Andreas Resch: Inselbegabungen I

I. ERINNERUNGEN

Inselbegabung, auch Savant-Syndrom genannt (von franz. savoir, wissen), bezeichnet das Phänomen, dass Menschen sowohl bei normaler Entwicklung als auch bei kognitiver Behinderung oder einer anderweitigen (oft tiefgreifenden) Entwicklungsstörung sehr spezielle außergewöhnliche Leistungen in einem kleinen Teilbereich („Inseln“) aufweisen können.

Phänomenbeschreibung

Bis zu 50 Prozent der Inselbegabten sind Autisten. Der Autismus-Forscher Darold A. Treffert machte daher 1989 den Vorschlag, bei den Inselbegabten, den Savants, zwischen erstaunlichen und talentierten zu unterscheiden. Während die erstaunlichen Inselbegabten in einem bestimmten Inselbereich herausragende Fähigkeiten aufweisen, zeigen die talentierten Inselbegabten höchstens durchschnittliche Leistungen, die aber in Bezug auf ihre Behinderung bemerkenswert sind.
Talentierte Inselbegabte
Weltweit sind derzeit ca. 100 Personen bekannt, die man als talentierte Inselbegabte bezeichnen kann. Ihr Intelligenzquotient liegt meist unter 70, kann aber auch durchschnittlich und in einigen Fällen sogar überdurchschnittlich sein. Das Phänomen, um nicht von Krankheit zu sprechen, erregte erst 1988 durch das US-amerikanische Filmdrama Rain Man von Barry Levinson weltweit Aufmerksamkeit. Darin spielt Dustin Hoffman den an einem Savant-Syndrom leidenden Autisten Raymond, der von seinem Bruder Charlie (Tom Cruise) aus einer Klinik auf eine Reise durch die USA mitgenommen wird. Der Film löste breites Interesse an den sog. Inselbegabungen aus, wenngleich das Phänomen schon lange bekannt war. Bereits 1887 führte der englische Neurologe John Landon-Down in seiner Vorlesungsreihe vor der Londoner Medical Society zur Bezeichnung des Phänomens den Begriff „idiot savant“ (wissender Idiot) ein. Der Begriff ist nach heutigen Maßstäben  zwar diskriminierend, beschreibt aber die Thematik besser als die allgemein verwendete Bezeichnung „savant“ (Wissender).
Hier ist der im deutschen Sprachraum verwendete Begriff „Inselbegabter“ zutreffender, wenngleich er nur beschreibend ist. Der schon genannte amerikanische Psychiater und Forscher Darold Treffert spricht von Wundertalenten (prodigious savants). Da, wie gesagt, 50 Prozent der Inselbegabten Autisten sind, ist auch von Autistic Savant oder Savant Autistique die Rede. Die Bezeichnung Savant ist allein schon deshalb irreführend, weil Savant im Französischen schlicht „Wissender“ oder „Gelehrter“ bedeutet und somit die damit zusammenhängende persönliche Problematik unberücksichtigt bleibt.
Da sich die Begriffe Savants und Inselbegabte bereits festgesetzt haben, wollen auch wir, mit den genannten Einschränkungen, bei den gängigen Bezeichnungen bleiben.

Wissensbereiche der Inselbegabungen

Was die Wissensbereiche der Inselbegabungen anbelangt, so handelt es sich dabei vor allem um folgende:
   Außergewöhnliche Erinnerungsvermögen
   Musikalische Begabungen
   Rechnerische Begabungen
   Künstlerische Begabungen
   Sprachliche Begabungen
   Visuelle Begabungen

Ursachen

Hinsichtlich der eigentlichen Ursachen von Inselbegabungen bewegt man sich weiterhin im Ungewissen, zumal die einzelnen Fälle völlig unterschiedlich sind. Kalenderrechner z.B. sind mehrheitlich autistisch veranlagt. Man weiß jedoch bis heute nicht, mit welcher Methode sie arbeiten und aus welcher Quelle sie die Daten beziehen. Man geht davon aus, dass Inselbegabten hirnphysiologisch eine wichtige Filterfunktion fehlt. Worin diese besteht und was gefiltert wird, bleibt offen. Ihre Fertigkeiten sind fast immer angeboren, können aber auch aus einer späteren Hirnschädigung entstehen. Zudem gibt es Fälle, die innerhalb kürzester Zeit eine Fremdsprache lernen, sonst aber völlig „normal“ sind.

Erklärungen

Sucht man nach einer Erklärung für Inselbegabungen, so ist zwischen dem überprüfbaren Können selbst und der Frage zu unterscheiden, warum sie es können.
So weiß man von den Rechenkünstlern unter den Inselbegabten, dass sie nicht rechnen, sondern aus einem nahezu unendlichen Gedächtnisfundus von Zahlen die erforderlichen Elemente ähnlich einer Suchmaschine abrufen. Die abgerufenen Daten sind auch später, etwa in 30 Jahren, sofort verfügbar, was über eine rein hirnphysiologische Deutung hinausgeht.
Zeichenkünstler wiederum haben meist ein fotografisches Gedächtnis, wobei die einzelnen Elemente in das Gedächtnis aufgenommen werden.
Talentierte Inselbegabte behalten die einzelnen Fakten. Die damit verbundenen Zusammenhänge und Bedeutungen berühren sie jedoch nicht, weshalb ihre Kommunikation mit der Umwelt stark beeinträchtigt ist.

Theorien

Was schließlich ganz allgemein eine Erklärung für Inselbegabungen betrifft, so ist bei der Vielfalt der Erscheinungsformen, die von der außergewöhnlichen Begabung bis zur erstaunlichen und talentierten Inselbegabung reichen, schwer eine umfassende Theorie zu finden. Die älteste Theorie sah in den Inselbegabten verunglückte Genies, bei denen durch einen Geburtsschaden alle Begabungen bis auf eine ausgeschaltet wurden. Andere vermuten im Inselbegabten ein Produkt aus Konzentration, Einseitigkeit und endloser Wiederholung.
Die Neurologen Norman Geschwind und Albert Galaburda von der Harvard Universität sehen eine mögliche Ursache von Inselbegabungen in Störungen des beschleunigten Gehirnwachstums in der Phase der Embryonalentwicklung zwischen der 10. und 18. Schwangerschaftswoche, wo es durch beschleunigte Neuronenverbindungen zu massiven Gehirnschäden kommen kann. Einer der möglichen Störfaktoren sei dabei das männliche Hormon Testosteron, das während der Hodenbildung im Körper zirkuliert und bei einem hohen Spiegel sich hemmend auf das Wachstums des Gehirns auswirkt, was eine mögliche Erklärung für die männliche Dominanz von 8 : 9 bei den Inselbegabungen sein könnte.
Nach dem Hirnforscher Michael Fitzgerald vom Trinity College in Dublin ist die herausragende Inselbegabung eine Folge der neuronalen Fehlschaltungen bei Autisten, zu denen er auch Genies wie Isaac Newton, Wolfgang Amadeus Mozart und Albert Einstein zählt. Allan Snyder von der Universität Sydney sieht die Ursache der Inselbegabungen im Ausschalten bestimmter Hirnareale, wodurch Reserven anderer Reale freigesetzt werden.
Nach einer weiteren Theorie seien bei Inselbegabten die Filtermechanismen des Gehirns gestört. Dadurch würden nur einzelne, für relevant gehaltene, Informationen dem bewussten Bereich des Gehirns zugeführt, um dessen Überforderung zu verhindern und so eine schnellere und intuitivere Entscheidung zu ermöglichen. So könne der Inselbegabte in einem Teilbereich auf jede Information zugreifen, unabhängig von ihrer Relevanz.
Diesen Theorien gegenüber muss jedoch festgehalten werden, dass Inselbegabung und Autismus zwei verschiedene Störungsbilder sind. Sie können, müssen aber nicht zusammen auftreten. So gibt es in Deutschland mehr als eine halbe Million Autisten, davon sind nur weit unter 0,001% Inselbegabte.
Weltweit gibt es, wie oben gesagt, etwa 100 Inselbegabte, also Menschen, die auf einem Gebiet überdurchschnittliche Fähigkeiten besitzen, auf anderen aber eingeschränkt bis unfähig sind. So kann z.B. jemand brillant Klavier spielen, aber – obwohl erwachsen – immer noch keine Gabel halten oder die Knöpfe am Hemd nicht schließen.
Inselbegabung und Autist
Dem Inselbegabten ist sein Talent angeboren und er kann nichts anderes. Der Autist kann viel anderes, nur interessiert ihn sein Spezialinteresse so sehr, dass er ungern etwas anderes machen will. Der Inselbegabte ist von Natur aus perfekt, der Autist trainiert extrem viel. Zudem ist bei den Autisten, wie schon im Beitrag „Autismus“ (GW 2016/1, 59-83) dargelegt wurde, zwischen Kanner-Syndrom und Asperger-Syndrom zu unterscheiden.
Wie immer man die einzelnen Sonderbegabungen auch zu deuten versucht, man kommt an einer nicht materiellen Informationsquelle und an einem nicht materiellen Gedächtnisgrund nicht vorbei. Hier kommt die von mir entworfene Theorie der Anima Mundi zum Tragen, nach der jede Raum-Zeit-Struktur durch eine Informationsstruktur der Weltseele geformt und erhalten wird. Diese Informationsstruktur der Weltseele erhält speziell auch beim Phänomen der Inselbegabungen besonderes Gewicht, insofern als sie trotz Filterung durch die materielle Struktur des Körpers außergewöhnliche Informationen wie Gestaltungsformen zum Ausdruck bringt. Dies soll durch die in weiteren Beiträgen beschriebenen Fälle veranschaulicht werden.

Literatur:
Inselbegabung. Spektrum der Wissenschaft 9  (2002), 44ff.
Draaisma, Douwe: Der Profit eines Defekts: das Savantsyndrom, in: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird – Von den Rätseln unserer Erinnerung. Piper, 2006.
Geschwind, Norman/Galaburda, Albert M.: Cerebral Lateralization. Biological Mechanisms, Associations, and Pathology. Cambridge, Mass. u.a.: MIT Press, 1987.
Kast, Bas: Wie der Bauch dem Kopf beim Denken hilft. Die Kraft der Intuition. Frankfurt a.M.: Fischer, 2007.
Miller, Leon K.: Musical Savants. Exceptional Skill in the Mentally Retarded. Hillsday NJ: Erlbaum, 1989.
Resch, Andreas: Anima Mundi. Grenzgebiete der Wissenschaft (GW) 62 (2013) 3, 195-221.
Tammet, Daniel: Elf ist freundlich und Fünf ist laut. Ein genialer Autist erklärt seine Welt. Düsseldorf: Patmos, 2007.
Treffert, Darold A./Wallace, Gregory L.: Islands of Genius. Artistic brilliance and a dazzling memory can sometimes accompany autism and other developmental disorders. Scientific American (June 2002).
DVDs:
Höfer, Petra/Röckenhaus, Freddie: Expedition ins Gehirn; Teil 1: Gedächtnis-Giganten; Teil 2: Der Einstein-Effekt; Teil 3: Der große Unterschied (DVD, deutsch/englisch, ca. 156 Minuten). Wissenschafts-Dokumentation über Inselbegabte und Autisten mit Savant-Fähigkeiten. München: TR Verlagsunion, 2006.

 

ERINNERUNGSTALENTE

In der folgenden Darlegung sollen jene Erinnerungstalente vorgestellt werden, die als Naturtalente in einer besonderen Weise beeindrucken und als solche allgemeine Anerkennung fanden.

Solomon Schereschewski

Solomon Schereschewski (1886-1958) war ein russischer Journalist, Gedächtniskünstler und Inselbegabter.

Solomon Schereschewski (1886-1958)

Schereschewski hatte schon von Kindheit an die Gabe, sich alles merken zu können. So machte er sich als Journalist bei den Interviews niemals Notizen, weil er sich jedes Detail merkte. Dadurch wurde er in den 1930er Jahren auch berühmt. Er trat in Varietés auf und verblüffte die Zuschauer mit endlosen Zahlenketten, die er lesen und wiedergeben konnte. Selbst Josef Stalin war von ihm begeistert und ließ seine Merkfähigkeit von den besten Wissenschaftlern untersuchen, um hinter das System bzw. das Geheimnis von Schereschewski zu kommen. Es sollte so eine Methode entwickelt werden, um alle Sowjetbürger zu Gedächtniswundern zu machen.
Drei Jahrzehnte lang nahm Schereschewski an Gedächtnisstudien teil, insbesondere bei dem Neuropsychologen Alexander Romanowitsch Lurija
(1902-1977), der regelmäßig Experimente durchführte und diese 1965 in seinem Aufsatz „Kleines Porträt eines großen Gedächtnisses“ als Fallstudie veröffentlichte, die 1968 in englischer Übersetzung erschien.
Die Versuche brachten allerdings nicht den gewünschten Erfolg, was andererseits besagt, dass die Inselbegabung eine Veranlagung ist, die nicht erlernt werden kann.
Lurija traf Schereschewski damals in Moskau. 1934 gab er ihm beispielsweise eine lange, komplizierte und unsinnige mathematische Formel. Schereschewski prägte sich die Formel sieben Minuten lang ein und konnte sie dann ohne Fehler wiedergeben. Als Lurija ihn 15 Jahre später wieder nach der Formel fragte, konnte Schereschewski diese immer noch fehlerfrei reproduzieren.
Mit der Zeit prägte er sich hunderttausende Listen mit Zahlen, sinnlosen Silben, Wörtern, Passagen in Fremdsprachen und mathematische Formeln ein, die er bei Bedarf wie aus der Pistole geschossen wiedergab, auch noch nach 10 und 20 Jahren.
Schereschewski war ein Synästhetiker, das besagt, dass verschiedene Sinneseindrücke bei ihm zusammen auftraten. Dies könnte seine Gedächtnisleistungen zumindest teilweise erklären. Beim Synästhetiker hat zum Beispiel jedes Wort eine Farbe oder einen Ton, mit dem es assoziiert ist. Wenn sich diese Menschen an eine Liste mit Wörtern erinnern sollen, dann haben sie also mehrere Sinneseindrücke, an die sie sich erinnern können und das hilft enorm.
Wie Fallbeispiele zeigen, umfasst ein extrem gutes Gedächtnis meist jedoch nur Teilbereiche der Erinnerung. So war es auch bei Schereschewski. Gesichter und Stimmen konnte er sich nur schlecht merken. Daher kann man bei ihm nicht von einem umfassenden Gedächtnis-Genie sprechen. Dafür hatte er ein fotografisches Gedächtnis, das ihn nie im Stich ließ. Die vielen Eindrücke, die ihn trafen, waren, wie erwähnt, stets mit Bildern verbunden, die ständig vor seinen Augen abliefen, so dass er nie zur Ruhe kam, sosehr er sich dies auch wünschte.
Für Schereschewski wurde das unbeschränkte Fassungsvermögen seines Gedächtnisses zu einem Fluch. Er suchte daher verzweifelt nach Techniken, um vergessen zu können. So schrieb er gelesene Zahlenreihen auf ein Stück Papier und verbrannte es. Aber die Zahlen erschienen ihm wieder, auf den verkohlten Resten.
Diese phänomenale Gabe, die Dinge „fotografisch“ abzurufen, begrenzte auch sein Denkvermögen. „Ich kann nur das verstehen, was ich mir bildlich vorstellen kann“, sagte er zum Neurologen. Da er zudem nicht abstrakt denken konnte, wuchs sein Intellekt nie über den eines Teenagers hinaus. So verwirrte es ihn vollkommen, wenn Wörter zwei Bedeutungen hatten oder ein Gegenstand zwei Namen. Tatsächlich konnte er nicht einmal lesen. „Jedes Wort rief Bilder vor seinem inneren Auge hervor, die ihn vom Verstehen ablenkten“, berichtet Alexander Lurija. Daher war er auch unfähig, sich den Lebensunterhalt durch geregelte Arbeit zu verdienen, sodass ihm letztlich nur die bezahlten Auftritte als „Gedächtniskünstler“ blieben.
Der Gedächtnisforscher Daniel Schacter von der Harvard Universität deutet Solomon Schereschewskis Dilemma folgendermaßen: „Sein Verstand konnte einfach nicht auf abstrakter Ebene funktionieren, weil er von unwichtigen Details seiner Erfahrungen überschwemmt wurde, von Details, denen am besten der Zutritt ins System versagt geblieben wäre.“ Dadurch wird deutlich, dass die totale Erinnerung zur unerträglichen Belastung wird und dass selektives Vergessen von Dingen sogar lebensnotwendig ist.
Salomon Schereschewski versank gegen Ende seines Lebens in einer tiefen Depression und starb elend und vereinsamt.
Christopher Doyle verarbeitete den Fall in dem Film „Away with Words“ und Peter Brook brachte eine Adaption von Schereschewskis Biografie auf die Bühne.

Lit.: Lurija, Alexander R.: Der Mann, dessen Welt in Scherben ging: zwei neurologische Geschichten. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1995; Schacter, Daniel L.: Wie wir vergessen und uns erinnern. Bergisch Gladbach: Lübbe, 2005.

Kim Peek

Kim Peek (geb. am 11. November 1951 in Salt Lake City, Utah, USA; gest. am 19. Dezember 2009 ebd.) war einer der bedeutendsten Inselbegabten (Savants).

Kim Peek (1951-2009)

Er zeichnete sich durch ein außergewöhnliches Erinnerungsvermögen aus.
Körperliche Beeinträchtigungen
Peek kam mit schwerer geistiger Behinderung zur Welt. Sein Gehirn zeigte neben einer Vergrößerung ein geschädigtes und auffallend kleines Kleinhirn sowie eine kaum vorhandene Verbindung der beiden Hirnhälften (Balken, corpus callosum), sodass der Übergang vom Großhirn zu den inneren Gehirnschichten völlig fehlte.
Nach der Neurobiologie verursacht eine fehlende Verbindung der beiden Hirnhälften einen ungebremsten Fluss von Informationen in das Bewusstsein, da die rechte und die linke Hirnhälfte nicht miteinander kommunizieren und damit die Informationen der jeweils anderen Hirnhälfte nicht steuern können. Ein Zusammenhang zwischen den außergewöhnlichen Fähigkeiten Peeks und den neuroanatomischen Veränderungen seines Gehirns konnte jedoch nicht nachgewiesen werden. Denn selbst das seltene Fehlen des Balkens zwischen den beiden Hirnhälften muss nicht notwendig zu Funktionsstörungen führen.
Die hirnphysiologischen Daten veranlassten die Ärzte, seinen Eltern zu raten, Kim in ein Heim zu geben. Sein Schädel war bereits bei der Geburt um ein Drittel größer als der eines normalen Kindes, sodass die Nackenmuskeln das Gewicht des Kopfes kaum halten konnten.
Entwicklung
Bis zum vierten Lebensjahr konnte Peek nicht gehen und dann nur mit Schlagseite. Er konnte das Hemd nicht aufknöpfen und hatte zudem Schwierigkeiten bei anderen normalen körperlichen Bewegungen, wahrscheinlich wegen der Schädigung seines Kleinhirns, das die Körperbewegungen üblicherweise koordiniert. Auch sprachlich war er um Jahre zurück. Dafür zeigte er besondere Fähigkeiten beim Sortieren von Papierstücken, wobei er bei einer Störung dieser Tätigkeit völlig unkontrolliert reagierte.
Auf der anderen Seite fing Peek mit 16 Monaten an zu lesen und kannte mit vier Jahren acht Lexikonbände Wort für Wort auswendig. Nachdem er ein Buch gelesen und in Erinnerung gerufen hatte, legte er es auf die Seite, um zu zeigen, dass er es gelesen hatte. Diese Vorgangsweise behielt er sein ganzes Leben bei. Zum Lesen eines Buches brauchte er etwa eine Stunde. Er erinnerte sich dann bis zu 90% an das Gelesene. Auf diese Weise füllte er seine Erinnerung mit Informationen über verschiedenste Themen, die von Geschichte über Literatur, Geographie, Nummern bis Sport, Musik und Daten reichten. Dabei erfasste er die linke Seite mit dem linken Auge, dann die rechte Seite mit dem rechten Auge. So konnte er mindestens 12.000 Büchern lesen und deren Inhalt in Erinnerung rufen.
Peek lebte in Murray, Utah, und verbrachte viel Zeit in der Bibliothek von Salt Lake City. Mit der besonderen Hilfe seines Vaters stellte er sein umfangreiches Wissen in Schulen zur Verfügung.
Bildung
Als Peek sechs Jahre alt war, schlug man eine Leukotomie (Lobotomie), eine chirurgische Durchtrennung frontothalamischer Faserverbindungen vor, um sein ständiges Geplapper, Zappeln und unentwegtes Tätigsein zu verringern. Der Rat wurde allerdings wegen der vielen Nebenwirkungen nicht befolgt. Als Peek dann mit sieben Jahren zur Schule ging, wurde er wegen seiner Unkontrollierbarkeit bereits nach sieben Minuten von der Schule verwiesen. Dafür wurden zweimal in der Woche für 45 Minuten Privatlehrer zu ihm nach Hause geschickt.
Dennoch schenkte man seiner Behinderung bis Ende 1963 keine weitere Beachtung. Als er dann mit 12 Jahren zu Weihnachten ein Gedicht aufsagen sollte, rezitierte er die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukasevangelium von Kaiser Augustus bis zu den Hirten mit etwa 40 Zeilen aus der Bibel, ohne sie vorher gelesen zu haben. Er hatte sie lediglich am gleichen Tag in der Kirche gehört und sich eingeprägt. Mit 14 Jahren vollendete er, vier Jahre vor dem Zeitplan, das Pensum des Gymnasiums. Mit 18 Jahren beauftragte man ihn, die Gehaltslisten von 160 Personen zu erstellen – eine Aufgabe, die er in wenigen Wochenstunden und ohne Rechner erfüllte. Anfangs seiner 30er Jahre wurde er dann aufgrund der Computerisierung von der Lohnaufstellung freigestellt. Es bedurfte zweier Vollzeitbuchhalter und eines Computers, um ihn zu ersetzen.
Durchbruch
Im Alter von 33 Jahren traf Peek 1984 auf einer Tagung der National Association for Retarded Citizens des amerikanischen Behindertenverbandes in Arlington (Texas) den Drehbuchautor Barry Morrow. Dieser war faszinierte von Peeks Lebensgeschichte und verarbeitete sie im Film „Rain Man“, der 1988 erschien und das Thema Inselbegabungen weltweit bekannt machte. Der Hauptdarsteller, Dustin Hoffman, traf sich mit Peek und anderen Inselbegabten, um die Rolle echt zu spielen. Der Film hatte großen Erfolg, was Peeks Selbstbewusstsein stärkte. Barry Morrow gab Peek seine Oskar-Statue, damit er sie immer mit sich trage. Sie war die „meist geliebte Oskar-Statue“, da sie von mehr Menschen in die Hand genommen wurde als jede andere.
Peek selbst freute die Begegnung mit fremden Leuten und die Möglichkeit, ihnen sein Kalenderwissen kundzutun, indem er ihnen sagte, in welcher Woche sie geboren wurden und was damals auf den Titelseiten der wichtigsten Zeitungen stand. Er trat auch im Fernsehen auf.
Nach diesem Durchbruch setzte sich Peek in der Öffentlichkeit für behinderte Menschen ein, wobei ein Teil seines Einsatzes in Öffentlichkeitsarbeit vor Studenten und Journalisten bestand. Sein Vater, bei dem er zuletzt wohnte, war stets an seiner Seite. Gleichzeitig verbesserten sich überraschenderweise seine sozialen Fähigkeiten.
In den letzten Jahren seines Lebens kam zu den übrigen Interessen noch die Liebe zur Musik hinzu. Die Melodien der Platten seiner Mutter, die er in der Kindheit gehört hatte, konnte er zum Teil mit einem Finger am Klavier nachspielen. Er soll sich sogar an jede Melodie erinnert haben, die er einmal gehört hatte.
Wissenschaftliche Untersuchungen
2004 wurde Peek von Wissenschaftlern am Center for Bioinformatic Space Life Sciences at the NASA Ames Research Center einer Reihe von Tests wie Computertomographie und magnetische Resonanzspektroskopie unterzogen. Dabei wollte man eine dreidimensionale Sicht seiner Hirnstruktur erstellen und die Bilder mit den MRI Scans von 1988 vergleichen.
2008 kam die Studie zum Schluss, dass Peek an einem FG-Syndrom (bekannt auch als Opitz-Kaveggia-Syndrom) litt, einem seltenen Krankheitsbild, das durch eine strukturelle Chromosomenanomalie des X-Chromosoms ausgelöst wird und mit körperlichen Anomalien und Entwicklungsverzögerungen verbunden ist.
Peek starb 2009, im Alter von 58 Jahren, zu Hause an Herzversagen. Sein Vater Fran starb am 5. April 2014 im Alter von 88 Jahren.

Lit.: Treffert, Darold A./Christensen, Daniel D.: Inside the Mind of a Savant. Scientific American 293 (2005) 6, 108-113; Peek, Fran: The Real Rain Man: Kim Peek. Salt Lake: Harkness, 1996.
https://www.youtube.com/watch?v=k2T45r5G3kA

Orlando Serrell

Orlando Serrell (geb. 1968 in Newport News, Virginia, USA), US-amerikanischer Inselbegabter seit einem Unfall.

Orlando Serrell (*1968)

Orlando Serrell, gebürtig aus einem Farbigenviertel der Stadt Newport News, war ein normal begabter Junge, der bis zum zehnten Lebensjahr das ortsübliche Leben führte und sich an verschiedenen Sportarten, insbesondere Baseball, erfreute. Am 17. August 1979 wurde er beim Baseballspiel mit seinen Freunden an der linken Kopfseite so heftig getroffen, dass er kurzzeitig das Bewusstsein verlor, dann aber wieder aufstand, um das Spiel fortzusetzen. Obwohl er länger andauernde Kopfschmerzen hatte, erzählte er weder den Eltern von dem Vorfall, noch ließ er sich ärztlich behandeln.
Kalender-Gehirn
Schließlich hörten die Schmerzen auf und Serrell stellte zu seiner Überraschung fest, dass er die unglaubliche Fähigkeit besaß, ungeheuer komplexe Kalenderdaten zu entziffern, Nummernschilder von Autos, Wetterberichte und sich alles, was er seit seinem Unfall getan hatte, zu merken. Zudem konnte er fehlerlos die Texte von Popsongs zitieren.
Als sich die Medien für dieses „Kalender-Hirn“ zu interessieren begannen, erschien sein Foto in verschiedenen Lokalzeitungen. Am 17. Juni 2002 wurde Serrell von den NBC News angerufen. Man lud ihn ein, zur Columbia Universität in New York zu kommen, um sein Gehirn mit einer magnetischen Resonanzspektroskopie zu testen. Das Nachrichtenteam zeichnete die Untersuchungen per Video auf, um seine Gehirnfunktionen mit den Funktionen normaler Gehirne und solcher von Hochbegabten zu vergleichen. Am 13. Januar 2003 strahlte der Fernsehsender eine Dokumentation über Inselbegabte aus, in der auch Serrell zu sehen war.
Forschung
Was Serrell so einmalig macht, ist die Hoffnung, dass er vielleicht den Schlüssel in der Hand hat, der in uns allen das Genie aufsperrt. Er besaß nämlich bis zu dem Baseballtreffer gegen den Kopf keine besonderen Fähigkeiten. Seine außerordentlichen Begabungen schienen daher nur ein Nebeneffekt des Unfalls zu sein. Besagt das, dass wenn eine besondere Stelle der Gehirnhälfte stimuliert würde, wir alle die Fähigkeiten von Serrell haben könnten? Das herauszufinden, ist Aufgabe der Forschung.
Fähigkeiten
Orlando Serrell besitzt seit seinem Unfall, wie angedeutet, ein Kalender-Gehirn, was besagt, dass er sich jedes Detail eines jeden Tages merken und die gespeicherten Informationen jederzeit aufrufen kann. Er wendet seine Merkfähigkeit jedoch nicht bewusst an, sondern entsprechend den Gegebenheiten.
Neurologen und Autismus-Forscher haben seine Fähigkeiten nach allen Seiten hin mehrmals überprüft, konnten aber bis jetzt nicht erklären, wie Serrell seine Gedächtnisinhalte speichern und auf sie zurückgreifen kann. So stellt sich weiterhin die Frage, wie ein Baseball beim Aufprall auf die linke Kopfseite ein „Kalender-Gedächtnis“ hervorrufen kann. Außerdem fragt sich, ob es überhaupt wünschenswert wäre, ein „Kalender-Gehirn“ zu haben und wie weit dadurch die soziale Kommunikation beeinträchtigt wird.
Serrell selbst befasst sich inzwischen damit, seine Kalenderfähigkeit auf die Zeit vor seinem Unfall auszuweiten.

Lit.: Röckenhaus, Freddie: Die unheimliche Welt der Wissenden. Geo Wissen Nr. 38.
http://www.orlandoserrell.com/

Daniel Paul Tammet

Daniel Paul Tammet (geb. am 31. Januar 1979 in London) ist ein britischer Inselbegabter (Savant), der mathematische Probleme und Rechnungen außerordentlich rasch zu lösen und die Ergebnisse auf bis zu hundert Nachkommastellen wiederzugeben vermag.

Daniel Paul Tammet (*1979)

Als ältestes von neun Kindern in London geboren, erlitt Tammet im Alter von vier Jahren einen schweren epileptischen Anfall, der ihn dauerhaft verändern sollte. Als er im September 1984 eingeschult wurde, sahen für ihn die Rechenbücher, in denen die Zahlen schwarz und gleich groß abgedruckt waren, wie Druckfehler aus, denn in seiner Vorstellung ist die Acht größer als die Sechs und die Neun blau. So war er auch in der Schule ein Einzelgänger, nicht zuletzt deshalb, weil er nonverbale Signale nicht zu deuten vermochte und mit dem Mannschaftssport in der Schule nicht zurechtkam. Sein Studium beendete er mit dem Realschulabschluss, obwohl die Mutter eine Universitätsausbildung erhoffte.
Zahlengedächtnis
Tammet begann Mathematikbücher zu lesen und Pflanzenmuster zu studieren, denn er konnte per Kopfrechnen schwierige Rechenaufgaben lösen. Bei einem internationalen Pi-Treffen (Pi, Mathematik-Kreiszahl π = 3,14159…) von 2004 stellte er einen neuen Europarekord auf, als er bei einem Gedächtniswettbewerb 22.214 Nachkommastellen der Zahl Pi fehlerfrei aufsagte. Er benötigte dafür fünf Stunden und neun Minuten.
Jede Zahl zwischen 1 und 10.000 löst bei Tammet eine visuelle Vorstellung aus, einige Zahlen davon auch eine emotionale Reaktion. Da sich diese Begabung erst nach dem Epilepsieanfall im vierten Lebensjahr entfaltete, zählt Tammet nicht zu den Inselbegabten, die ihre Fähigkeit von Geburt an besitzen, sondern zu den sog. „erworbenen Inselbegabten“, allerdings mit einer speziellen Vorstellungsgabe, insbesondere was Zahlen und Muster betrifft.
So kann er genau berichten, was in seinen Vorstellungen vorgeht. Bei der Multiplikation zweier Zahlen stellen sich diese in zwei Symbolen dar, die sich zu einem neuen Symbol vereinen. Wie erwähnt, hat in seiner Vorstellung jede Zahl von 1 bis 10.000 ein eigenes Erscheinungsbild. Während er das Bild der Zahl 289 als hässlich bezeichnet, ist für ihn die Zahl 333 besonders attraktiv und die Kennzahl Pi wunderschön.
Sprachentalent
Neben den 10.000 Zahlen beherrscht Tammet auch die Sprachen Englisch (Muttersprache), Französisch, Finnisch, Estnisch, Spanisch, Deutsch, Litauisch, Esperanto, Rumänisch und Isländisch. Zudem hat er eine Sprache namens Manti entworfen, deren Grammatik dem Estnischen und Finnischen ähnelt.
Tammet lernt eine Sprache intuitiv, wobei er für jede ein Gefühl zu entwickeln und Muster zu erkennen sucht. So fangen nach ihm in der deutschen Sprache kleine runde Dinge mit „Kn“ an: Knoblauch, Knopf, Knospe. „Str“ beschreibe lange dünne Dinge wie Strand, Strumpf, Strahlen. Diese Muster gäbe es in allen Sprachen. Wenn man sie erkennt, bekomme man das Gefühl dafür, wie eine Sprache funktioniert und könne sie so leichter lernen. Jedes Kind, das eine Sprache lernt, denke auf diese Weise.
Alle Sprachen sind logisch, weil sie vom menschlichen Gehirn erdacht wurden. Es sei daher vollkommen natürlich, nach der Logik einer Sprache zu suchen und diese Logik für das Lernen zu nutzen.
Beim Lernen einer Sprache beginne er vor allem mit dem Lesen bebilderter Kinderbücher, dann lese er Magazine, Zeitungen und Bücher für Erwachsene mit Texten, die ihn interessieren. Daraufhin sucht er einen Gesprächspartner der betreffenden Sprache, mit dem er einen Tag lang spricht.
Dabei hilft ihm, dass in seinem Gehirn gewisse Regionen auf ungewöhnliche Art miteinander verschaltet sind. Die meisten Menschen denken in isolierten Regionen. Bei ihm sei hingegen alles vernetzt. Denkt er über Worte nach, benützt er Informationen aus allen Teilen seines Gehirns. Gefühle, Farben und Formen verbinden sich mit Worten. So wirkt etwa der Apfel auf ihn rot, das Gras grün.
Selbstbewusstsein
Was Tammets Begabung betrifft, so ist er sich derselben wohl bewusst, zählt sie aber zum natürlichen menschlichen Spektrum. Wie der Spitzensportler durch seine körperlichen Voraussetzungen, seinen Fleiß und seine Zielstrebigkeit zu Höchstleistungen gelange, sei dies auch beim intellektuellen Genius, der in einer bestimmten Form in jedem stecke.
Kritiker sagen daher auch, dass Tammet kein Inselbegabter sei, sondern Zahlen und Sprachen durch Übung und Fleiß erworben habe. Daher sei auch seine Aussage, dass er sich wegen Asperger-Autismus keine Namen merken könne, unhaltbar, habe er doch im Jahre 2000 unter seinem Geburtsnamen Daniel Corney an der Weltmeisterschaft im Gedächtnissport teilgenommen und dabei sogar die Disziplin „Namen und Gesichter merken“ gewonnen.
Wenn auch die Frage des Autismus in seinem Ausmaß offen bleibt, so ist an der besonderen Begabung von Tammet nicht zu rütteln, die sich vornehmlich auf Zahlen und Sprachen bezieht. Insofern kann durchaus von Inselbegabung gesprochen werden.
In New York lernte Tammet den südfranzösischen Fotografen Jérôme Tabet kennen und lebt nun mit ihm in Paris.

W.: Elf ist freundlich und Fünf ist laut. Ein genialer Autist erklärt seine Welt. Düsseldorf: Patmos, 2007; Wolkenspringer. Von einem genialen Autisten lernen. Düsseldorf: Patmos, 2009; Embracing the Wide Sky. A Tour Across the Horizons of the Human Mind. London: Hodder & Stoughton, 2009; Thinking in Numbers. How Maths Illuminates Our Lives. London: Hodder & Stoughton, 2012; Die Poesie der Primzahlen. München: Hanser, 2014.
https://www.ted.com/talks/daniel_tammet_different_ways_of_knowing?langua…

Burkhard Heim

Burkhard Heim (geb. am 9. Februar 1925 in Potsdam, Deutschland; gest. am 14. Januar 2001 in Northeim bei Hannover) war Physiker und konnte sämtliche mathematischen Formeln seines umfangreichen Werkes jederzeit in Erinnerung rufen.

Dipl.-Phys. Burkhard Heim (1925-2001)

Biografie
Burkhard Heim, als Sohn des Bank-Oberbeamten Heinrich Heim und seiner Ehefrau Marie geb. Warneboldt in Potsdam, Deutschland, geboren, besuchte ab 1935 das dortige Viktoria-Gymnasium und wechselte 1942 in die „Gabbe’sche Lehranstalt“ Berlin, wo er im Mai 1943 das Abitur machte. Im Anschluss daran kam er zum Reichsarbeitsdienst und im Oktober des gleichen Jahres zur Wehrmacht.
Bereits von früher Kindheit an galt sein besonderes Interesse allem, was mit der Natur in Zusammenhang stand, insbesondere aber der Biologie, Chemie, Physik und später auch der Mathematik. Schon als Zehnjähriger wollte er unbedingt Chemiker werden. Chemische Experimente und sich auf Chemie beziehende Fragen nahmen deshalb auch seine ganze Freizeit in Anspruch.
Unfall
1941 gelang es Heim, auf dem Gebiet der Pyro- und Sprengstofftechnik ein Präparat herzustellen, das ungewöhnlich stark exotherm reagierte. Aufgrund dieser Erfindung wurde er im Frühjahr 1944 auf Weisung des Rüstungskommandos von der Front in die Chemisch-Technische Reichsanstalt zu Berlin abgestellt, mit dem Auftrag, das Herstellungsverfahren dieses Präparats zu entwickeln. Ursprünglich (1941) beabsichtigte er, mit Hilfe dieser Substanz das Verhalten bestimmter Gase bei extrem hohen Temperaturen zu beobachten, weil, nach seiner damaligen Auffassung, die Verwendung der Atomkernenergie, deren technische Verwertbarkeit für ihn damals über jeden Zweifel stand, in Rückstoßgeräten über eine extrem stark erhitzte, indifferente Stützmasse gehen musste.
Leider kam es bei den erwähnten Laboratoriumsarbeiten im Mai des Jahres 1944 in der Chemisch-Technischen Reichsanstalt in Berlin zu einem Explosionsunglück, bei dem Heim beide Hände und den größten Teil seines Seh- und Hörvermögens verlor. Im Lazarett, wo alles dunkel war, weil er nicht mehr sehen und die Hände nicht mehr verwenden konnte, stellte sich beim Gedanken an den Tod eine Nahtod-Erfahrung ein, wie er mir persönlich mitteilte. Dabei erfuhr er eine Raum-Zeitlosigkeit, die ihm nicht nur Lebensmut, sondern eine völlig neue Weltsicht vermittelte, auf die er später in der Schrift Postmortale Zustände und in seinem Buch Strukturen der materiellen Welt und ihre nichtmateriellen Seite einging. Im Tiefsten interessierte ihn nur mehr die Frage, was im Hintergrund der Welt vor sich geht. Die beiden Bände Elementarstrukturen der Materie verfasste er nur, um mit der offiziellen Physik im Gespräch zu bleiben. Mit dem Erscheinen von Postmortale Zustände hat sich dann allerdings die offizielle Physik von Heim schlagartig abgewandt. Bewertete man den ersten Band von Elementarstrukturen der Materie noch als innovativen Beitrag zur Physik, lehnte man, wie ich erleben musste, eine Rezension des 2. Bandes bereits kategorisch ab.
Studium
Im Frühjahr 1945 wurde Heim nach Oberbayern evakuiert, von wo aus er im April 1946 nach Northeim bei Hannover in das Elternhaus seiner Mutter übersiedeln konnte. Im Herbst des gleichen Jahres begann er an der Universität in Göttingen mit dem Chemiestudium, das er aber im Winter 1948 aus zwei Gründen abbrach. Einerseits reichten die ihm verbliebenen körperlichen Möglichkeiten zur Durchführung der notwendigen Praktika nicht aus, andererseits versprach er sich von einem Studium der theoretischen Physik einen ungleich höheren Erkenntniswert, um einen möglichst weiten Blick zu bekommen. So begann er also 1949 mit dem Studium der theoretischen Physik. 1950 heiratete er Gerda Straube, die fortan seine gesamten Diktate niederschrieb, weil er selbst ja nicht schreiben konnte. Im Februar 1954 beschloss er mit dem Hauptdiplom sein Physikstudium.
Einheitliche Beschreibung der materiellen Welt
Doch bereits im Herbst 1949 wurde Heim angeregt, sich mit der Natur der Kraftfelder zu beschäftigen. Er orientierte nun seine Studien in diese Richtung und befasste sich insbesondere mit der Allgemeinen Relativitätstheorie und der Quantentheorie. Unbefriedigend erschien ihm ein zwischen beiden Theorien erscheinender Riss im Weltbild der physikalischen Erkenntnis, den er durch eine neue Beschreibungsmethode zu überbrücken suchte. Auf diese Weise entstand eine Theorie, nach der er bereits 1952 in einem Referat in Stuttgart eine Aussage über die Spiralnebelverteilung im Universum machte, die später von astronomischer Seite durch Beobachtungen qualitativ bestätigt wurde. 1958 wurde dann die Richtigkeit der Theorie auch auf andere Weise nachgewiesen, denn es gelang, die Horizontalintensität des terrestrischen und lunaren Magnetfeldes numerisch zu berechnen und zunächst im Fall des terrestrischen Feldes mit den geomagnetischen Messungen zu vergleichen. Zudem wurden seine Angaben über das lunare Magnetfeld 1959 bei der Mondumkreisung durch die sowjetische Station bestätigt.
In seiner Theorie, der „Einheitlichen Beschreibung der Materiellen Welt“, geht Heim zwar ebenfalls von nachprüfbaren physikalischen Tatsachen aus, greift jedoch im Gegensatz zu den gängigen positivistischen Erklärungen (Urknall, Supergravitation) auch solche nichtmaterieller Art auf. Dabei spielen zwei Punkte eine wesentliche Rolle:
Weltdimensionen
Heim unterscheidet drei reale (x1, x2 , x3 ) messbare Dimensionen des physisch dreidimensionalen Raumes (Höhe, Brei­te, Tiefe) und drei imaginäre (x4, x5, x6 ) vorstellbare Dimensionen (Zeit, Entelechie, Äon), wobei x5 und x6 zwei verborgene Weltdimensionen darstellen:
– die Dimension x5 (Entelechie, Gestaltungsprinzip) bewertet die offenbar sich ständig in x4 (Raum-Zeit) aktualisierenden Or­ganisationszustände auf ihre Wesensstruktur hin, und
– die Dimension x6 (Äon, Weltzeit), welche die mehrdeutige Aktualisierungsrichtung entelechialer oder Wesensstrukturen in x4 steuert. Diese Steuerung entelechialer Strukturen kann x6 nur während des Welt-Zeitalters (Äon) aktualisieren.
Diese sechs Koordinaten eines sechsdimensionalen Welttensoriums R6 des materiellen Teiles der Welt spannen ein Bezugssystem auf, wobei x5 und x6 normal zu den übrigen vier Raumzeitkoordinaten verlaufen, was besagt, dass (x1, x2 , x3, x4) als physische Raumzeit R4 einen vierdimensionalen Unterraum des R6 aufspannen.
Die neuen Koordinaten bewerten (x5) und steuern (x6  ) die Organisationsvorgänge im R4 , erhalten ihre Information jedoch von einem immateriellen Hintergrund, dem informatorischen Unterraum I2 (x7 , x8) des R12. Damit haben die Dimensionen x5 und x6 mit bisherigen physikalischen Größen nicht direkt zu tun, da sie Organisationsgrade unterer Strukturen betreffen. Diese Organisationsgrade reichen von n = 0 bei submateriellen Strukturen bis n  >  25 bei mentalen Vorgängen. Das besagt, dass nicht alles „auf Moleküle“ reduzierbar ist, sondern dass die höheren Organisationsstufen ihre je eigene Gesetzlichkeit haben.
Mehrfach-Konturierung der Existenzbereiche
Bei der näheren Untersuchung dieser Organisationsformen stellte Heim fest, dass oberhalb von n = 7 eine neue Selbständigkeit auftritt, die mit den bekannten physikalischen Gesetzen physikalisch nicht mehr restlos erklärbar ist. Er zog daraus den Schluss, dass es sich hier um ontologisch (wesenhaft) eigenständige Bereiche handelt, und baute die von Andreas Resch aufgegriffene antike Vorstellung einer vierfachen Konturierung von Welt und Mensch in Physis (Natur), Bios (lebender Organismus), Psyche (Empfinden und Fühlen) und Pneuma (Geist) in sein Organisationskonzept ein:
Physis, der Existenzbereich α (Organisationsgrad n = 0 – 7), umfasst die Gesamtheit aller Gesetzmäßigkeiten anorganisch-materiellen Geschehens, also sämtliche Varianten physikalischer und chemischer Gesetze bzw. die Ereignisse der quantitativen Welt.
Bios, der Existenzbereich β (Ordnungsgrad n = 8 – 15), umfasst die Gesamtheit der Gesetze biologischer Verhaltensweisen, verbunden mit der aktiven Selbstgestaltung.
Diese Verhaltensweisen werden aus dem Hyperraum R12, von dem später die Rede ist, gesteuert und sind daher, nach Heim, empirisch dann besonders gut zu untersuchen, wenn es sich um R4-Strukturen mit extrem hohen Niveaus des organisatorischen Unterraumes S2  (x5 , x6) des R12 handelt, weil derartige Raumzeitstrukturen leicht als lebendige Organismen betrachtet werden können.
Psyche, der Existenzbereich γ (Ordnungsgrad n = 16 – 24), impliziert die Gesamtheit der Gesetze psychischer Verhaltensweisen im Erlebnisbereich von Empfinden und Fühlen. Nach dem schon genannten Verständnis des R12 ist unter „Psyche“ der Gesamtbe­reich aller emotionalen Verhaltensweisen und Lebensregungen lebender Organismen zu verstehen.
Pneuma (Geist), der Existenzbereich δ (Ordnungsgrad n ≥ 25), beinhaltet die Gesamtheit mentaler Gesetzmäßigkeiten von Denken, Reflexion, Intuition und Kreativität bis zur Weisheit.
Wenngleich die genannte Vierfachkonturierung erfahrbaren Seins offenbar in einer hierarchischen Form δ → γ → β → α ineinandergefügt ist, hebt sich nach Heim der Mensch durch die Manifestation der mentalen Person, die dem Bereich δ unterworfen ist, vom Hintergrund der übrigen irdischen Biosphäre deutlich ab. Da aber die Strukturen in den logischen Bereichen von Physis, Bios, Psyche und Pneuma (Mentalbereich) stets einige Komponenten in der Hyperraum-Dynamik des R12 haben, besteht nach Heim die Möglichkeit, mit den angesprochenen Denkstrukturen zur Transzendierung von Physis, Bios und Psyche zu schreiten.
So wird beim Eintritt des Todes das in die Bereiche γ → β → α eingebundene lebende Soma aus γ und β entlassen und vollständig der Physis α (Zerfall des Soma) überantwortet, während die vom Pneuma δ getragene Persona als Persönlichkeit oder geistiger Personträger nicht mehr wahrgenommen werden kann.
Diese Gliederung ist nach Heim in einer hierarchischen Form δ  →  γ  →  β  →  α aneinandergefügt, wobei der Begriff „Existenzbereich“ metaphorisch zu verstehen ist.
Hyperraum R12
Angeregt durch die Feststellung, dass sich die oben angeführten Aussagen mit der Empirie gut deckten, konnte man den Ansatz als richtig betrachten, so dass nach Heim eine weiterführende Untersuchung des Hyperraumes R12 gerechtfertigt erschien.
Zunächst zeigte sich, dass die Unterräume R3 (x1…x3) des physischen Unterraumes sowie die eindimensionale Zeitstruktur T (x4 ), aber auch x5 und x6 als organisatorische Koordinaten des organisatorischen Unterraums S2 von R12 die Organisationszustände materieller R4­-Strukturen bewerten.
I2 (Information) steht hingegen für den materiell nicht mehr definierbaren zweidimensionalen informatorischen Unterraum mit den Koordinaten x7 und x8 , der die Koordinatenverformung an den Organisationsraum S2 weitergibt, der unmittelbar mit dem materiellen Geschehen zusammenhängt und so direkt in die physische Zeit und den physischen Raum wirkt. Nur für die Koordinaten x1 – x8 kann man die Semantik finden und können Elementarlängen hergeleitet werden.
Für die letzten vier Koordinaten (x9 – x12) des R12 gibt es keine Interpretationsmöglichkeit mehr. Es gibt nach Heim zwar Elementarlängen, doch können sie nicht hergeleitet werden. Aus diesem Grund wurde der Raum mit den 4 nicht interpretierbaren Koordinaten einfach G4 genannt, wobei G für den von Physikern zuweilen verwendeten englischen Ausdruck „GOK“ („God only knows“) steht.
Inselbegabung
Allein schon die angeführte Theorie, die erstmals in der Physik auch die biologischen, psychischen und geistigen Aspekte des Menschen zu beachten und durch verschiedene Organisationstufen im Sinne auch nichtmaterieller Informationsstrukturen zu klären versucht, weist auf eine innere Schau von Mensch und Kosmos hin, in der Heim lebte, wie ich immer wieder feststellen konnte. Das Verblüffende dabei war, dass er nicht nur die kompliziertesten mathematischen Formeln seiner Werke auf Anhieb nennen, sondern nach dem ersten Korrekturlesen, was meist seine Frau besorgte, auch Seitenzahl und Platzierung angeben konnte.
Dabei handelte es sich um mehrere hundert Seiten. Ich habe diesbezüglich beim Korrekturlesen mehrere Stunden lang immer wieder Kontrollfragen einfließen lassen. Die Antworten waren selbst bei den längsten Formeln und ihrer Platzierung immer richtig. Dazu ist noch zu bemerken, dass er bei seiner Sehschwäche mich gar nicht beobachten konnte.
So haben wir bei Heim von Kindheit an intensive Spezialinteressen, die an ein Asperger-Syndrom denken lassen, verbunden mit einer speziellen Erinnerungsgabe für mathematische Formeln, die jedes Normalgedächtnis übersteigt. Er konnte die Formeln in seinem Innenraum jederzeit ablesen. Leider habe ich ihn nicht gefragt, ob ihm dabei, wie bei Tammet, verschiedene Größen, Farben und Gefühle zu Hilfe kamen.

Werke: Elementarstrukturen der Materie 1. Einheitliche strukturelle Quantenfeldtheorie der Materie und Gravitation, 3., veränd. Aufl. Innsbruck: Resch, 1998 (Einheitliche Beschreibung der Welt; 1).
Elementarstrukturen der Materie 2. Einheitliche strukturelle Quantenfeldtheorie der Materie und Gravitation. 2., unveränd. Aufl. Innsbruck: Resch, 1996 (Einheitliche Beschreibung der Welt; 2).
Strukturen der physikalischen Welt und ihrer nichtmateriellen Seite. Innsbruck: Resch, 1996 (Einheitliche Beschreibung der Welt; 3).
Heim, Burkhard/Dröscher, Walter/Resch, Andreas: Einführung in Burkhard Heim, Einheitliche Beschreibung der Welt. Mit Begriffs-, Formel- und Gesamtregister. Innsbruck: Resch, 1998 (Einheitliche Beschreibung der Welt; 4).
Kleine Schriften
Einheitliche Beschreibung der Materiellen Welt. Informatorische Zusammenfassung von „Elementarstrukturen der Materie“ Bd. 1 und 2. 4., unveränd. Aufl. Innsbruck: Resch, 2012 (Grenzfragen; 16).
Mensch und Welt. Hrsg. mit Vorwort und Einführung v. Andreas Resch, 2., verb. Aufl. Innsbruck: Resch, 2012 (Grenzfragen; 20).

GW 65 (2016) 2, 129-152