WELTBILDER DER PSYCHOLOGIE
Der Funktionalismus nimmt seinen Ausgangspunkt vom monistischen Naturalismus des Hippokrates (um 400 v. Chr.), dem Vater der Medizin, der sämtliche Krankheiten auf der Grundlage von körperlichen Ursachen zu erklären versuchte. Dieses Erklärungsmodell wurde nicht nur zum Fundament der traditionellen Medizin, sondern auch verschiedener Richtungen der experimentellen Psychologie.
Elementenpsychologie
Den Beginn der experimentellen Psychologie kann man mit der Veröffentlichung der Elemente der Psychophysik (1860) durch G.Th. Fechner (1801-1877; Abb. 1) ansetzen.
In diesem Buch legte Fechner die wichtigsten methodischen und theoretischen Fundamente für die Messung physikalischer Reize dar, die bestimmte psychische Vorgänge, nämlich Empfindungen, hervorrufen.1
W. Wundt (1832-1920; Abb. 2), der Begründer der „Wissenschaftlichen Psychologie“ baute den Vergleich von physikalischen Reizen und Empfindungs- bzw. Wahrnehmungsinhalten systematisch aus, was zu einer Betonung der Wahrnehmungslehre führte.2
Durch Analyse einfacher Elemente des Psychischen (Empfindungen, Reaktionen, Assoziationen) versucht man die Gesetze ausfindig zu machen, nach denen psychische Vorgänge wie Denken, Entscheiden, Gesinnungsbildung, ja sogar Persönlichkeitsformung vor sich gehen.
Während Wundt zur Erfassung „höheren“ Seelenlebens noch die Auswertung völkerkundlichen Materials vorschlug, versuchte sein Schüler Oswald Külpe (1862-1915; Abb. 3) durch systematisierte Selbstbeobachtung auch die „höheren“ psychischen Vorgänge in das Experiment einzubinden. Dabei zeigte sich allerdings, dass Gedanken und Urteile nicht auf sensorische Elemente des Empfindens und Wahrnehmens reduziert werden können.3
Demgegenüber behauptete jedoch der eifrigste amerikanische Vertreter der Introspektion, E.B. Tichener (1867-1927), „die Auflösbarkeit der Denkvorgänge in Empfindungs- und Vorstellungsaggregate experimentell nachgewiesen zu haben“4.
Behaviorismus
Diese Widersprüchlichkeit und die Unsicherheit der Introspektion führten zu einer völligen Verneinung der Methode der Selbstbeobachtung und der Elementepsychologie und riefen die psychologische Richtung des Behaviorismus ins Leben, der die psychologische Forschung auf das Studium beobachtbarer Verhaltensweisen beschränkte. Eigenes Erleben, Selbstbeobachtung, intuitives Verstehen fremden Seelenlebens wird als Forschungsmethode abgelehnt. Das Verhalten von Mensch und Tier wird gleichgeschaltet. Die Deutung des seelischen Lebens wird verneint. Die Fremdbeobachtung und kontrollierbare Messung von Reiz und Reaktion werden zur einzig gültigen Forschungsmethode erhoben.
Dabei suchen die russischen Forscher mit Iwan Petrowitsch Pawlow (1849 – 1936; Abb. 4) an der Spitze, die Psychologie durch die Physiologie zu ersetzen.5 Man bediente sich des Hundes als Versuchstier und entwickelte die Lehre vom „unbedingten“ und „bedingten“ Reflex. Pawlow beobachtete nämlich, dass – wenn man dem Hund Fleisch anbot – dieser Speichel absonderte („unbedingter Reflex“). Begleitete man das Angebot von Fleisch mehrmals mit einem Glockenton, so löste dieser nach kurzer Zeit auch ohne Futterangebot den Speichelfluss aus („bedingter Reflex“).
Mit diesem System wollte Pawlow menschliches und tierisches Verhalten erklären, wobei er aufgrund späterer Untersuchungen annahm, dass nicht einzelne bedingte Reflexe das Verhalten ausmachen, sondern dass sich „dynamische Stereotypen“ bilden, zu denen er auch die Gefühle zählte. (Abb. 5)
Während die russischen Forscher also die Psychologie durch Physiologie zu ersetzen suchten, strebten die amerikanischen Forscher unter J.B. Watson (1878-1958; Abb. 6) die Umgestaltung der Psychologie in eine experimentelle Verhaltensforschung an und bedienten sich dabei der Ratte als Versuchstier.
Watson begründete mit seinem Aufsatz „Psychology as the behaviorist views it“ (1913) den Behaviorismus, nach dem die Aufgabe der Psychologie darin besteht, die Gesetze tierischen und menschlichen Verhaltens zu formulieren, zu kontrollieren und vorherzusagen. Dabei wird Verhalten im strengen Sinn verstanden, weshalb Bewusstsein kein Gegenstand der Psychologie sei. Denken hingegen sei insofern Verhalten, als es sich in kleinsten Bewegungen der Zunge und der Stimmbänder kundtut. Verhaltensformen sind entweder angeboren oder durch Konditionierung (bedingter Reflex nach Pawlow) erworbene Reiz-/Reaktionsverbindungen.6
Beide Forschergruppen sind sich daher in folgenden Grundannahmen einig:
– Die Ergebnisse der Tierversuche können ohne weiteres auf den Menschen übertragen werden.
– Das gesamte Verhalten des Menschen lässt sich auf einen Baustein zurückführen, nämlich den Reflex, angeboren oder erlernt (konditioniert).
– Die Psyche wird zur Funktion des Gehirns und die Persönlichkeit zum Produkt von Anlage und Umwelt.
Lerntheorie und Verhaltensforschung
Die Lehre von der Konditionierung der Reflexe, Reaktionen und Handlungen wird sodann zur Grundlage der Lerntheorie und der Verhaltensforschung, wobei das Reaktionspotential einer möglichen Reaktion dem Produkt aus Triebstärke, Reizintensität, der Stärke des Anreizes und der Gewohnheitsstärke gleichkomme. Selbst das Denken wird als sensomotorischer Vorgang angesehen, der nach außen nicht in Erscheinung trete. Dabei ging es neben der exakten Kontrollierbarkeit vor allem um die Wissenschaftlichkeit. So sei nach K.W. Spence (1907-1967)7 eine Psychologie nur dann wissenschaftlich zu nennen, wenn sie ihre Terminologie in physikalische Begriffe umwandle.
Nach Burrhus Frederic Skinner (1904-1990; Abb. 7), dem einflussreichsten Behavioristen, muss das Studium des Verhaltens Studium des Verhaltens als Reaktion auf die Umgebung sein, um wissenschaftlich ernst genommen zu werden. Bei der Gestaltung dieses Verhaltens bediente sich Skinner vor allem der Belohnung als positivem Verstärker und der Bestrafung als negativem Verstärker. Positive Verstärker fördern die Wiederholung einer Handlung, negative Verstärker das Unterlassen einer Handlung.
Dieses Vorgehen, mit dem er eine Ratte oder eine Taube dazu brachte, bestimmte Handlungen auszuführen, nannte er „operantes Konditionieren“. Bekannt wurde dabei die so genannte Skinner-Box, ein abgeschlossener Kasten, in dem ein Versuchstier auf bestimmte Reize mit bestimmten Reaktionen antwortete.8 Dabei galt die Devise: Messbar ist nur, was in die Box hineingeht (= Reiz) und was aus der Box herauskommt (= Reaktion); einen Innenraum der Box, d.h. übertragen eine Psyche oder Seele bzw. eine Eigentätigkeit des Ichs bzw. ein Ichbewusstsein, gibt es nicht. In der neueren Verhaltensforschung, vor allem in der Verhaltenstherapie, spricht man auch von einem ideativen Faktor, d.h. die Box ist nicht mehr leer.9
Kybernetik
Dieses rein kausal-pragmatisch konzipierte Lernmodell zur Beschreibung des Verhaltens als zielorientiert und zweck- oder sinnvoll ohne Bezugnahme auf Bewusstsein, Psyche oder ähnliche Konzepte bekam in der von Norbert Wiener (1884-1966)10 und Claude E. Shannon (1916-2001)11 begründeten Kybernetik eine bedeutende Stütze.
Kybernetik (vom griech. kybernetes = Steuermann) fasst zweckvolles Verhalten als Verhalten auf, das sich von einem Zustand einem anderen nähert. Dabei geht es um die Annäherung eines Wertes, des Istwertes an einen gesetzten Idealwert, den Sollwert, durch Steuerung der Annäherung mittels Minimierung der durch Rückkopplung vom Sollzustand aufgezeigten Abweichungen. Zu diesem Zweck wird nach jedem Schritt geprüft, ob die notwendigen Bedingungen erfüllt sind, um gegebenenfalls durch entsprechende Steuerung die gewünschte Annäherung zu erreichen. Man setzt also ein Ziel, misst den Istzustand, gibt den Reiz, lässt das Ziel annähern, kontrolliert Schritt für Schritt, ob der Reiz verstärkt, gemindert oder gleichbleiben kann, um das gesteckte Ziel zu erreichen. Ein beliebtes Beispiel für diese Steuerung ist ein Thermostat, der die gewünschte Temperatur durch Regelung der Wärmezufuhr aufrechterhält. (Abb. 8)
Aus diesen kurzen Hinweisen wird bereits ersichtlich, dass das Hauptziel dieser Denkmodelle des Funktionalismus nicht die Beschreibung der Eigenart der menschlichen Psyche ist, sondern die gesteigerte Leistung, mit der das Tier- und Menschsein gleichgeschaltet werden.
Differentielle Psychologie oder Psychodiagnostik
Diese Gleichschaltung von Leistung und Mensch bildet auch die Grundlage der Differentiellen Psychologie oder Psychodiagnostik, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand.12 Sie befasst sich im Gegensatz zur Elemente-, Lern- und Verhaltenspsychologie nicht mit allgemeinen psychologischen Gesetzmäßigkeiten, sondern mit den unterschiedlichen psychischen Eigentümlichheiten wie Typen-, Alters-, Gruppen-, Geschlechts-, Intelligenz-, Leistungs- und Persönlichkeitsunterschieden.
Diese Unterschiede werden als spezielle Auswirkungen biologischer, psychologischer und sozialer Ursachen verstanden, wobei die Frage gestellt wird, welche gegenwärtige Eigenheit des Organismus Art und Grad seiner Anpassung bestimmt. Mittels statistisch auf Validität und Reliabilität geeichter Messmethoden, wie Tests, Fragebögen und Psychogramme, versucht man, die genannten Verschiedenheiten zwischen Individuen und Gruppen aufzuzeigen und durch Erb-Hypothesen, Milieufaktoren und Lernprozesse zu erklären. Am meisten ausgebaut sind hierbei die sog. Leistungs- und Fähigkeitstests (Abb. 9).
Durch Berechnung der Extrem- und Mittelwerte von Testergebnissen verschiedener Populationen oder Gruppierungen werden Leistungsskalen erstellt, in welche die Leistungen von Einzelpersonen oder Gruppen eingetragen und so beurteilt werden.
Bei diesen Messungen und Vergleichen geht es also nicht um die Feststellung des Zusammenhangs zwischen einer objektiven Reizgröße und der subjektiven Wahrnehmung wie in der Psychophysik und in der physiologischen Psychologie, auch nicht um die Registrierung der Auswirkung objektiver Bedingungen auf das Verhalten wie in der Verhaltensforschung, sondern um die Messung individueller Eigenschaften und deren Einordnung in eine Leistungsskala, die von mehr zu weniger oder umgekehrt verläuft. Dabei werden nur jene Äußerungsformen des Menschen erfasst, die sich statistisch auswerten lassen. Subjektive Erlebnisse und Spontanreaktionen, die statistisch nicht verwertbar sind, werden ausgeklammert, weil sie nicht in die Exaktheit des Verfahrens passen.
Diese Ausgrenzung subjektiver Einflüsse auf das Testverfahren wurde in letzter Zeit stark bemängelt, nicht nur, weil dadurch die individuelle Eigenart und Kreativität vernachlässigt werden, sondern vor allem auch weil die Exaktheit des Verfahrens noch kein Garant für die Realitätsbezogenheit der Resultate ist.13