Andreas Resch: Schamanismus

SCHAMANISMUS

Die ursprünglichste spezielle Ausdeutung und Anwendung der magischen Weltbilder dürfte der Schamanismus sein, eine dem magischen Weltbild entstammende Praxis und Deutung des Lebens. So wird Schamanismus auch als Familie von Traditionen bezeichnet, „deren Ausübende sich darauf konzentrieren, willentlich in veränderte Bewusstseinszustände einzutreten; in diesen Bewusstseinszuständen haben sie das Empfinden, dass sie selbst (oder ihre Geister) nach Belieben in fremde Reiche reisen und mit anderen Wesenheiten interagieren, um ihrer Gemeinschaft zu dienen.“1

Das Wort „Schamane“ kommt von shaman der ostsibirischen Tungusen in der Bedeutung von „verrückt“, „anheizen“, „verbrennen“ bzw. vom sanskritischen shramana in der Bedeutung von „sich abmühen“. Vor allem die Begriffe „verrückt“ und „abmühen“ kennzeichnen ganz treffend den Lebensweg des Schamanen.

1. Berufung

Wenngleich bei manchen Stämmen das Schamanentum in der Familie erblich ist, bei anderen eine Erwählung aufgrund besonderer Merkmale erfolgt bzw. in manchen Gebieten, wie z.B. in Nordamerika, direkt angestrebt wird, ist die direkt durch die Götter erfolgte Berufung als besondere Auserwählung zu bezeichnen. In allen Fällen ist der Weg zum Schamanen voller Prüfungen und Entscheidungen.

Abb. 1: Schamane

Der Schamane sträubt sich oft jahrelang gegen seine Berufung. Phasen geistiger Verwirrung, Krankheiten, tiefe Depressionen überfallen ihn. Die eigentliche Initiation beginnt meistens mit einem Scheitern in der äußeren Orientierung durch das Erfasstwerden von einer inneren Erlebniswelt. Der Schamane identifiziert sich mit Tieren, Krankheiten, Geistern, durchfliegt Kosmos, Himmel und Unterwelten, steht in Verbindung mit den Toten und dem Jenseits, erfährt, wie er zerstückelt und aufgefressen wird. Er gelangt durch den eigenen Tod, den Tod des Ichs, zur neuen Identität des Selbst, die in der Sensibilität von Leib und Seele für die Geisterwelt zum Ausdruck kommt. (Abb. 1) Diese Identitätsfindung kann durch eine Lehrzeit von wenigen Tagen bis zu Jahren vertieft werden. Nach CHUANG TSU, einem der bedeutendsten Taoisten, hat der Adept folgenden Weg zu beschreiten:

„Erst gewinne Herrschaft über den Leib mit all seinen Organen.
Dann herrsche über die Seele.
Erlange das Ausgerichtetsein auf einen Punkt.
Dann wird die Harmonie des Himmels herabkommen und in dir wohnen.
Du wirst vor Leben strahlen.
Du wirst im Tao ruhen.“2

2. Die Welt des Schamanen

Will man die Erfahrungen des Schamanen verstehen, muss man sein Weltbild kennen.
Die Welt des Schamanen ist in drei Ebenen gegliedert, einer unteren, einer mittleren und einer oberen Welt:

– Die Unterwelt ist der Hort der Toten und Dämonen. Zur ihr gelangt man durch einen Tunnel aus der mittleren Welt.
– Die mittlere Welt stellt die alltägliche Welt dar.
– Die Oberwelt ist der Himmel.

Ober- und Unterwelt sind durch zahlreiche Schichten gegliedert. Die drei genannten Welten stehen durch eine Mittelachse miteinander in Verbindung. (Abb. 2) Diese Achse gilt als Öffnung oder Kanal, durch den die Götter auf die Erde herabsteigen und die Toten in die unterirdischen Gefilde gelangen. Von den Menschen ist es nur dem Schamanen gegeben, durch diesen Kanal zu wandern. So kann die Seele des sich in Ekstase befindenden Schamanen hinauffliegen und hinabsteigen, was bei seinen Himmel- und Unterweltreisen zum Tragen kommt.

Abb. 2: Das Weltbild des Schamanen

Diese Mittelachse, auch axis mundi, Weltachse, genannt, nimmt drei verschiedene Formen an. Die erste ist der kosmische Berg im Zentrum der Welt. Die zweite ist die „Weltsäule“, die den Himmel trägt. Die dritte ist der symbolträchtige „Weltenbaum“, Sinnbild für Leben, Fruchtbarkeit und heilige Regeneration. Die genannten Welten und Weltebenen des Schamanen sind jedoch nicht nur verbunden, sondern sie stehen auch in einer Wechselwirkung. Nach Ansicht der Schamanen können diese Interaktionen vom Wissenden wahrgenommen, ja sogar beeinflusst werden. Vor allem könne der Schamane wie eine Spinne im Mittelpunkt eines kosmischen Netzes ferne Reiche erfühlen und beeinflussen.

3. Die Tätigkeit des Schamanen

Auf seinen Reisen begleiten den Schamanen Hilfsgeister, oft in Gestalt von Tieren, die ihm helfen, Krankheiten zu erkennen und sie aus Patienten herauszulocken oder herauszutreiben. Auf seinen Seelenreisen spricht der Schamane mit Göttern, Geistern, Tieren und Dingen, mit Verstorbenen und mit Krankheiten. Denn in der Urzeit, in die er zurückkehrt, ist alles lebendig, belebt und ansprechbar.
Das ganze Tun des Schamanen hat eine altruistische Zielsetzung als Mittler zwischen Diesseits und Jenseits, als Anwalt der Seele und des Lebens, das vor negativen Einflüssen zu schützen ist.
So ist der Schamane zugleich Medizinmann, Priester, Totenführer, d.h., er heilt, regelt die öffentlichen Opfer an die Himmelsgötter und geleitet die Seelen der Verstorbenen in das Jenseits. Voraussetzung ist der Eintritt in die Ekstase, d.h. in jenen Zustand, wo der Geist nach Willen den Körper verlassen und weite Reisen zum Himmel, in die Meerestiefen oder in die Unterwelt unternehmen kann.3

Anmerkungen:
1 R. N. Walsch: Der Geist des Schamanismus (1992), S. 23.
2 Nach R. N. Walsch: Der Geist des Schamanismus (1992), S. 23.
3 T. Passie: Schamanismus: eine kommentierte Auswahlbibliographie (1992).