Die Ausstellung des Grabtuches von Turin zwischen 10. April und 23. Mai 2010 mit dem Besuch von Papst Benedikt XVI. am 2. Mai 2010 war nicht nur Anziehungspunkt zahlreicher Pilger, sondern auch Anlass zur Information über den aktuellen Stand der Forschung, insbesondere auf dem International Workshop on the Scientific Approach to the Acheiropoietos Images, der vom 4.-6. Mai 2010 am ENEA Forschungszentrum (National Agency for New Technologies, Energy and the Environment) in Frascati bei Rom unter der Leitung von Dr. Paolo Di Lazzaro, dem Verantwortlichen des Excimer Laser-Labors am Forschungszentrum Enea, stattfand.1 Auf dem Programm standen neben dem Grabtuch von Turin auch der Schleier von Manoppello2, die Tilma von Guadalupe3 und das Schweißtuch von Oviedo4. Ich selbst steuerte einen Beitrag zum Schleier von Manoppello bei.
Die Ausführungen zum Grabtuch werden hier aufgeteilt in Grabtuch-Geschichte und Körperabdruck und Körperbild wiedergegeben.
GRABTUCH
Als Grabtuch von Turin wird jenes seit 1578 im Dom von Turin aufbewahrte Leinen bezeichnet, auf dem die schwache Abbildung der Vorder- und Rückseite eines auf dem Rücken liegenden Mannes zu sehen ist (Abb. 1). Das Tuch ist 442,5 cm lang und 113 cm breit. Die Untersuchungen haben ergeben, dass es sich um ein antikes Leinentuch handelt, auf dem sich Spuren von Blut und Brandspuren, Feuchtigkeitsflecken sowie Pollen und Erdreste befinden. Die zahlreichen Spuren von Blutserum (klare Flüssigkeit aus Wasser, Eiweißstoffen und Salzen, die bei der Blutgerinnung abgesondert wird) und Bilirubin (gelblicher Gallenfarbstoff, der sich beim Abbau des roten Blutstoffes Hämoglobin bildet) lassen darauf schließen, dass das Tuch einen toten Mann umhüllte, der schwer misshandelt worden war. Zudem zeigt die Anordnung der Blutspuren, wie noch näher ausgeführt wird, dass der Tod des Mannes durch Kreuzigung erfolgte, was sich mit den Berichten der Evangelien über das Leiden und den Tod Jesu Christi deckt.
Abb. 1: Beim Grabtuch von Turin handelt es sich um ein rechteckiges Leinen im Ausmaß von 442,5 x 113 cm. Zwischen den beiden dunklen Linien – Brandspuren aus dem Jahre 1532 – ist links die Vorderseite und rechts die Rückseite des Leichnams eines Gekreuzigten zu erkennen. Man beachte die Wunde in der rechten Rippengegend, die Spuren der Geißelung, der Dornenkrone sowie der Nägel an Händen und Füßen. All diese Zeichen erinnern stark an die Aussagen der Evangelien über die Passion Jesu.
Das Tuch muss man sich als entfaltete Umhüllung vorstellen, weshalb auf der Abbildung die rechte Seite nach unten und die linke nach oben zu liegen kommt.
Neben den Blutspuren, die sich beim Umhüllen des Leichnams mit dem Tuch gebildet haben, sind noch schwache gelb-bräunliche Körperumrisse zu sehen. Da unter den blutbefleckten Stellen kein Bild erkennbar ist, muss davon ausgegangen werden, dass die Aufzeichnung der Körperumrisse nach der Bildung der Blutflecken erfolgte. Zudem traten durch die verschiedenen Untersuchungen ca. 40 besondere physische und chemische Eigenschaften des Tuches ans Tageslicht, die bis heute nicht reproduziert werden konnten, geschweige denn im Mittelalter oder noch früher. Daher sind auch alle Versuche einer Nachbildung, ob nun durch Hitzeeinwirkung, Behandlung mit Pigmenten oder Eisenpulver wie auch die zahlreichen Versuche mit den verschiedensten Abdrucktechniken, bis heute gescheitert.
GESCHICHTE
Was die Herkunft des Grabtuches betrifft, so ist seine Geschichte seit dem Auffinden 1353/6 in Lirey im nordöstlichen Frankreich lückenlos; vorher klafft eine große Dokumentationslücke. Diese Lücke scheint sich nun zu schließen, wie die folgenden Ausführungen zu zeigen versuchen (Abb. 2).
Ausgangspunkt und Grundlage der Diskussion um das Grabtuch sind die Berichte der Evangelisten Mt 27,57-60; Mk 15,42-46; Lk 23,50-55, insbesondere aber Johannes 19,38-42; 20,1-10.
Bei ihrer Rückkehr, die noch vor dem Eintreffen der Soldaten zu erfolgen hatte, nahmen sie die Tücher mit. Davon sprechen die Evangelien zwar nicht, es wäre zu gefährlich gewesen, da ein Grabtuch bei den Juden als unrein galt und der Abdruck des Körperbildes höchste Unruhe ausgelöst hätte. Jedenfalls war völlige Geheimhaltung angebracht.
Manche 5 sehen in der Vision des Petrus in Apg 10,11: „Er sah den Himmel offen und eine Schale auf die Erde herabkommen, die aussah wie ein großes Leinentuch, das an den vier Ecken gehalten wurde“, einen verdeckten Hinweis auf das Grabtuch.
Wohin Grabtuch und Schweißtuch in Verwahrung kamen, bleibt nach wie vor offen. Nach dem apokryphen Evangelium an die Hebräer (entstanden um 140) kamen die Leinentücher nach der Beerdigung in den Besitz der Frau des Pilatus und dann des Evangelisten Lukas.6 Bei der ersten Christenverfolgung 41 durch den römischen Kaiser Agrippa I. wurde das Grabtuch dem Apostel Petrus übergeben, um infolge der Bedrängnisse aus Jerusalem entfernt zu werden. Die Christen flüchteten vor dem antirömischen Aufstand7, z.B. nach Pella, Antiochien, Damaskus. So kam das Grabtuch nach Antiochien in Syrien, wohin sich Petrus begab, wie Paulus berichtet: „Als Kephas aber nach Antiochia gekommen war, bin ich ihm offen entgegengetreten“ (Gal 2,11). Nach Notizen der Kirchenväter wurde Petrus dort zum Gründer und Haupt der christlichen Gemeinde sowie der erste Bischof. 8
Antiochien
Daher sagt auch der Historiker Jack Markwardt, dass das Grabtuch bereits in Apostolischer Zeit nach Antiochien (Abb. 3) kam.9
Es ist somit nicht verwunderlich, dass man bereits 70 n. Chr. im Libanon und in Syrien von einer alten Darstellung sprach, auf welcher der misshandelte Jesus aus den Wunden der Hände und der Seite sowie aus den Verletzungen durch die Spitzen der Dornenkrone blutet.10
Im vierten Jahrhundert bestätigt Bischof Athanasius von Alexandria, dass das Grabtuch in Jerusalem war und sich 68 in Syrien befand:
„Doch zwei Jahre bevor Titus und Vespasian die Stadt plünderten, wurden die Gläubigen und die Jünger Christi vom Heiligen Geist aufgefordert…, nach dem Verlassen der Stadt in das Reich von König Agrippa zu übersiedeln, weil er nun mit den Römern verbündet sei.
Beim Verlassen der Stadt nahmen sie alles in diese Gebiete mit, was nach ihrem Ermessen zum Kult unserer Religion und unseres Glaubens gehört. Von dieser Zeit an blieb die mit den übrigen kirchlichen Gegenständen weggetragene Ikone bis heute in Syrien. Ich besitze diese Informationen, die ich von meinen Eltern, die in diesem Lichte mitwanderten, als rechtliches Vermächtnis erhalten habe, bis heute. Das ist der sichere und offenkundige Beweis, dass die heilige Ikone des Herrn und Erlösers so von Judäa nach Syrien kam.“ (Athan. opp II 353c.)
Diese Ikone, die nach der Plünderung des Schatzes der Goldenen Basilika von Antiochien durch den Heidenkönig Julian 362 nicht mehr erwähnt wurde, tauchte erst in der Zeit um 526-540 im Cherubim-Distrikt von Antiochien wieder auf. 11
Der Cherubim geht darauf zurück, dass Titus im Jahre 70 versuchte, die antisemitischen Gefühle zu besänftigen, indem er auf das Süd-Tor der Stadt Cherubim-Statuen stellte, die er dem Tempel von Jerusalem entwendete, woraufhin das Cherubim-Tor (Abb. 4) und der umliegende Bereich, der das jüdische Viertel oder Kerateion umfasste, Cherubim genannt wurde.12
Im 2. Jahrhundert ersuchte dann Abgar VIII. d. Gr. Papst Eleutherius (um 177-185, Abb. 5) um die Christianisierung von Edessa, worauf dieser sofort reagierte. Er berief den Bischof von Hierapolis, Avircius Marcellus (Abb. 6), nach Rom, wo er Abgars Frau, Queen Shalmath, vorgestellt wurde.13 Von Rom ging Avircius dann nach Syrien, wie in seiner 1883 entdeckten Grabinschrift zu lesen ist:
„Ich sah das Land Syrien und all seine Städte, Nisibis sah ich, als ich den Euphrat überquerte.“ 14
Antiochien war damals die Hauptstadt Syriens; Edessa wurde Ende des zweiten Jahrhunderts die wichtigste Stadt im Osten Syriens. Ein weiterer Text der Grabinschrift wird meistens mit: „Überall hatte ich Brüder. Ich hatte Paul“ (Abb. 7) wiedergegeben. Dies suggeriert, dass Avircius von einem gewissen Paul begleitet wurde. Nun aber diente nach der Doctrina Addai 15 ein christlicher Mann namens Palut dem Missionar Addai und nahm nach dessen Tod in der Kirche von Edessa eine führende Rolle ein.
198 wurde nämlich von Bischof Serapion von Antiochien ein Kleriker mit Namen Palut beauftragt, die orthodoxe Kirche in Edessa zu errichten. Zwei Jahre später wurde er zum ersten Bischof von Edessa geweiht.16 Nimmt man nun nach Markwardt an, dass es sich bei Palut um den ebenso historischen wie legendären Bischof von Edessa handelt, der an der Evangelisierung der Stadt beteiligt war, so scheint die Inschrift zu bestätigen, dass er sich der Mission von Eleutherius anschloss, weshalb der oben genannte fragliche Satz übersetzt werden sollte mit: „Palut war bei meinem Aufenthalt in Syrien mein Begleiter.“ 17
Was nun das Grabtuch betrifft, so wurde dieses nicht nur von St. Symeon Stylites dem Jüngeren (* 521) im Cherubim gesehen,18 denn Johannes Moschos (540 oder 550-620), ein byzantinischer Mönch, weiß Folgendes zu berichten:
Das Bild wurde im Cherubim verehrt und 362 von einem Kleriker, der es bewachte, der Konfiszierung entzogen und in einer Nische oben am Cherubim-Tor in Sicherheit gebracht, wo es dann erst 530 im Rahmen von Restaurierungsarbeiten wiederentdeckt wurde. Antiochien wurde nämlich 525 von einem großen Feuer und 526 und 528 von Erdbeben heimgesucht, bei dem die Kathedrale, die Goldene Basilika, zerstört wurde.
Während des persischen Angriffs 540 wurde das Süd-Tor, durch das die römischen Soldaten und die Einwohner von Antiochien flüchteten, von den Persern gemieden. Dies bot die Möglichkeit, das Bild Christi nach Edessa, von dem heute nur noch Ruinen übrig sind (Abb. 8), wohl zunächst ebenfalls in einer Nische in Sicherheit zu bringen. Dort wurde das Grabtuch dann in der Hagia Sophia, der neuen Kathedrale, mit Symbolen der Cherubim in Erinnerung an den Aufenthaltsort in Antiochien verehrt. 19
Edessa
Nach dieser Beschreibung der Hypothese, dass das Grabtuch zunächst von Jerusalem nach Antiochien kam, wird die vielfach vertretene Auffassung, dass es schon vor 540 nach Edessa, dem heutigen Urfa in der Türkei, gelangte, relativiert. Das Bild von dem die Rede ist, bezieht sich vornehmlich auf die Legende, dass Abgar V. von Jesus ein Abbild erhielt. So spricht Eusebius von Caesarea (ca. 260-339) von einem Abbild in Edessa und berichtet von einem angeblich aus dem Archiv von Edessa stammenden Brief an König Abgar (h.e.I, 13; II, 6-8).
Dieser erstmals bei Eusebius erwähnte „Abgarbrief“ fußt auf der Abgar-Legende, nach der König Abgar V. Ukama (4 v.-7 n. Chr. und 13-50 n. Chr.), König von Edessa (Osrhoene), zur Gründung der Kirche von Edessa einen Briefwechsel mit Jesus gehabt hätte, wovon in der aus dem frühen 4. Jh. stammenden Doctrina Addai20 in syrischer Sprache die Rede ist (Abb. 9):
„Als Hannan, der Archivar, sah, dass Jesus so zu ihm redete, stellte er, da er der Maler des Königs war, ein Porträt von Jesus mit erlesenen Farben her und brachte es zu Abgar, seinem König und Meister. Als Abgar, der König, das Porträt sah, nahm er es mit großer Freude in Empfang und gab ihm einen Ehrenplatz in einem seiner Paläste.“21
Der Schreiber der Doctrina Addai wird in den Archiven den Bericht gefunden haben, dass Abgar V. an einer Lähmung litt und seinen Unterhändler zum Römischen Gouverneur in Eleutheropolis sandte. Nach Daniel Scavone kann diese Information jedoch nur aus der Zeit von Lucius Abgar VIII. d. Gr. (177-212) stammen, da die Stadt Beth Gubrin erst vom römischen Herrscher Lucius Septimus Severus um 200 in Eleutheropolis umbenannt wurde. Abgar VIII. habe diese Brieflegende von Abgar V. erfunden und in das Archiv eingefügt, um sein Land durch einen direkten Schüler Jesu zu bekehren.22
Zur weiteren Begründung verweist Scavone auf den Liber Pontificalis aus dem 6. Jh., nach dem König Lucius Abgar VIII. einen Brief an Papst Eleutherius (175-189) mit der Bitte um Missionare zur Glaubenspredigt für seine Stadt schickte.23 Zudem wissen wir von dem bedeutenden römischen Geschichtsschreiber Cassius Dio (150-235)24, dass Abgar, nun ein Freund des Römischen Reiches, zur Zeit von Papst Eleutherius eine Staatsvisite nach Rom buchte.
In diesem Zusammenhang sind neben der Doctrina Addai auch die Acta Thaddaei25, eine in Griechisch geschriebene apokryphe Geschichte des Apostels Judas Thaddäus, entstanden zwischen 609 und 726, zu nennen, worin ein gewisser Ananias der Überbringer des Briefes von König Abgar an Jesus ist.
„Als Ananias angekommen war und den Brief ausgehändigt hatte, schaute er Christus genau an, konnte ihn aber nicht erfassen. Dieser aber, als Herzenskenner, wusste es und verlangte sich zu waschen. Und es wurde ihm ein vierfach gefaltetes (tetradiplon) Tuch gegeben. Und als er sich gewaschen hatte, trocknete er sein Angesicht ab. Da blieb sein Bildnis in dem Tuche (Sindon) eingeprägt, und er gab es dem Ananias…“26
Nach Scavone erkannte Abgard VIII. für seine Zeit mit den vielen Sekten den Wert der Bekehrung von Edessa. Um hier den orthodoxesten Glauben zu verkünden, wie er in direkter Verbindung mit Jesus selbst empfangen wurde, kam ihm die Geschichte von der Bekehrung Abgars V. im ersten Jahrhundert und die Rolle des Judas Thaddäus gelegen, um sie in die Archive einzufügen, wenngleich sie wegen der Nennung von Eleutheropolis und anderer Namen erst 150 Jahre später entstanden sein kann. Jedenfalls gab es damals kein Mandylion in Edessa.27 Wohl aber kam dem Brief an Abgar V. besondere Verehrung zu. So kommt auch Egeria (Aetheria), die Verfasserin des frühesten von einer Frau geschriebenen Pilgerberichtes (Itinerarium Egeriae), der erst 1884 entdeckt wurde, bei der Beschreibung ihrer Reise in das Heilige Land in den Jahren 381-384 auf den Brief Jesu zu sprechen, der in Edessa aufbewahrt wurde und von dem man Kopien als Talisman benutzte. Dies besagt auch, dass der Brief an Abgar in Edessa schon länger bekannt war.28
Epiphanius (315-403), Bischof von Salamis auf Cypern, schreibt in einem Brief von 394 an Bischof Johannes von Jerusalem, dass er in einer Kirche in Anablatha bei Bethlehem ein Tuch mit einem umrisshaften Bild wie von Christus oder irgendeinem Heiligen heruntergerissen habe, da es den Stellenwert der Hl. Schrift unterminiere. Der aufgebrachten Umgebung habe er entgegnet, man könne es ja als Leichentuch für einen Armen verwenden.29
Dies besagt, dass das Tuch entsprechend groß gewesen sein muss. Wann das Bild nach Edessa gelangt war, ist nach dieser Version umstritten. Nach Diana Fulbright kam es erst Mitte des 6. Jahrhunderts dorthin30, da es erstmals in den Acta Thaddaei als vierfach gefaltetes Tuch erwähnt wird, also wohl 540, wie der Mönch Moschos berichtet.31 In Edessa wurde 544 das Bild mit dem Antlitz Jesu in einer Nische gefunden, das dann die Befreiung der Stadt durch König Cosroe I. Anushirvan (Abb. 10) von der persischen Belagerung bewirkt haben soll. Von dem Antlitz wurden mindestens zwei Kopien angefertigt, welche jeweils in der Kirche der Nestorianer und der Jakobiten verehrt wurden, während man dem authentischen Bild, dem Mandylion, wie es die Byzantiner nannten, in der von den chalkedonischen Melchiten betreuten Großen Kirche Hagia Sophia huldigte 32, die als Heiligtum für das Grabtuch errichtet wurde, wobei man symbolisch Elemente wie die Cherubim von Antiochien einfließen ließ.33
In Edessa wurde dann das berühmte Sindon, wie aus dem Bericht über die Feiern zur Ausstellung des Grabtuches hervorgeht, über Jahrhunderte hindurch jeweils zu Ostern der Öffentlichkeit in einer besonderen Weise feierlich gezeigt: zur ersten Stunde (6 Uhr früh) wurde das Bild von Jesus als Kind, um die 6. Stunde (mittags) als Jüngling und um die neunte Stunde (3 Uhr) als Gekreuzigter Jesus gezeigt.34
Während sich Evagrius und weitere Berichte auf die Abbildung des Antlitzes Christi beziehen, ist im Traktat des ansonsten völlig unbekannten Erzarztes Smira aus dem 7. Jahrhundert davon die Rede, dass das Mandylion ein Leinentuch mit dem Abdruck des ganzen Körpers sei.35
Konstantinopel
All diese Hinweise bezeugen, dass das Mandylion, wie die Byzantiner das Edessabild nannten, schon frühzeitig weithin bekannt war. Zur vollen Geltung kam es jedoch nach dem Bilderstreit, der 843 zu Ende ging. Zum 100-jährigen Jubiläum des endgültigen Sieges der Bilderverehrer wird jener einzigartig dastehende Krieg geführt, der die Armee der Byzantiner 943 siegreich bis nach Edessa führt und die Moslems durch den Verzicht auf die Erstürmung der Stadt und die Freilassung der Gefangenen zur Herausgabe des Christusbildes bewegt.
Das Bild wird anschließend im Triumphzug nach Konstantinopel gebracht, wo es am 15. August 944, dem Fest Maria Aufnahme in den Himmel, eintrifft. Für eine erste Verehrung wurde es in der Kirche St. Maria im Blachernenviertel aufgestellt. Am Tag darauf fand die feierliche Übertragung des Reliquiars durch die Straßen von Konstantinopel in die Hagia Sophia statt. Von hier aus wurde der Schrein mit dem Mandylion zum Bukoleonpalast des Kaisers und von dort zur Pharoskapelle von St. Marien gebracht. Davon zeugen die Kaiser Konstantin VII. von Konstantinopel (912-959) zugeschriebene Homilie und jene Gregors des Referendars. Gregor sagt unter anderem, dass der Abdruck (das Tuch) von Christus sei, den man nun nach 919 Jahren von Edessa, wohin er gebracht worden war, aufgrund persönlicher Interessen des frommen Kaisers habe kommen lassen.36
In Konstantinopel kam es dann nach der Überführung des Tuches von 944 zu einer neuen Form der Eucharistiefeier, Melismos (griech., der Zerteilte, Fraktion des Brotes) genannt. Man brachte dabei einen Leib Brot in einem Kelch (Kylix) in Form einer Schale mit einem Tuchbild vom Kinde Jesu zum Altar. Dann wurde das Tuch weggenommen und das Brot mit einer kleine Lanze zerteilt. Beim Empfang des Leibes, bei der Kommunion, wandelte sich das Jesuskind symbolisch in den erwachsenen Jesus des letzten Abendmahls und der Kreuzigung.37 Diese Symbolik wurde von Edessa übernommen. 1147 huldigt auch König Ludwig VII. von Frankreich anlässlich eines Besuches in Konstantinopel dem dort aufbewahrten Grabtuch.
1204 schreibt der Chronist des vierten Kreuzzuges, Robert de Clari, in seinem Werk La Conquête de Constantinople, dass vor der Eroberung (Abb. 11) Konstantinopels durch die Kreuzfahrer am 14. April 1204 in der Kirche von St. Maria im Blachernenviertel jeden Freitag ein „sydoine“ ausgestellt wurde, auf dem das Abbild Christi deutlich sichtbar war. Als es aber in die Hände der Kreuzfahrer fiel, so fügt er hinzu, wüssten seitdem weder ein Grieche noch ein Kreuzritter, was mit dem Grabtuch nach Einnahme der Stadt geschah.38
1205 berichtet Theodor I. Laskaris, Kaiser von Byzanz (1204-1222), dass sich das Grabtuch nach der Eroberung der Stadt durch die Lateinischen Kreuzfahrer in Athen befinde.39
Das Tuch verschwand also aus Konstantinopel und wurde – wahrscheinlich aus Angst vor der Exkommunikation, die damals auf Diebstahl von Reliquien stand – an einem geheimen Ort aufbewahrt, bis es 1353/56 in Lirey auftauchte. Wo aber befand sich das Tuch in der Zwischenzeit?
Von Konstantinopel zum Chateau de Ray-sur-Saône
in Frankreich
Von den vielen Hypothesen zum Weg des Grabtuches von Konstantinopel nach Lirey in Frankreich – wie die Templerhypothese, die Smyrna-Theorie, die Sainte Chapelle-Hypothese – erweist sich nach Daniel Scavone die Besançon-Hypothese als die überzeugendste und beruft sich dabei auf folgende sehr einleuchtende Daten:
Othon de la Roche (Abb. 12), ein burgundischer Adeliger, der beim Kreuzzug als führende Persönlichkeit in Erscheinung trat, wurde das wichtige Lehen von Athen zuerkannt und auf irgendeine Weise erwarb er 1204 in Konstantinopel zusammen mit anderen Reliquien auch das Grabtuch. Othon war seit Ende 1204 Herr von Athen.40
Von einem Aufenthalt des Grabtuches in Athen spricht auch der Brief vom 01.08.1205, den Theodor Angelos an Papst Innozenz III. (Abb. 13) schrieb, worin er beklagt, dass das Grabtuch Jesu nach Athen gebracht wurde. Führende Vertreter der Griechen hofften, dass päpstliches Eingreifen die Rückkehr des Grabtuchs und anderer Reliquien in griechischen Besitz bewirken könne. War der Brief an den Papst wirklich authentisch?41
Dafür spricht, dass Innozenz III. 1205 daran dachte, alle Führer der Streitkräfte des Kreuzzuges wegen der Plünderung des christlichen Konstantinopel zu exkommunizieren. Hinzu kommt noch, dass in den Jahren unmittelbar nach der Eroberung Konstantinopels 1204 durch die Lateiner, Nicholas von Otranto (1155-1235), der Abt des Klosters von Casole in Süditalien, der persönliche Übersetzer des neu inthronisierten lateinischen Patriarchen, Benedict von Santa Susanna, war. Beide sprachen mit dem griechischen Klerus in der Hoffnung auf Versöhnung. Nicholas‘ Bericht wurde lateinisch und griechisch abgefasst. Sein Hinweis auf das Grabtuch findet sich im Rahmen einer Diskussion von 1207 über das Kommunionbrot.42 Dabei bemerkt er, dass unter den verlorenen Passionsreliquien, die Nicholas aufzählt, gesäuertes Brot und das Grabtuch Jesu waren. So schreibt er:
„Als die Stadt von den französischen Rittern eingenommen wurde, drangen sie als Räuber auch in die Schatzkammer des Großen Palastes, wo die heiligen Gegenstände aufbewahrt wurden, und sie fanden unter anderen Dingen das wertvolle Holz, die Dornenkrone des Erlösers, die Nägel [sic], und das Grabtuch, das wir später mit eigenen Augen sahen … und das Brot, das Christus beim letzten Abendmahl unter den Jüngern verteilte.“43
Es kann also nur in Athen gewesen sein, wo Nicholas das Grabtuch „mit eigenen Augen“ sah. Wichtig ist dabei auch, dass er sagt, wir sahen es nach der Plünderung der wertvollen Reliquien durch die Kreuzfahrer.44 1982 legte Antoine Legrand ein anderes Dokument vor, einen Brief, den ebenfalls Pasquale Rinaldi in den Vatikan-Archiven der Bibliothek von Santa Caterina a Formiello in Neapel gefunden hat. Es ist ein Brief, den angeblich der byzantinische Kaiser Alexius V. Mourtzouphlus nach seiner Flucht aus Konstantinopel im April 1204 selbst an Papst Innozenz III. geschrieben hat. Darin beklagt er, dass er bei der Eroberung der Stadt den Thron verlor, im Exil sei und dass die Kreuzritter das Gold aus dem kaiserlichen Schatz genommen, „sein“ Heiliges Grabtuch gestohlen hätten und Othon la Roche es nach Athen brachte. Legrand ist sich sicher, dass dieser Brief den Besitz des Grabtuches Jesu durch Othon und Besançon beweist, das nach dem vierten Kreuzzug nicht mehr in Konstantinopel war.45
Als die Kreuzfahrer am 14. April 1204 die Kontrolle über die byzantinische Regierung übernahmen, war Othon unter den Burgundern, die Heinrich von Flandern folgten und in Blachernes Palast wohnten.46 Es gibt zwar keinen dokumentarischen Beleg, dass Othon in Blachernes war, doch der schon erwähnte Brief Theodors von Epirus von 1205 zum Grabtuch Jesu in Athen zeigt, dass Othon vor 1205 in dessen Besitz kam. Othon wurde im November 1204 Herr von Athen.
1205 fiel Balduin I., lateinischer Kaiser von Byzanz. 1206 folgte ihm sein jüngerer Bruder Heinrich auf den Thron. Unmittelbar darauf wurde Othon persönlich mit dem Heiratsangebot der Tochter des Bonifatius von Montferrat, Agnes, zum jungen Kaiser gesandt. Bei der Hochzeitsfeier 1207 in der Hagia Sophia und im Kaiserpalast betraute Kaiser Heinrich Othon offiziell mit dem Schutz des Grabtuches bzw. bestätigte ihn als Protektor..47
Im April 1209 half Othon Kaiser Heinrich, den Widerstand der Griechen unter der Führung Theodors von Epirus zu begrenzen, und kämpfte mit ihm erfolgreich gegen die Lombarden, die Theben an Othon zurückgeben mussten. Daraufhin besuchte der Kaiser Othon in Athen, was seinen besonderen Stellenwert untermauert.48
Es ist daher nach Scavone ganz logisch, dass Othon das Grabtuch in sein Chateau de Ray-sur-Saône (Abb. 14) in Burgund, nahe Besançon, in Sicherheit brachte, lieferten doch Michel Bergeret und Alessandro Piana 49 den Beweis, dass sein Schloss der Dauersitz des Grabtuches war. Dort werden im alten Turm zahlreiche Familienschätze aufbewahrt, darunter Gegenstände aus dem vierten Kreuzzug, die von Othon de la Roche direkt dorthin gebracht wurden. Unter diesen Gegenständen findet sich auch eine alte Holztruhe mit folgender Inschrift auf der Etikette:
„Koffer aus dem 13. Jh., in dem das Grabtuch Christi auf dem Schloss in Ray aufbewahrt wurde, das Otho de Ray 1206 von Konstantinopel brachte.“
Der Koffer (Abb. 15) ist 45 cm lang, 25 cm breit und 30 cm tief..50 Seine Ausmaße sind sehr ähnlich jenem, in dem das Grabtuch von Chambéry nach Turin gebracht wurde (Abb. 16).
Doch wo wurde das Grabtuch nach der Ankunft aus Konstantinopel in Athen aufbewahrt?
Nach Piana war die Festung der Akropolis der logische Platz. Es musste irgendwo aufbewahrt werden, zumal der Schlossturm von Ray noch nicht bestand.51 Wann gelangte das Grabtuch dann nach Frankreich? Darüber gibt es mehrere Theorien.
Zum einen ist es nicht unmöglich, dass Othon um diese Zeit nach Frankreich kam. Eine andere Möglichkeit wurde von dem byzantinischen Forscher P. Riant genannt, der darauf hinweist, dass Pons de Lyon 1219 in einer besonderen Mission nach Burgund geschickt wurde. Es ist daher nicht auszuschließen, dass Pons aufgrund seiner Beziehung zu Kaiser Heinrich und Othon 1219 das Grabtuch zum Chateau de Ray brachte. 52 J. Longnon berichtet von dieser Mission und fügt hinzu, dass er mit sicherem Geleit und einem Kreditbrief von „500 livres“ ausgestattet war.53
Ein Hinweis auf die Anwesenheit Othons in Athen findet sich in einer päpstlichen Bulle von Honorius III. vom 12. Februar 1225, genau dem Jahr, in dem die Herrschaft von Athen auf seinen Sohn Guy überging und der erste Herr von Athen nach Frankreich zurückkehrte. 54 Es ist auch möglich, dass Othon das Grabtuch erst bei seiner endgültigen Rückkehr nach Frankreich mitnahm. Das besagt nach Piana, dass sich das Grabtuch während der berühmten unbekannten Jahre auf Chateau de Ray-sur-Saône in Burgund befand, ohne damit das letzte Wort gesprochen zu haben.55
Von Lirey nach Turin
Nach dem Tod Othons 1234 ging das Grabtuch dann auf seine Nachkommen über, in der vierten Generation auf Jeanne Vergy (ca. 1320-1388) auf Schloss Montfort. Als daher am 6. März 1349 in der Kathedrale von St-Étienne in Besançon, wo man das Grabtuch vermutete, Feuer ausbrach und alles den Flammen zum Opfer fiel, überlebte dieses zunächst unbeschadet in der Sicherheit des Chateau de Ray-sur-Saône.
Lirey
Am 16. April 1349 schrieb Geoffrey I., ein bedeutender Mann im damaligen Frankreich, an Papst Clemens VI., um ihn von seiner Absicht in Kenntnis zu setzen, in Lirey, einem kleinen Dorf seines Lehens, eine Kirche mit fünf Kanonikern zu stiften, was ihm vom
Papst gewährt wurde. Seine Gefangennahme durch die Engländer im gleichen Jahr verzögerte jedoch den Bau des Stiftes mit der Holzkirche Maria Verkündigung, wofür er von König Johann dem Guten eine jährliche Rente erhielt. Der Bau wurde am 1. Juli 1353 eingeweiht. Durch die Heirat von Jeanne Vergy mit Geoffrey I. von Charny zwischen 1351 und 135456 kam das Grabtuch in die von Geoffrey gebaute Kirche in Lirey (Abb. 17).
1355 kam es dann zur ersten öffentlichen Ausstellung, wie ein kleines Pilgermedaillon zeigt, das 1855 in Paris im Schlamm der Seine gefunden wurde. Auf ihm sind das Tuch mit dem Doppelgesicht von Jesus und die Wappen von Geoffroy I. de Charny und seiner zweiten Frau Jeanne Vergy abgebildet (Abb. 18). Doch noch im Jahre 1355 befürwortete Geoffroy als „Herr von Savoisy und Monfort“, das Grabtuch wegen der gefährlichen britischen Präsenz im Hundertjährigen Krieg (1337-1453) auf Schloss Montfort in Sicherheit zu bringen.57
Nach dem Tode Geoffroys, der am 19. September 1356 in der Schlacht von Poitiers gegen England fiel, blieb die Reliquie im Besitz seiner Witwe, Jeanne Vergy, die sich in das Schloss der Familie bei Montfort-en-Auxois zurückzog und dabei das Grabtuch aus Lirey mitnahm. Ihr Sohn Geoffroy II. brachte es später wieder nach Lirey und ersuchte 1389 den Gegenpapst Clemens VII. in Avignon, das Grabtuch erneut in Lirey auszustellen. Das Gesuch ging an den örtlichen Legaten des Papstes, der die Ausstellung befürwortete, damit aber die Zuständigkeit des Ortsbischofs von Lirey, Peter von Arcis, Bischof von Troyes, verletzte, der nicht nur die Ausstellung verbot, sondern überhaupt auch nur vom Grabtuch zu sprechen. Er verfasste sein berühmtes „Memorandum“ an Clemens VII., aus dem diese Angaben stammen. Darin beruft er sich auf die Fälschungsvorwürfe seines Vorgängers Henri II. de Poitiers (1354-1370), da er selbst nach eigener Angabe das Tuch nie gesehen habe.58 Er konnte daher auch nicht wissen, dass das nun verehrte Tuch aus dem Schloss von Montfort stammte, welches zur Zeit von Bischof Henri, der die Verehrung verbot, nach Montfort gebracht wurde.
Die Kanoniker hielten sich nicht an die Weisungen des Bischofs Peter und Clemens VII. gab die Bulle vom 6. Januar 1390 bereits am 30. Mai d. J. in modifizierter Form heraus, worin der Ausdruck „Darstellung“ gestrichen ist und die Verehrung des Grabtuches empfohlen wird.59
Chambéry
Als die Kanoniker von Lirey in den Wirren des Dreißigährigen Krieges das Grabtuch in Gefahr sahen, übergaben sie es am 6. Juli 1418 dem Grafen Humbert de Villersexel, Gemahl von Marguerite de Charny, Tochter von Geoffroy II. von Vergy und letzte Stammhalterin der Familie. Nach dem Tod Humberts 1437 verweigerte die Witwe die Rückgabe des Grabtuches, weil es von einem ihrer Vorfahren erworben worden und in den Händen der Kanoniker nicht sicher sei. Am 22. März 1453 überließ sie in Genf das Grabtuch vertraglich dem Grafen Ludwig von Savoyen und seiner Frau Anna von Lusignano. Der Protest der Kanoniker war unvermeidlich und das Kirchengericht von Besançon exkommunizierte M. de Charny am 30. Mai 1457. Als sie dann am 7. Oktober 1460 starb, wurde der mächtige Herzog von Savoyen zum Kontrahenten der Kanoniker, die er mit einer entsprechenden Summe von 50 Franken in Gold zum Schweigen brachte, welche allerdings nie ausgezahlt wurden. Das Grabtuch blieb nun bis 1983 im Besitz des Hauses Savoyen. Nach dieser rechtlichen Erwerbung brachten die Savoyer das Grabtuch in ihre damalige Hauptstadt Chambéry, in die Kirche zum Heiligen Franziskus, um es dann am 11. Juni 1502 in feierlicher Prozession in die Kapelle des herzoglichen Schlosses zu übertragen (Abb. 19).60
Am 9. Mai 1506 approbierte Papst Julius II. Messe und Brevier des Grabtuches und erlaubte die öffentliche Verehrung. Im Dokument wird das Grabtuch erstmals Sindon Salvatoris nostri Jesu Christi (Grabtuch unseres Erlösers Jesus Christus) genannt. Das Fest wurde auf den 4. Mai gesetzt.61 In der Nacht vom 3. auf den 4. Dezember 1532 kam es in der Kapelle zu einem Brand, bei dem der silberne Schrein an einer Seite so heiß wurde, dass Tropfen geschmolzenen Metalls des Deckels die 48 Schichten des zusammengelegten Tuches durchdrangen (Abb. 20).62 Sogleich verbreitete sich die Nachricht, dass das Tuch vollständig verbrannt sei, weshalb man am 15. April 1534 offiziell verlautbaren ließ, dass das Grabtuch erhalten geblieben war.
Am darauffolgenden Tag, dem 16. April, wurde es in feierlicher Prozession zum Konvent der Klarissen Sainte-Claire-en-Ville in Chambéry gebracht, die dann bis zum 2. Mai 1534 die verkohlten Teile durch Stoffstücke ersetzten.63 Diese wurden schließlich nach dem Brand von 1997 in Turin im Zuge der Konservierungsverfahren 2002 wieder entfernt.
1535 wurde das Tuch aus Sicherheitsgründen nach Turin, anschließend nach Vercelli, Mailand, Nizza und wiederum nach Vercelli gebracht. 1561 erfolgte schließlich die Rückführung nach Chambéry.64
Turin
Am 14. September 1578 brachte Herzog Emanuel Filibert das Grabtuch nach Turin, in die Hauptstadt des Herzogtums Piemont, um Karl Borromäus den beschwerlichen Weg zu verkürzen, der sich entschlossen hatte, nach Chambéry zu gehen, um dem Tuch seine Verehrung zu bekunden und so ein Gelübde einzulösen, das er bei der Pest von 1576 in Mailand gemacht hatte. Zur Aufbewahrung des Grabtuches errichtete Architekt Guarino Guarini neben dem Turiner Dom eine Kapelle, die am 1. Juni 1694 fertiggestellt wurde und wo das Grabtuch einen würdigen Platz fand (Abb. 21).65
Im gleichen Jahr wurden die Reparaturen der alten Brandschäden am Tuch durch Sebastian Valfré überarbeitet.66
Im Juni 1706 wurde das Tuch wegen der Erstürmung von Turin nach Genua gebracht und im Oktober wieder an die frühere Stelle zurückgeführt. Doch wenngleich bei verschiedenen Anlässen durch Ausstellungen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, hielt sich vor allem das wissenschaftliche Interesse in Grenzen, zumal das Tuch – seit der Reformator Calvin (1509-1564) Zweifel an dessen Echtheit anmeldete – quer durch alle weltanschaulichen Fronten hindurch zum wohl meist umkämpften Gegenstand wurde.
Die ersten Fotografien
1898 änderte sich die Situation schlagartig, als nämlich anlässlich der Ausstellung des Grabtuches vom 25. Mai bis 9. Juni der Advokat und Hobbyfotograf Secondo Pia, der ausgezeichnete Fachkenntnisse besaß, im Auftrag des Hauses Savoyen am 25. und 28.
Mai die ersten acht Fotoaufnahmen machte und die Negativplatten das Positiv des Leichnams zeigten (Abb. 22-24), was sich niemand vorstellen konnte. Es kamen Details zum Vorschein, die bis dahin verborgen geblieben waren. Eine heftige Diskussion brach los, die bis zu Morddrohungen an Pia reichte.67
Im Rahmen dieser überaus hitzig geführten Debatte demonstrierte der Agnostiker Yves Delage am 21. April 1902 an der Académie des Sciences in Paris anhand der Wahrscheinlichkeitsrechnung, dass die Eventualität, dass jemand anderer als Jesus Christus für das Abbild auf dem Grabtuch in Frage kommt, das enorme Verhältnis von 1:10.000.000.000 ergibt.68 Es folgte ein Proteststurm republikanischer Politiker und die Akademie verbot die Veröffentlichung von Delages Referat.
1931 wurde das Grabtuch anlässlich der Ausstellung zur Hochzeit von Umberto von Savoyen von dem Berufsfotografen Giuseppe Enrie (Abb. 25-26) erneut im Format 40 x 50 fotografiert; seine Detailaufnahme des Antlitzes ist bis heute unübertroffen.69 Damit sollten die Aufnahmen von Secondo Pia fachlich überprüft werden. Die Ergebnisse waren die gleichen.
Die Diskussion um Für und Wider spitzte sich zu. Wissenschaftler sprachen sich für die Echtheit aus, so z.B. auch der Präsident der Chirurgen von Paris, Pierre Barbet, mit Anatomieargumenten und der Widerlegung der Maltradition.70 Die Theologen waren vielfach dagegen. Die gespannte politische Lage verhinderte jedoch eine weiterführende Auseinandersetzung. Zudem musste das Grabtuch zu Beginn des Zweiten Weltkriegs in Sicherheit gebracht werden.
Am 25. September 1939 wurde es heimlich in die Benediktinerabtei des Heiligtums von Montevergine (Avellino) gebracht (Abb. 27) und nach Kriegsende am 31. Oktober 1946 wieder an seinen früheren Platz nach Turin zurückgeführt (Abb. 28).71 Vom 16. bis 18. Juni 1969 fand in der Kreuzkapelle des Königspalastes zu Turin eine private Ausstellung des Grabtuches statt, um der von Kardinal Michele Pellegrino einberufenen Expertenkommission zur Beurteilung des Konservierungszustandes die Möglichkeit zu geben, die künftige Vorgangsweise und die nötigen Untersuchungsmethoden auszuloten. Dabei wurden von Giovanni Battista Judica Cordiglia (Abb. 29) die ersten Farbfotogafien gemacht.
Wissenschaftliche Untersuchungen
Am 23. November 1973 erfolgte die erste Fernsehausstellung und am 24. November wurden für weitere Untersuchungen zwei Gewebsstücke und 17 Fadenstücke, darunter auch solche von „blutverdächtigen“ Stellen, entnommen. Zudem nahm der Kriminalist Dr. Max Frei (Abb. 30) aus Zürich mittels Klebefolien an 12 verschiedenen Stellen etwa 20 Staubproben ab.72
Pollenprobe
1978 wurde das Tuch im Anschluss an den Internationalen Kongress vom 7.-8. Oktober in Turin von einer internationalen Expertenkommission wie folgt untersucht:
Mikroskopie, UV-IR-Aufnahmen, Röntgenaufnahmen, Aufnahmen im durchscheinenden Licht, Spektroskopie, Massenspektrografie, Thermografie sowie Abnahme weiterer Staubproben mit insgesamt 48 Klebefolien. Frei, der ganz unerwartet 1983 starb, ohne seine Arbeiten vollenden zu können, wurde sowohl in Bezug auf seine Arbeitsmethode als auch hinsichtlich seiner Pollenanalyse heftig kritisiert, doch findet er seit neuestem unerwartet Anerkennung von zwei israelischen Forschern, nämlich Avinoam Danin und Uri Baruch, die bei ihren „Entnahmen“ auf zwei besonders in Palästina verbreitete Pflanzen stießen, Gundelia tournefortii und Cistus Creticus, welche aufgrund ihrer besonderen Charakteristik leicht identifizierbar sind. Zudem fand Danin direkt auf dem Grabtuch wie auf den Fotografien des Tuches Spuren einiger Blätter von Zygophyllum dumosum.
Dabei trafen die beiden Forscher folgende Feststellung: In den Proben Freis ist Gundelia auffallend oft vertreten; außerdem gibt es, abgesehen von Palästina, keine anderen Orte, wo sich die drei genannten Pflanzen finden. Freis Entdeckungen werden daher zwar nicht als letzter Beweis, aber als ein „starkes Indiz“ für den palästinensischen Ursprung des Grabtuches angesehen. 73
1983 vermachte Umberto II. von Savoyen das Grabtuch Papst Johannes Paul II., der dieses dem Erzbischof von Turin zur Aufbewahrung anvertraute. Eine Begegnung Umbertos II. mit Papst Johannes Paul II. fand bereits 1982 in Lissabon statt (Abb. 31).
Der Carbon-Test
Am 21. April 1988 schnitt Giovanni Ricci di Numana für einen sog. Carbon-Test ein 8,1 x 1,6 cm großes Stück zur Analyse aus (Abb. 32).
Alle Pflanzen, Tiere und Menschen auf dieser Welt haben, solange sie leben, ungefähr dieselbe Menge Kohlenstoff-14 in sich. Nach dem Tod verringert sich das unstete C14 allerdings mit der Zeit, weil die Zufuhr von neuem Kohlenstoff aus der Atmosphäre fehlt. Misst man die verbliebene Quantität von C14 in einem Befund, kann die seit dem Tod des Organismus verflossene Zeit berechnet werden, sofern der Befund nicht verunreinigt wurde. Dies traf nun gerade auf die entnommene Probe zu.
Innerhalb der Kirche war dieser Eingriff sehr umstritten. Es gab daher strenge Auflagen und man erlaubte lediglich die Entnahme einer kleinen Probe von einer beschädigten Ecke des Leichentuches in einem vom Schweiß der Hände der Aussteller verunreinigten und geflickten Bereich (Abb. 33).
Diese Probe wurde in vier Abschnitte geteilt (Abb. 34).
Ein Stück ging an die Universität Oxford, eines an die ETH Zürich und zwei kleinere Stücke wurden an die Universität von Arizona geschickt. Die Radiodatierung erbrachte ein Alter des Grabtuches von zwischen 1260 und 1390, was weltweite Reaktionen hervorrief.
M. Sue Benford und Joseph Marino (Abb. 35) machten dabei die Feststellung, dass das Fischgrätenmuster, das im übrigen Gewebe gleichmäßig verläuft, beim entnommenen Probestück Unregelmäßigkeiten aufwies.
Es handelte sich um einen beschädigten Bereich, der geflickt werden musste. Die beiden argumentierten, dass die Stelle, an der die Probe entnommen worden war, im 16. Jahrhundert dahingehend ausgebessert wurde, dass man die Leinenfäden mit Bauwollgarn verstärkte (Abb. 36). Die Flickstelle wurde dann gefärbt, sodass sie für das bloße Auge nicht sichtbar war. Sie argumentierten daher, dass sich die Carbondatierung sowohl auf Material aus dem 16. Jahrhundert als auch aus dem ersten Jahrhundert beziehe (Abb. 37) und das errechnete Ergebnis ein Durchschnittswert sei. Auf der Suche nach einem endgültigen Beweis unterzogen sie die Ergebnisse der Carbondatierung der drei verschiedenen Testzentren einer genauen Kontrolle.
Dabei entdeckten sie, versteckt hinter den Zahlen, Hinweise darauf, dass Teile der Testproben einen größeren Anteil an Baumwolle aus dem 16. Jahrhundert enthielten. Sie sahen sich die unveröffentlichten Daten an: Bei den zwei Proben in Arizona lagen die ältesten Datierungen bei 1238 und die jüngsten bei 1430. Das machte sie stutzig und sie fragten sich, ob dies vielleicht am Material lag, das jeweils von den äußeren Seiten der Probe entnommen worden war. Oxford wies die zweitälteste, Zürich mit 1376 die drittälteste Datierung auf (Abb. 38).
2000 veröffentlichten Benford und Marino74 ihre Studien, in denen sie behaupten, dass die beschädigte Ecke des Leintuches mit Baumwollgarnen geflickt worden war. Ihre Behauptungen wurden von der Wissenschaftsgemeinde sofort zurückgewiesen. Einer der Wissenschaftler, Raymund Rogers (Abb. 39), der seit 1977 am Grabtuch arbeitete, war besonders empört. Obwohl er alles für eine Spinnerei hielt, entschloss er sich doch, anhand des Originalmaterials die Probe aufs Exempel zu machen.
Im Zuge der Carbondatierung wurde die Probe zwar zerstört, doch hatten alle 1988 am Test beteiligten Labors Teile ihrer Proben aufgehoben. Bei der authentischen Carbonprobe, die Rogers bekam, waren die Garnsegmente aus der Mitte der Probe geschnitten worden und daher über jeden Zweifel erhaben. Als er sich diese Proben ansah, entdeckte er darin Baumwolle. Er war nun überzeugt, dass Benford und Marino recht hatten. Er fand aber auch andere Beweise, die sie übersehen hatten. Aus seinen eigenen 1978 durchgeführten Tests wusste Rogers, dass das Grabtuch frei von künstlichen Stoffen und Pigmenten war. Solche fand er aber, als er die vom Carbontest übrig gebliebenen Proben prüfte. So waren die Bauwollfasern der Carbonprobe erheblich mit Gummi Arabicum enthaltendem Beitzfarbstoff überzogen, während die Leinenfasern davon überhaupt nichts zeigten. Sie sahen völlig glatt aus, ohne eine Spur von dem Farbstoff. Nach Rogers wurde die Farbe dazu benutzt, die mit Baumwolle geflickte Stelle zu kaschieren, und zwar absichtlich.
2005, kurz vor seinem Tod am 8. März, bereitete Rogers seine letzte wissenschaftliche Publikation vor. Er stellte nicht den Carbontest in Frage, wohl aber die Auswahl einer kontaminierten Probe der beschädigten Ecke des Grabtuchs. Seiner Meinung nach zeigte der Carbontest aufgrund des kontaminierten Materials nicht das wahre Alter des Tuches; vielmehr gab es sehr gute Chancen, dass es sich um das Grabtuch handelte, das man benutzte, um den historischen Jesus zu begraben.
Da eine weitere Carbondatierung aufgrund der Desinfizierung des Tuches mit Thymol nicht mehr in Frage komme, schlug Rogers die Verwendung der entfernten Brandspurenreste als Untersuchungsmaterial vor. Inzwischen ist aber durch eine Reihe anderer Untersuchungen die Echtheit des Grabtuches von Turin so untermauert, dass man speziellen Methoden der Zeitdatierung mit der nötigen Vorsicht begegnet, ist doch beim Carbontest von 1988 – neben dem kontaminierten Material – auch die durchgeführte statistische Analyse der Daten nicht exakt. Eine Revision der Daten zeigt Unterschiede von zwei Jahrhunderten in nur 4 Zentimetern Gewebe. Die Carbondatierung gilt daher als nicht signifikant und nicht relevant.75
Der aktuelle Zustand des Grabtuches
1993 wurde das Grabtuch wegen Restaurierungsarbeiten hinter dem Hauptaltar des Domes von Turin platziert, was sich in anderer Hinsicht noch als providentiell erweisen sollte. 1997 kam es nämlich in der Nacht vom 11. auf den 12. April in der Grabtuch-Kapelle zu einem Brand. Glücklicherweise befand sich das Grabtuch zu diesem Zeitpunkt nicht in der Kapelle, sondern immer noch hinter dem Hochaltar des Domes, was es der Feuerwehr ermöglichte, zum Reliquiar vorzudringen. Der Feuerwehrmann Mario Trematore schlug mit seinem Vorschlaghammer so lange auf das spezielle Panzerglasgehäuse ein, bis es zerbrach und das Tuch gerettet werden konnte, das unbeschädigt blieb (Abb. 40). Im Juni 1997 fand dann für neue Aufnahmen eine private Ausstellung statt. Die Fotografien machte Giancarlo Durante.76
1998 fand vom 18. April bis 14. Juni – zur Jahrhundertfeier der ersten Fotoaufnahmen durch Secondo Pia am 25. und 28. Mai 1898 – eine öffentliche Ausstellung im neuen Reliquienschrein statt.
Im Jahr 2000 wurde vom 26. August bis 22. Oktober aus Anlass des Heiligen Jahres eine weitere öffentliche Ausstellung durchgeführt. Vom 2. bis 4. November 2000 erfolgten dann Aufnahmen mit dem Scanner, zudem wurden zahlreiche Fotografien in Schwarz-Weiß und in Farbe gemacht. Am 22. Dezember wurde das Grabtuch wieder in den neuen Reliquienschrein gegeben (Abb. 41).
Vom 25. bis 26. April 2002 fand in Paris das IV. Internationale wissenschaftliche Symposium zum Grabtuch von Turin statt, auf dem ich die Deckungsgleichheit des Antlitzes auf dem Grabtuch mit der Veronika unter Beweis stellen konnte.
Zwischen 20. Juni und 23. Juli 2002 wurden dann am Grabtuch größere Eingriffe vorgenommen: Die Ausbesserungen durch die Klarissen von 1534 und alle Brandränder wurden entfernt, eine Scanner-Aufnahme der Vorder- und Rückseite durchgeführt sowie eine vollständige Foto-Dokumentation erstellt. Schließlich wurde auf der Rückseite ein neues Leinen angenäht. Dieser Eingriff rief in der Fachwelt großes Erstaunen hervor, da er vielen nicht notwendig erschien.
2010 wurde das Grabtuch vom 10. April bis 23. Mai in einer außerordentlichen Ausstellung im Dom zu Turin der Öffentlichkeit gezeigt (Abb. 42).
GW 60 (2011) 2, 149-181