Andreas Resch: Mantik

[responsivevoice_button voice=“Deutsch Female“ buttontext=“vorlesen“]

MANTIK

 1. Begriff und Weltbild

a) Begriff

Mantik (vom griech. mantiké; lat. divinatio), Wahrsagekunst bzw. die Weissagekunst oder Zukunftsschau, besteht in der Kunst oder Praxis des Voraussehens oder des Voraussagens zukünftiger Ereignisse, der Aufdeckung verborgenen oder geheimen Wissens und der direkten oder indirekten Anwendung dieser Kenntnisse unter Einsatz bestimmter Techniken und Riten.1 (Abb. 1)
„Sprachlich besteht ein Zusammenhang von mantiké (Mantik) und meinomai (rasen, verzückt sein), womit der ekstatische Zustand, die „Raserei“, das „Außer-sich-sein“ des Wahrsagers, zum Ausdruck kommt, der ihn in die Lage versetzt, Dinge zu verkünden, die außerhalb der normalen Erkenntnismöglichkeit liegen. Mantik ist nämlich eine Gabe, die zwar jeder Mensch besitzt, weil seine Seele etwas Mantisches ist (mantikon ti)“2, doch kommt diese Fähigkeit der Seele nicht aus ihr selbst, sondern wird ihr von Göttern oder höheren Wesen (Engel, Dämonen, Geister) gegeben, ist doch die mantische Gabe ein Göttergeschenk.3 Diese Gabe kann grundsätzlich allen zuteil werden, doch besitzen in Wirklichkeit nur jene Personen die mantische Fähigkeit der Seele in besonders hohem Grad, die von den Göttern selbst oder von berühmten Sehern abstammen bzw. durch Frömmigkeit oder durch besonderen Lebenswandel die Gunst der Götter genießen. Hierzu gehören vor allem die Priester und Priesterinnen und all jene, die durch Beachtung bestimmter Speise- und Reinheitsgebote, durch Askese und Studium des Göttlichen, des

Abb. 1: Michael NOSTRADAMUS (1505-1566), nach französischem Holzschnitt, 16. Jh.

Metaphysischen und Jenseitigen sowie durch strenge Einhaltung der Kultvorschriften ihre Seele für die Wahrnehmung der Götter und ihrer Ratschlüsse empfänglich machen. Diese Personen verstehen auch die andeutenden Zeichen der Götter zu erfassen und richtig zu deuten.
„Gottheit und Zukunft können sich zwar überall und jederzeit offenbaren, doch geschieht dies mehr an bestimmten Orten, zu bestimmten Zeiten und unter bestimmten Voraussetzungen. Zudem erfolgt die Offenbarung der Götter nicht oft, so daß die Menschen die Offenbarung durch bestimmte Mittel erflehen, ja geradezu erzwingen müssen. Dies führt immer mehr zur Formung eines eigenen Standes, des Opferschauers, des Traum-, Vogel-und Zeichendeuters, des Orakelpriesters, des Sehers (mantis), die dem Laien die Segnungen der Mantik vermitteln. Schließlich offenbaren die Zukunft nicht nur die Götter, sondern auch die Zwischenwesen der Engel und Dämonen sowie die Seelen der Toten, deren mantische Kraft nach der Trennung vom Leibe außerordentlich erstarkt.“4
Hierbei ist geschichtlich gesehen von besonderem Interesse, dass die angeführten allgemeinen Aussagen über Wesen, Voraussetzungen und Erscheinungsformen der Mantik für die Kulturen aller Zeiten gelten. Vergleicht man nämlich CICEROs Schrift „De divinatione“ mit der 300 Jahre früher entstandenen Schrift „Peri mysterion“ des JAMBLICHOS und mit den heutigen Vorstellungen und Formen der Mantik, so kann man feststellen, dass die genannten Eigenheiten der Mantik seit den ältesten Zeiten bis heute im wesentlichen unverändert geblieben sind: besondere Gabe und veränderter Bewusstseinszustand. Auf geschichtliche Einzelheiten kann hier nur verwiesen werden, zumal es in diesem Beitrag um das Weltbild der Mantik geht.

b) Weltbild

Das Weltbild der Mantik besteht in der Vorstellung, dass die Gesamtwirklichkeit aus einem Organismus bestehe, in dem alles räumlich und zeitlich, zwar nicht streng mechanisch, doch im Bezug zum Ganzen zusammenhängt. So ist es im Prinzip möglich, aus jedem und allem verborgene Dinge zu erkennen, wobei an gewissen Stellen das Verborgene deutlicher zu erfassen ist.

2. Formen

Was die einzelnen Formen der Wahrsagung betrifft, „so kann man zwischen intuitiver, induktiver und künstlicher Mantik unterscheiden. Bereits CICERO hat in Anlehnung an POSEIDONIUS die Mantik mit dem Dasein Gottes, dem Fatum und der Natur begründet und zwischen natürlicher (göttlicher) und künstlicher Mantik unterschieden.

a) Intuitive Mantik

Bei der intuitiven Mantik werden dem Menschen die Kenntnisse im Zustand der Ekstase, des Traumes oder durch Inspiration unmittelbar im Innern bewusst. Dabei werden Ekstase, Träume und Inspirationen durch das Ausströmen des göttlichen Geistes in die mit ihm wesensverwandte menschliche Seele hervorgerufen. Den Ausgang nimmt der Geist von Gott selbst. Wenn dieser göttliche Geist den Menschen in überwältigender Stärke ergreift, gerät er in ekstatische Verzückung und ist wie besessen. Er verliert das Eigenbewusstsein, spricht Worte, ohne sich ihres Inhaltes bewusst zu sein. Der Sprechende ist nämlich Gott selbst. Der Ekstatiker steuert nur seine Sprechwerkzeuge und sein Sprechvermögen als äußeres Ausdrucksmittel bei. Zudem ist der Ekstatiker in diesem Zustand für jede Sinnesempfindung, auch für das Gehör, zum Teil bzw. vollkommen unempfindlich. Weicht dann der Geist vom „Besessenen“, fällt dieser für gewöhnlich in einen Zustand völliger Erschöpfung.

Abb. 2: Eingeweideschau

b) Induktive Mantik

Die induktive Mantik besteht darin, dass der Mensch nicht intuitiv und unmittelbar durch innere Wahrnehmung einer göttlichen Inspiration, sondern mittelbar durch Schlussfolgerung und Kombination die Zukunft aufgrund von Zeichen an Dingen und Vorgängen der Außenwelt zu erkennen sucht, die zwar in ihrer Eigenart göttlich bestimmt sein können, das Erfassen durch den Menschen erfolgt aber auf dem Weg der Deutung und Schlussfassung. Hierzu gehören alle Deutungsformen von Naturerscheinungen und Naturprozessen wie“5:
Aeromantie: Deutung aus Luft und Wolken
Astromantie und Astrologie: Deutung der Sternbilder
Biomantie: Vorhersagen der Lebensdauer, z. B. durch Handlesen
Cephalomantie: Deutung der Kopfbewegung eines Tieres
Hepatomantie: Leberschau (Abb. 2)
Hippomantie: Deutung des Gewiehers eines gottgeweihten Pferdes
Hydromantie: Wasserschau
Kraniomantie: Schädelweissagung
Nekromantie: Totenorakel
Orneo- oder Ornitomantie: Vogelschau, das antike Augurium
usw.

c) Künstliche Mantik

Zur künstlichen Mantik zählen alle magischen Handlungen und die damit verbundenen Deutungen zur Entschlüsselung des Verborgenen und der Zukunft.
Im Gegensatz zur intuitiven und induktiven Mantik, wo der Mensch inspiriert wird bzw. Naturgegebenheiten deutet, wird in der künstlichen Mantik der Deutungsgegenstand selbst erstellt.
Zu dieser Form der Mantik gehören unter anderem:
Delomantie: Pfeilorakel
Coscinomantie: Sieborakel
Daktylomantie: Ringweissagung
Daphnomantie: Lorberweissagung
Gastromantie: Anleuchten von wassergefüllten Gläsern
I Ging: Orakelbefragung
Kartomantie: Kartenlesen (Abb. 3)

Abb. 3: Kartenlesen. Gemälde von Alexej Venetsianov, 19.Jh.

Keromantie: Wachstropfendeutung
Kristallomantie: Kristallsehen
Kybomantie: Würfelweissagung
Numerologie: Zahlendeutung
Ooskopie: Eierschau
Plumbomantie: Bleigießen
Rabdomantie: Rutengehen, Losen mit Holzstäbchen
Rhapsodomantie: Weissagen aus Versen
Runendeutung
Schicksalstafeln
Tischchenrücken
Glasrücken
Oui-ja-board
Tarot
usw.

3. Schlussbemerkung

Wissenschaftlich gesehen konnten nur für kleine Teilbereiche der Mantik (Ekstasen, Träume, Wünschelrute, Pendel, Astrologie) gewisse Einflüsse gefunden werden, so dass von blindem Vertrauen auch deshalb abzuraten ist, weil sich nur zu leicht ein Vollzugszwang mit entsprechenden psychischen Folgen einstellt.

 

Anmerkungen:
1 N. L. THOMASIUS: Tryphonius sive Dialogus de divinatione, Venet. 1524
2 PLATON: Phaidr. 242 c. 20
3 CICERO: De divinatione I 6. II 63; PLATON: Phaidr. 242 c. 20
4 Resch, A,: Mantik (1990), Sp. 620
5. Ders., ebd.; A. T. MANN: Prophezeihungen zuR Jahrttausendwende (1993); A. BOUCHE-LECLERCQ: Histoire de la divination dan l’antiquité (1878-18882)