
Den dritten Teil des Geheimnisses beschreibt Lucia mit folgenden Worten:
„Nach den zwei Teilen, die ich schon dargestellt habe6, haben wir links von Unserer Lieben Frau etwas oberhalb einen Engel gesehen, der ein Feuerschwert in der linken Hand hielt; es sprühte Funken und Flammen gingen von ihm aus, als sollten sie die Welt anzünden; doch die Flammen verlöschten, als sie mit dem Glanz in Berührung kamen, den Unsere Liebe Frau von ihrer rechten Hand auf ihn ausströmte: den Engel, der mit der rechten Hand auf die Erde zeigte und mit lauter Stimme rief: Buße, Buße, Buße! Und wir sahen in einem ungeheuren Licht, das Gott ist: ‚etwas, das aussieht wie Personen in einem Spiegel, wenn sie davor vorübergehen, einen in Weiß gekleideten Bischof‚ wir hatten die Ahnung, dass es der Heilige Vater war‘ (Abb. 18). Verschiedene andere Bischöfe, Priester, Ordensmänner und Ordensfrauen sah man einen steilen Berg hinaufsteigen, auf dessen Gipfel sich ein großes Kreuz befand, aus rohen Stämmen wie aus Korkeiche mit Rinde. Bevor er dort ankam, ging der Heilige Vater durch eine große Stadt, die halb zerstört war, und halb zitternd mit wankendem Schritt, von Schmerz und Sorge gedrückt, betete er für die Seelen der Leichen, denen er auf seinem Weg begegnete.

Abb. 18: Kreuzberg mit Papst, Vision bei der 3. Erscheinung, Gemälde in Fátima

Am Berg angekommen, kniete er zu Füßen des großen Kreuzes nieder. Da wurde er von einer Gruppe von Soldaten getötet, die mit Feuerwaffen und Pfeilen auf ihn schossen. Genauso starben nach und nach die Bischöfe, Priester, Ordensleute und verschiedene weltliche Personen, Männer und Frauen unterschiedlicher Klassen und Positionen. Unter den beiden Armen des Kreuzes waren zwei Engel, ein jeder hatte eine Gießkanne aus Kristall in der Hand. Darin sammelten sie das Blut der Märtyrer auf und tränkten damit die Seelen, die sich Gott näherten. Tuy-3-1-1944.“6
Johannes Paul II. hat dieses Attentat auf sich bezogen. Er starb nur deshalb nicht, weil Maria die Kugel so gelenkt habe, dass sie nicht tödlich war.
Am Ende der Erscheinung erhob sich die Dame in gewohnter Weise in östlicher Richtung, bis sie in der unendlichen Ferne des Firmaments verschwand.
So enthält die Botschaft dieser dritten Erscheinung neben den drei genannten Voraussagen auch einen eindringlichen Aufruf  zur Bekehrung.

Vierte Erscheinung, 19. August 1917

Bereits  am Vorabend des 13. August kamen Leute von allen Seiten zum Erscheinungsort und bedrängten dann am darauffolgenden Morgen die Seher mit tausend Fragen. Mitten im diesem Gedränge wurde der Vater von Lucia aufgefordert, sie zum Haus ihrer Tante zu Francisco und Jacinta zu bringen. Inzwischen fingen nämlich auch die Tagesblätter an, sich für die Erscheinungen zu interessieren, und klagten die Verantwortlichen an, weil sie das „Narrenspiel von Cova da Iria“ nicht stoppen konnten. Der Verwalter von Vila Nova de Ourém fühlte sich persönlich angegriffen und dachte, dem Ganzen mit List ein Ende setzen zu können. Er ließ die Seher unter dem Vorwand zusammenkommen, sie zum Erscheinungsort zu führen. Er lud sie ein, in seinem Wagen Platz zu nehmen, fuhr dann jedoch nicht in Richtung Cova da Iria, sondern zum Kreisgebiet Vila Nova de Ourém. Dort versuchte er, die Kinder zusammen und einzeln zu verhören. Mit Quälereien und schließlich unter Drohungen, sie in einem Kessel mit siedendem Öl zu braten, wollte er ihnen das Versprechen abringen, nicht mehr zur Cova da Iria zu gehen und zuzugeben, dass alles von ihnen erfunden sei. Da er damit nichts erreichte, wurden sie vorerst ins Pfarrhaus und anschließend ins Gefängnis gebracht. Dabei war das Getrenntsein von den Eltern der größte Schmerz. Jacinta weinte, weil sie Angst hatte, sterben zu müssen, ohne die Eltern wiederzusehen. Am 18. August konnten sie das Gefängnis von Vila Nova de Ourém schließlich wieder verlassen.
Die für den 13. August  anberaumte Erscheinung erfolgte daraufhin am 19. August, wie Lucia berichtet:
„Als ich mit Francisco und seinem Bruder Johannes die Schafe an einen Ort trieb, der Valinhos heißt und etwas Übernatürliches verspürte, das sich näherte und uns umhüllte, ahnte ich, dass Unsere Liebe Frau uns erscheinen würde, und es tat mir leid, dass Jacinta sie nicht sehen konnte; ich bat daher ihren Bruder Johannes, sie zu holen. Da er nicht gehen wollte, bot ich ihm dafür 20 Cent an, da lief er schon. In­zwischen sah ich mit Francisco den Lichtschein, den wir Blitz nannten. Nach Jacintas Ankunft erblickten wir kurz darauf Unsere Liebe Frau über einer Steineiche.“
Lucia fragte, was Sie wünsche. Die Dame erwiderte:
„Ich will, dass ihr am Dreizehnten zur Cova da Iria kommt und dass ihr weiterhin täglich den Rosenkranz betet; ich werde im letzten Monat ein Wunder wirken, damit alle glauben.“
Lucia fragte weiter, was sie denn mit dem Geld machen sollten, das die Leute in der Cova da Iria ließen, worauf die Dame antwortete:
„Man soll zwei Traggestelle anfertigen lassen: Du wirst mit Jacinta und zwei weißgekleideten Mädchen das eine tragen, Francisco mit drei Jungen das andere. Das Geld auf den Gestellen ist für das Fest Unserer Lieben Frau vom Rosenkranz bestimmt, der Rest für die Kapelle, die man errichten wird.“
Lucia bat auch um die Heilung einiger Kranker, worauf die Dame sagte:
„Ja, ich werde im Laufe des Jahres einige gesund machen. Betet, betet viel und bringt Opfer für die Sünder, denn viele Seelen kommen in die Hölle, weil sich niemand für sie opfert und für sie betet.“(L 155)
Dann erhob sich die Dame wie gewöhnlich in Richtung Osten.

Fünfte Erscheinung, 13. September 1917

Am 13. September gingen die Seher wieder zur Cova da Iria. Als sich die Stunde der Erscheinung näherte, schreibt Lucia, „ging ich mit Jacinta und Francisco zwi­schen zahlreichen Personen hindurch, die uns kaum vorbeiließen. Die Wege waren voll von Leuten: alle wollten uns sehen und mit uns sprechen. Es gab dort keine Menschenfurcht. Zahlreiche Leute, sogar vornehme Damen und Herren, drängten sich durch die Menge hindurch, die uns umgab. Sie warfen sich vor uns auf Knie und baten uns, Un­serer Lieben Frau ihr Anliegen vorzutragen. Andere, die nicht bis zu uns gelangen konnten, riefen von weitem: ‚Um der Liebe Gottes willen, bittet Unsere Liebe Frau, sie möge meinen verkrüppelten Sohn heilen‘, ein anderer rief: ‚Sie möge mein blindes Kind heilen‘; wie­der  ein anderer: ‚und das meine, das taub ist‘; ‚sie möge meinen Mann und meinen Sohn aus dem Krieg heimbringen‘;‚sie möge mir einen Sünder bekehren‘, ‚sie möge mich von der Tuberkulose heilen‘ usw. usw.
Dort zeigte sich all das Elend der armen Menschheit, und einige riefen von den Bäumen und Mauern herab, auf die sie gestiegen waren, um uns vorbeigehen zu sehen. Indem wir es einigen versprachen und an­deren die Hände reichten, um ihnen vom Boden aufzuhelfen, gingen wir weiter mit Hilfe einiger Männer, die uns einen Durchgang durch die Menge bahnten.“
Schließlich kamen sie in der Cova da Iria bei der Steineiche an und begannen mit dem Volk den Rosenkranz zu beten. Kurz darauf sahen sie den Lichtschein und danach die weiße Dame über der Steineiche, die aufrief, weiterhin den Rosenkranz zu beten, um das Ende des Krieges herbeizuführen. Sie fügte hinzu:
„Im Oktober wird auch Unser Herr kommen, Unsere Liebe Frau von den Schmerzen und vom Karmel, der Heilige Josef mit dem Jesuskind, um die Welt zu segnen.“ (L 157-158)
Lucia bat wiederum um die Heilung verschiedener Krankheiten, worauf die Dame antwortete:
„Ja; einige werde ich heilen, andere nicht. Im Oktober werde ich das Wunder wirken, damit alle glauben.“ (L 157-158)
Dann begann sie sich zu erheben und verschwand wie gewöhnlich.

Sechste Erscheinung, 13. Oktober 1917

Am 13. Oktober 1917 verließen die Seher schon ziemlich früh das Haus, da sie mit Verzögerungen auf dem Weg rechneten. Das Volk kam in Massen. Es regnete in Strö­men (Abb. 19-20). Nicht einmal der Schlamm auf den Wegen konnte die Leute davon abhalten, sich niederzuknien. Die Zahl der Teilnehmer wird meist mit 70.000 angegeben. Andere sprechen von 100.000 und mehr.

Abb. 19: Cova da Iria, 23. Oktober 1917, Massenansammlung, Foto in Fátima

Als sie in der Cova da Iria bei der Steineiche ankamen, bat Lucia, einer inneren Eingebung folgend, das Volk, die Regenschirme zu schließen, um den Rosenkranz zu beten. Kurz darauf sahen die Seher den Lichtschein und die weiße Dame über der Steineiche.

Abb. 20: Cova da Iria, 13. Oktober 2017, bei strömendem Regen, Foto in Fátima

Auf Lucias Frage, was sie denn wünsche, antwortete die Dame:
„Ich möchte dir sagen, dass hier eine Kapelle zu meiner Ehre ge­baut werden soll; ich bin Unsere Liebe Frau vom Rosenkranz; man soll weiterhin täglich den Rosenkranz beten. Der Krieg geht zu Ende, und die Soldaten werden in Kürze nach Hause zurückkehren.“
Lucia bat noch um die Heilung einiger Kranker und die Bekehrung einiger Sünder.
Unsere Liebe Frau antwortete:
„Einige ja, andere nicht. Sie müssen sich bessern und um Vergebung ihrer Sünden bitten.“ (L 158)
Dann öffnete sie die Hände und ließ sie im Sonnenschein erstrahlen; während sich die Dame erhob, strahlte ihr eigenes Licht von der Sonne wider.
Nachdem Unsere Liebe Frau in der unendlichen Ferne des Firmaments verschwunden war, erblickten die Seher, wie Lucia weiter ausführt, „zur Seite der Sonne den heiligen Josef mit dem Jesuskind und Unsere Liebe Frau in Weiß gekleidet mit einem blauen Mantel. Der heilige Josef mit dem Jesuskind schien die Welt mit einer Handbewegung in Kreuzesform zu segnen. Kurz darauf verschwand diese Erscheinung; dann sahen wir Unseren Herrn und Unsere Liebe Frau; ich hatte den Eindruck, es sei Unsere Liebe Frau von den Schmerzen. Unser Herr schien die Welt in der gleichen Weise zu segnen wie der heilige Josef. Diese Erscheinung verschwand, und ich meine wohl, dass ich auch noch Unsere Liebe Frau vom Karmel gesehen habe.“ (L 159)

Das Sonnenwunder

Das Wunder war für 12 Uhr angesagt, in Portugal wegen der kriegsbedingten Sommerzeit 13.30 Uhr. Darüber informiert der wohl präziseste Augenzeugenbericht des Naturwissenschaftlers Prof. Dr. José Maria de Almeida Garrett von der Universität von Coimbra:
„Es muss etwa 1.30 Uhr gesetzlicher Zeit und 12.00 Uhr nach dem Sonnenstand gewesen sein, als sich an der Stelle, an der sich die Kinder befanden, eine feine, schlanke, bläuliche Rauchsäule in etwa 1,80 Metern über ihren Köpfen erhob und auf ihrer Höhe endete. Dieses Phänomen, das mit bloßem Auge klar zu erkennen war, dauerte einige Sekunden. Da ich nicht auf die Uhr schaute, kann ich nicht mit Sicherheit sagen, ob es länger oder kürzer als eine Minute dauerte. Der Rauch verschwand plötzlich, um ein paar Augenblicke später zum zweiten und dritten Mal aufzutauchen.
Plötzlich hörte ich Schreie aus tausenden von Kehlen, und ich sah, wie sich die Menge von dem Punkt, dem bis jetzt ihre Aufmerksamkeit gegolten hatte, abwandte und in entgegengesetzter Richtung zum Himmel aufschaute (Abb. 21)… Wenige Augenblicke vorher hatte die Sonne die dichte Wolkendecke, hinter der sie sich bisher verborgen hatte, durch­brochen und schien klar und intensiv. Ich folgte mit meinem Blick all jenen Augenpaaren und sah die Sonne als Scheibe, klar umrissen, strahlend, leuchtend, ohne dem Auge weh zu tun.

Abb. 21: Sonnenwunder, Menschen starren in den Himmel, Foto in Fátima

Abb. 22: Menschen schauen direkt in die Sonne, Foto in Fátima

Ich stimmte mit dem Vergleich, den ich in Fátima hörte, wonach die Sonne wie eine matte Scheibe aus Silber aussah, nicht überein. Die Farbe war klarer, intensiver, leuchtender, sie hatte etwas vom Glanz einer Perle. Sie glich auch durchaus nicht dem Mond in einer klaren Nacht. Man spürte, dass sie ein lebender Körper war. Sie war weder sphärisch wie der Mond noch hatte sie die gleiche Farbe, den gleichen Ton oder die gleiche Schattierung. Sie sah aus wie ein glänzendes Rad aus Perlmutt. Man kann auch nicht sagen, dass man die Sonne durch Nebel sah (denn es gab keinen Nebel zu dieser Zeit).
Bezeichnungen wie undurchsichtig, diffus oder verschleiert treffen auch nicht zu. Sie spendete Fátima Licht und Hitze und erschien in klaren Konturen mit deutlich sichtbarem Rand. Der Himmel war übersät von hellen Zirruswölkchen, die hie und da die Himmelsbläue freigaben, und manchmal stand die Sonne ganz auf blauem Hinter­grund. Die Wolken zogen von West nach Ost, aber sie verdunkelten das Licht der Sonne nicht. Man gewann den Eindruck, als wanderten sie hinter der Sonne vorbei, obgleich sie sich manchmal rosa getönt oder durchsichtig blau zeigten, als sie an der Sonne vorbeizogen. Es ist bemerkenswert, dass man seine Augen auf diesen Glutofen und sein Licht richten konnte, ohne Schmerz zu empfinden, mit Ausnahme von zwei Unterbrechungen, als die Sonne leuchtende Hitzestrahlen aus­sandte, die uns zwangen, den Blick abzuwenden (Abb. 22 und 23). Das Phänomen dau­erte zirka 10 Minuten.

Abb. 23: Sonnenwunder: Menschen schauen direkt in die Sonne, Foto in Fátima

Die Sonnenscheibe blieb aber nicht ruhig am Himmel stehen, sie sandte nicht das Licht eines Himmelskörpers aus, sondern drehte sich in irrem Wirbel um sich selbst. Plötzlich ertönten Angstschreie aus der Menge. Die Sonne schien sich, wild drehend, vom Firmament zu lösen und auf die Erde zu stürzen, als wollte sie uns mit ihrer gigantischen Glut vernichten. Das Gefühl während dieser Augenblicke war entsetz­lich (Abb. 24).

Abb. 24: Sonnenwunder, Polizist hält die verängstigte Jacinta im Arm, Foto in Fátima

Während des Sonnenphänomens, das ich jetzt in allen Einzelheiten beschrieben habe, wechselten die Farben in der Atmosphäre. Als ich zur Sonne schaute, stellte ich fest, dass sich rings um mich alles ver­dunkelt hatte. Ich richtete meine Augen zuerst auf die nächstgelegenen Objekte und dann weiter bis zum Horizont. Alle Gegenstände rings um mich hatten die Farbe von Amethysten angenommen. Eine Eiche neben mir warf einen Schatten in dieser Farbe auf die Erde.
Ich fürchtete, meine Netzhaut habe Schaden genommen, allerdings eine unwahrscheinliche Erklärung, denn in diesem Falle sähe man ja nicht alles purpurn gefärbt. Ich schloss die Augen und bedeckte sie mit den Händen, um den Lichteinfall zu unterbrechen. Nun stellte ich mich mit dem Rücken zur Sonne und öffnete die Augen. Die Land­schaft hatte jedoch die purpurne Farbe wie zuvor – eine Sonnenfin­sternis war das aber auch nicht! Während ich noch zur Sonne schaute, stellte ich fest, dass die Atmosphäre wieder klar geworden war. Kurz darauf hörte ich einen Bauern in meiner Nähe erstaunt ausrufen: Seht, diese Frau ist ganz gelb! Und wirklich, alles rings um mich, nah und fern, sah aus wie alter, gelber Damast. Die Leute sahen aus, als hätten sie die Gelbsucht, und ich erinnere mich noch, dass es mich etwas amüsierte, sie so wenig attraktiv zu sehen. Meine Hand hatte die gleiche Farbe. Dieses von mir hier beschriebene Phänomen habe ich in gesunder geistiger Verfassung und ohne emotionale Störungen erlebt. Ich überlasse es anderen, dies alles zu erklären.“7
Nach dem Sonnenwunder verweilten die Anwesenden in benommener Stille (Abb. 25).

Abb. 25: Besinnliches Verweilen nach dem Sonnenwunder

FÁTIMA NACH DEN ERSCHEINUNGEN BIS HEUTE

Über das Geschehen von Fátima nach den Erscheinungen sprach ich mit P. Ludwig Kondor SVD (1928-2009, Abb. 26), dem einst weltweit besten Kenner von Fátima, der zudem auch als großer Gestalter der  Entwicklung von Fátima und seiner Ausstrahlung bis heute gilt. Kondor errichtete 1963 das Büro „Secretariado dos Pastorinhos“, das als „Büro der Hirtenkinder“ bekannt wurde, und gab von da an einen Newsletter in sieben Sprachen mit Informationen über Fátima heraus. Zudem ließ er unter Anleitung von Schwester Lucia von einer Malerin, ebenfalls Karmelitin, die Szenen der Erscheinungen nachmalen.

Abb. 26: P. Luis Kondor SVD und P. Andreas Resch CSsR

Als Postulator der Seherkinder Francisco und Jacinta leitete er das Seligsprechungsverfahren bis zu deren Seligsprechung im Jahre 2000 durch Papst Johannes Paul II.

Die Weihe der Welt an das Unbefleckte Herz Mariens

Im Marianischen Jahr 1950 wurde auf dem Platz vor der Basilika in Fátima vom päpstlichen Delegaten, Kardinal Todeschini, bekannt gegeben, dass nicht nur die Pilger 1917 das Sonnenwunder gesehen haben, sondern auch Pius XII., vor der Verkündigung des Dogmas von der Aufnahme Marias mit Leib und Seele in den Himmel, am 1. November 1950.
Gott wollte, nach Kondor, die Botschaft von Fátima durch Pius XII. dadurch bestätigen, dass dieser das Sonnenwunder von Fátima im Vatikanischen Garten sehen durfte, und zwar dreimal.

Abb. 27: Lucia dos Santos und Papst Johannes Paul II., 1982

Für Papst Johannes Paul II. war das Attentat auf ihn am 13. Mai 1981 eine Mahnung, auf Fátima zu schauen. Er verfasste dann den Text zur Weihe der Welt an das Unbefleckte Herz Mariens und nahm schließlich 1982 die Weihe in Fátima persönlich vor, wo er auch die Seherin Lucia dos Santos traf (Abb. 27). So kam Fátima durch die Kirche in die Öffentlichkeit.

Die Botschaft von Fátima und Russland

Wichtig war für Kondor die spezielle Aussage Marias: „Russland verbreitet seine Irrlehren, aber Russland wird sich zum Schluss bekehren.“ Kondor verfolgte diese Sache sehr genau und mit Schwester Lucia. Ebenso sprach er mit Kardinälen darüber. Auch der Papst fragte sich: Wann wird das geschehen? Man wusste, dass die Voraussetzung dafür die Weihe Russlands an das Unbefleckte Herz Marias war.
Die Weihe wurde ja 1917 vorausgesagt. Damals sagte die Erscheinung: „Ich komme wieder.“ Sie kam 1929. Lucia schrieb an Papst Pius XII. Dieser versuchte die Weihe vorzunehmen, allein während des Zweiten Weltkrieges fehlten die Bischöfe. Dann kam das II. Vatikanische Konzil. Kondor war mit dem Bischof dabei und hatte die Aufgabe, diese Forderung Marias in Rom unter den Bischöfen bekannt zu machen. Sie erklärten sich bereit und trugen die Bitte direkt an den Papst heran.
In ihrem Büchlein [Wie sehe ich die Botschaft…8] schreibt Lucia, dass sich Gorbatschow, der Chef der Kommunistischen Partei Russlands, am 1. Dezember 1990 zum Papst begab. Und Gorbatschow, so Schwester Lucia, bat den Papst um Entschuldigung und Verzeihung für das, was er und seine Partei gegen ihn und die Kirche gemacht hatten. Kondor fügt hinzu: „Ich wollte diese Sachen natürlich veröffentlichen, wurde jedoch ermahnt, dies nicht zu tun, denn ich habe das aus dem Tagebuch des Papstes erfahren.“

(GW) 66 (2017) 2, 127-156

Anmerkungen:
1 Schwester Lucia spricht über Fatima (31977). Im Verlauf des Textes zitiert mit L und Seitenzahl.
2 A. Resch: Veränderte Bewusstseinszustände (1990), S. 135-163.
3 Es handelt sich um das Nordlicht am 25. Januar 1938, das außergewöhnlich war und von Lucia stets für das vom Himmel versprochene Zeichen gehalten wurde.
4 L, Anhang 1, S. 176-182.
5 L, Anhang 2, S. 182-183.
6 Nach: M. Hesemann: Geheimsache Fatima (1997), S. 68-70.
7 Kongregation für die Glaubenslehre: Die Botschaft von Fatima (2000).
8 Maria Lucia: Wie sehe ich die Botschaft durch die Zeit und durch die Ereignisse? (2006).
Literatur:
Hesemann, Michael: Geheimsache Fátima. Vom Vatikan verschwiegen: Was offenbarte die Gottesmutter über die Zukunft der Menschheit? München: Bettendorf, 1997.
Kongregation für die Glaubenslehre: Die Botschaft von Fátima. Grenzgebiete der Wissenschaft 49 (2000) 3, 195-224.
Maria Lucia: Wie sehe ich die Botschaft durch die Zeit und durch die Ereignisse? Fátima: Carmelo de Coimbra, Secretariado dos Pastorinhos, 2006.
Resch, Andreas: Veränderte Bewusstseinszustände, in: Ders.: Veränderte Bewusstseinszustände: Träume – Trance – Ekstase. Innsbruck: Resch, 1990, S. 135-163.
Schwester Lucia spricht über Fátima. Erinnerungen der Schwester Lucia. Fátima: Postulação, 31977.