Andreas Resch: Marienerscheinung von Beauraing (1932/33)

Am 10. Februar 2015 starb im Alter von 91 Jahren nach längerer Krankheit Gilberte Degeimbre, die letzte noch lebende Seherin der Marienerscheinungen von Beauraing, einer Gemeinde in der französischsprachigen Provinz Namur in Belgien (Abb. 1). Gemeinsam mit vier weiteren Kindern hatte sie zwischen dem 29. November 1932 und dem 3. Januar 1933 insgesamt 33 Marienvisionen erlebt. Die Erscheinungen wurden von der Kirche 1949 offiziell anerkannt. Nach kirchlichen Angaben sind bisher zwei medizinisch unerklärliche Krankenheilungen dokumentiert, die sich auf Beauraing beziehen. Schätzungen zufolge sollen jährlich zwischen 250.000 und 300.000 Pilger den Ort der Erscheinungen besuchen.

Abb. 1: Beerdigung von Gilberte Degeimbre

Marienerscheinungen von Beauraing

Am 29. November 1932 erklärten fünf Kinder (Abb. 2), nämlich Andrée Degeimbre (14 J.), Fernande Voisin (15 J.), Gilberte Voisin (13 J.), Gilberte Degeimbre (9 J.) und Albert Voisin (11 J.), also die Geschwister zweier Familien, innerhalb des Grundstücks der Schwestern von der Christlichen Liebe unweit der Pfarrkirche, bevor sie die Haustür des dortigen Internats erreichten, eine weißgekleidete Frau im Profil gesehen zu haben, die über der im Garten befindlichen Lourdesgrotte in der Luft spazieren ging.

Abb. 2: Die 5 Seherkinder von Beauraing

Sie wiesen die Ordensschwester, die ihnen die Tür öffnete, darauf hin. Diese sah jedoch nichts und hielt die Behauptungen der Kinder für ein Hirngespinst. Als aber Gilberte Voisin dazukam, die eine halbinterne Schülerin des Internats war und daher jeweils abends von den Angehörigen abgeholt wurde, erblickte auch sie sofort die Erscheinung. Die Ordensschwester verstand daraufhin die Welt nicht mehr. Auch in ihren Familien stießen die Kinder mit ihren Erzählungen auf strikte Ablehnung – insbesondere bei der Mutter Degeimbre, einer politisch liberalen, aber katholisch-praktizierenden Landwirtin, die bereits mit 34 Jahren Witwe wurde. Der Vater Voisin, Eisenbahner, politisch linksorientiert, katholisch-gläubig, jedoch nicht praktizierend, und seine Frau, zeigten zunächst ebenfalls kein Verständnis. Ungeachtet der massiven Widerstände verspürten die Kinder den Drang, ihrer inneren Überzeugung zu folgen, und suchten von da an nahezu jeden Abend den Erscheinungsort auf. Bis zum 3. Januar 1933 waren dies 26 Abende mit 33 Erscheinungen, da es an einigen Abenden mehr als eine Erscheinung gab.
Auch am Abend nach dem ersten Erscheinungstag nahmen sie „die schöne Dame“ wieder wahr. Diesmal bewegte sie sich. Bei der dritten Erschei­nung waren die Kinder von der Schönheit der Gestalt so überwältigt, dass sie niederknieten und den Rosenkranz beteten. Am 2. Dezember fielen die Kinder gleichzeitig, wie von einem heftigen Schlag getroffen, mit einem Ruck auf die Knie. Bei dieser dritten Erscheinung sahen sie die Dame zum ersten Mal von vorn und gaben folgende Beschreibung: Aussehen einer 18-20-Jährigen mittlerer Größe, Füße nicht sichtbar, blaue Augen, rosa Teint, dunkle Augenbrauen. Die Mütter beider Familien waren anwesend, wobei Frau Degeimbre die Sträucher rings um die Grotte absuchte.
Spät abends fanden sich die Seher dann mit den bei­den Müttern beim Dechant von Beauraing ein, der von Anfang an eine zwar abwartende, aber offene und freundliche Haltung einnahm – auch im Gegensatz zu Mutter Théophile, der Schul- und Internatsleiterin, die nicht nur, anders als bis dahin, das Grundstück jetzt abends abschließen ließ, sondern noch dazu androh­te, die Hunde loszulassen und die Polizei einzuschalten, wovon sie nur die Diplomatie des Dechanten abhalten konnte. Die beiden Mütter bestellten bei diesem eine Messe, um Klarheit bezüglich der Visionen zu erlangen. Als diese am 8. Dezember frühmorgens gefeiert wurde, kommunizierten sowohl die Se­her als auch die beiden Mütter, sogar die bis dahin nicht praktizierende Frau Voisin, nachdem sie vorher gebeichtet hatte.
Einzig und allein diesen 8. Dezember hatte die Erscheinung den Kindern vier Tage im Voraus als festen Termin genannt. So hatte sie auf die Frage Alberts, an welchem Tag sie kommen sollten, erwidert: „Am Tag der Unbefleckten Empfängnis“. Nach der Erscheinung dieses Tages erklär­ten die Seher übereinstimmend, dass die Dame noch schöner und strahlender gewesen sei als je zuvor, aber nichts gesagt habe.
Inzwischen hatte sich, ohne jegliche Beteiligung der Kirche als solcher, dank der Initiative eines Notars und mehrerer Ärzte, ein nahezu perfektes Kontrollsystem herausgebildet. So befanden sich bei der 8. Erscheinung unter den 600-700 Anwesenden sechs Ärzte, welche die Seher nicht nur beobachteten, sondern im Anschluss an die Erscheinung auch sofort nacheinander getrennt befragten. Da die genannten sechs allesamt katholisch-gläubig waren, beschlossen sie, für die weiteren Abende auch Kollegen anderer re­ligiös-weltanschaulicher Ausrichtung beizuziehen. Ihre Anzahl nahm ständig zu, sodass dann schließlich bei der Vernehmung nach der letzten Erscheinung am 3. Januar 1933 etwa 100 Ärzte und 25 weitere Beobachter anwesend waren.
Ab der 11. Erscheinung trennte man die Seher unmittelbar nach der Vision. Ab der 18. Erscheinung wurde jedem Seherkind während des Gebets und der Erscheinung ein Zeuge beigestellt. Am 29. Dezember wurde die Kontrolle während des Geschehens verschärft: Die Seherkinder wurden schon am Ort der Erscheinungen voneinander getrennt und ein jedes von mehreren Kontrollpersonen umgeben, so dass auch dort eine Verständigung untereinander unmöglich war. Dennoch ergaben die getrennten Vernehmungen eine verblüffende Übereinstimmung, was auch Redakteure von z.T. bedeutenden Zeitungen wie „Le Soir“ (Brüssel) und „La Croix“ (Paris) bestätigten.
Die von Ärzten besonders hervorgehobenen Vorgänge waren Folgende: Seit dem dritten Erscheinungsabend fielen die Seher wie auf Kommando gleichzeitig auf die Knie, sobald die Erscheinung begann, oder wurden mit solcher Wucht auf die Knie geworfen, dass ihre Strümpfe zerrissen und man den Aufprall auf den Pflastersteinen deutlich hören konnte. Albert kommentierte das so: „Mir ist, als würde ich auf Kissen fallen.“

Interview mit der Seherin Gilberte Degeimbre

Was jedoch die Einzelheiten der Erscheinungen betrifft, so werden diese am besten durch ein Gespräch mit der damals jüngsten Seherin, Gilberte Degeimbre, vermittelt, das Abbé Christophe Rouard am 11. Januar 2009 im Beisein von Sr. Marie-Cécile Gillardin von den Schwestern der Christlichen Lehre von Nancy führte (Abb. 3). Das Interview fand anlässlich des 80. Jahrestages der Erscheinungen von Beauraing statt und wird hier aus Anlass des, wie eingangs erwähnt, im Februar 2015 erfolgten Todes der letzten noch lebenden Seherin Gilberte aufgrund des außergewöhnlichen Informationsgehalts in einer purgierten deutschen Fassung wiedergegeben.
Rouard: Gilberte, wie hat alles angefangen?
Gilberte: Wir wollten unsere Freundin Gilberte Voisin abholen, die eine Externe im Konvent war und daher nach der Schule bis 18.30 Uhr dort bleiben musste. Normalerweise holte sie ihr Vater ab, aber seit er bei der Eisenbahn arbeitete, war er nicht immer zur Stelle. In solchen Fällen kamen dann ihre Geschwister Fernande und Albert.

Abb. 3: Gilberte im Gespräch mit Rouard und Sr. Gillardin

Da wir uns bereits seit einigen Monaten kannten – wir waren fünf Kinder – , hatte Gilberte angeregt, dass ich doch mit Fernande und Albert mitkommen solle. Auf meinen Einwand hin, dass mir meine Mutter das um halb sieben Uhr abends niemals erlauben würde, meinte Gilberte, ich solle sie doch einfach fragen. Wider Erwarten sagte sie tatsächlich Ja – unter der einen Bedingung, dass mich meine ältere Schwester Andrée begleiten würde. So holten wir also Gilberte im Schwesternhaus ab. Das ging einige Tage so weiter, bis uns langweilig war, und so kamen die beiden Älteren, Fernande und Andrée, auf die Idee, einen Streich zu spielen, nämlich an Haustüren zu klingeln – so wie es Kinder früher gerne gemacht haben und auch heute noch tun. Die beiden Älteren verlegten sich aufs Klingeln. Am Abend des 29. November wurde an zwei Türen geläutet. Ich selbst habe mich nie daran beteiligt. Ich war zu klein, die Kleinste von den fünf, und konnte nicht schnell genug rennen. Ich war damals erst neun Jahre alt und wirklich interessiert hat mich das Ganze ohnehin nicht. Ich habe mich immer versteckt und beobachtet, was passiert. An jenem Abend des 29. November 1932 wurde also, wie gesagt, an zwei Türen geläutet, und damit auch Gilberte ihren Spaß haben sollte, wurden auf dem Heimweg noch ein paar Türen für sie ausgespart. Wir kamen zur Schwesternschule und Albert, damals etwa 10 Jahre alt, stürzte sich sofort auf die Türklingel – einmal extra klingeln! Gesagt, getan! Dann drehte er sich zu uns Mädchen um, die wir da standen – Fernande Voisin, meine Schwester Andrée und ich – und plötzlich schrie er: „Seht doch, die Jungfrau Maria geht über die Brücke!“ Ich kann seinen Aufschrei nicht beschreiben: „Schnell! Seht doch!“ Wir drehten uns um und sahen tatsächlich eine unglaublich strahlende Gestalt. Sie wandelte nicht auf der Brücke, sondern schwebte 50-60 cm über ihr in der Luft. Eine Wolke verdeckte ihre Füße, aber wir konnten die Bewegung ihrer Beine unter ihrem Kleid wahrnehmen. Wir waren furchtbar erschrocken über das, was wir da sahen. Ich kann meine Angst gar nicht beschreiben. Wir waren allein und es war dunkel. Es gab da große Bäume. Mitten durch den Garten führte ein Weg und seitlich davon befand sich jeweils noch eine kleine Abzweigung. Sonst nur Büsche und Tannen ringsum. Nirgends war ein Licht, selbst die Straße war dunkel. Wir hatten riesige Angst und wollten so schnell als möglich in das Innere der Schule gelangen. Die Tür war verschlossen und Albert klingelte mehrmals, bis uns die Pförtnerin öffnete. Entgegen unseren sonstigen Gepflogenheiten stürmten wir in das Haus. „Was ist denn mit euch los?“ fragte sie. – „Sehen Sie denn nicht? Dort, über der Brücke!“ – „Ich sehe nichts“, erwiderte sie. Dann drehte sie das Licht an, das man in keiner Weise mit der Erscheinung vergleichen konnte, die so unendlich hell war. Ich konnte nicht verstehen, warum sie dieses schwache Licht anmachte; und sie sah trotzdem nichts. Inzwischen kam Gilberte aus dem Klassenzimmer, doch statt uns zu begrüßen, brachte sie nur ein „Oh!“ heraus. Auch sie nahm die Erscheinung wahr. Die Pförtnerin aber meinte: „Geht nach Hause und hört mit diesem Unsinn auf!“ „Ihr habt vielleicht einen Zweig gesehen, der sich bewegt hat“, sagte sie. Wir gingen zurück zur Straße und näherten uns immer mehr der strahlenden Dame, die über der Brücke schwebte. Ich lief zwischen meiner Schwester Andrée und Gilberte Voisin, mit geschlossenen Augen, damit ich nichts sehen konnte – solche Angst hatte ich! Obwohl ich bei mir dachte, wie schön die Dame doch war, wagte ich nicht, sie anzusehen. Vor dem Haus, in dem heute das Geschäft Pro Maria untergebracht, ist, fiel ich hin. Instinktiv schaute ich zur Brücke hin und sah, dass die Jungfrau immer noch da war. Sie bewegte sich nicht mehr, sondern stand bloß da mit gefalteten Händen und beobachtete uns. Wir hatten Angst und liefen weg. Zu Hause erzählten wir unserer Mutter, dass wir eine Dame gesehen hatten, die in der Luft schwebte. Die Mutter hörte sich unsere Geschichte an und sagte dann: „Es reicht! Ich will nichts mehr davon hören!“ Wenn die Mutter ihre Stimme erhob, hatten wir zu gehorchen. Sie war eine respektgebietende Frau. Klug, aber sehr streng. Wir redeten nicht mehr darüber, aber ich musste immerzu daran denken. Auch untereinander sprachen meine Schwester und ich nicht mehr davon. Als ich am nächsten Morgen zur Schule ging, ließ ich meinen Blick zur Brücke hin schweifen. Da war nichts. Als ich die Schule wieder verließ, hatte ich immer noch nichts gesehen. Ich ging nach Hause und sprach weder mit meiner Schwester noch mit meiner Mutter darüber. Abends um halb sieben kamen erneut Albert und Fernande und pochten an die Fensterläden, um uns abzuholen. Gemeinsam gingen wir weg, Hand in Hand, ohne ein Wort zu sprechen. Aber alle dachten wir an das eine. Wir kamen zur Schule, sahen jedoch nichts. Albert läutete an der Türglocke, und wir starrten zur Brücke hin. Während er klingelte, sahen wir sie. Sie ging über die Brücke. Ihre Hände waren gefaltet. Dann ging sie, die Hände immer noch gefaltet, in die andere Richtung, auf einer Wolke in der Luft. Wieder waren wir sehr erschrocken, aber weniger als am vorangegangenen Abend, weil wir darauf vorbereitet waren. Die Pförtnerin sah, wie üblich, nichts. Ich konnte das nicht verstehen, aber es war eben so. Ich hatte noch nie etwas über Erscheinungen gehört. Meine Eltern waren gläubige Menschen, sie gingen zur Messe, wir beteten jeden Abend, aber ich betete zum Jesuskind und nicht zur Jungfrau Maria. Es war alles so neu für mich, außergewöhnlich! Wir gingen nach Hause und erzählten der Mutter, dass sie wieder da war und über die Brücke ging. Die Mutter dachte: „29./30. November, bald ist Nikolaus (6. Dezember)… Wahrscheinlich versteckt sich da jemand im Gebüsch und will die Kinder erschrecken. Morgen werde ich sie begleiten und wenn ich da einen erwische, ist er das letzte Mal dort gewesen!“
Am dritten Abend also kam die Mutter mit uns. Aber sie war nicht allein, da waren auch noch andere Leute. Offenbar wussten einige schon davon. Ich schaute auf die Brücke, sah aber nichts. Albert klingelte und als Gilberte an die Tür kam, erschien Unsere Liebe Frau ein paar Meter von uns entfernt, ungefähr einen Meter über dem Boden, neben einer Stechpalme, die heute noch dort steht. Wieder waren ihre Hände gefaltet. Wir standen da wie angenagelt und starrten sie an – das war alles. Sie öffnete langsam ihre Arme, sah uns alle fünf an und lächelte. Dann verschwand sie. Von da an hatten wir keine Angst mehr. Wir wären durchs Feuer gegangen, nur um sie wiederzusehen. Sie können sich nicht vorstellen, was wir fühlten, als sie uns ansah und lächelte. Wir riefen: „Mama, sie ist da!“ Aber noch während wir das sagten, war sie wieder verschwunden. Die Mutter nahm einen dicken Stock und verschwand damit ins Gebüsch, fand aber niemanden. „Wenn ich nichts sehe, dann ist da auch nichts! Ich will nichts mehr davon hören. Es reicht!“ Also gingen wir nach Hause. An den darauffolgenden Tagen kamen immer mehr Leute. Mutter Théophile, die Superiorin, hatte davon erfahren … und uns zu sich gerufen. Sie sagte: „Was erzählen die Leute da? Ihr hättet ihnen gesagt, dass da die Statue aus der Grotte hin und her läuft?“ Ich hatte tatsächlich daran gedacht und bei irgendeiner Gelegenheit so etwas geäußert. Aber die Erscheinung war viel schöner als die Statue aus der Lourdesgrotte. Mutter Théophile meinte: „Was soll das? Ihr sagt den Leuten, dass sich die Statue bewegt?! Ich habe noch nie einen solchen Unsinn gehört. Ihr seid unmöglich… Und du bist eine kleine Lügnerin. Ich will euch hier abends nicht mehr sehen. Kommt mir ja nicht mehr in meinen Garten. Ich werde die Gitter schließen und die Hunde loslassen. Wenn ihr den Garten noch einmal betretet, rufe ich die Polizei.“
Ich versprach der Mutter Oberin, nicht wiederzukommen. Was sollte ich denn sonst tun?! Aber kaum war es Abend, kamen wir wieder zurück, noch dazu ohne Erlaubnis der Mutter. Eine unglaubliche Macht zog uns dorthin. Ich dachte bei mir: „Wir müssen in den Garten, um sie zu sehen. Ob sie nun auf der Brücke ist oder neben dem Gebüsch, wir müssen im Garten sein. Die Mutter Oberin aber hat das Gartentor geschlossen und die Hunde sind dort, wir werden sie nie wiedersehen.“ Und ich musste sie doch unbedingt wiedersehen! Wir standen auf der Straße, schauten auf die Brücke und zur Stechpalme hin, und plötzlich erschien sie über dem Rotdornbusch – wo jetzt die Statue steht – ganz nahe bei uns, ungefähr 50-60 cm über dem Boden. Wir fielen auf die Knie (Abb. 4), als ob uns eine Macht bei den Schultern packte und zu Boden drückte. Wir hätten gar nicht stehen bleiben können! Sie war so schön, so wunderschön. Ich kann sie mit Worten nicht beschreiben.

Abb. 4: Seherkinder von Beauraing in Ekstase

Rouard: Eine übernatürliche Schönheit?
Gilberte: Ich würde nicht sagen „übernatürlich“, das Wort war mir damals nicht geläufig. Sie war einfach jenseits jeglicher Vorstellung. Zum ersten Mal sprach sie mit uns und sie bat uns, ganz brav zu sein, und wir gelobten: „Ja, wir werden immer brav sein!“ Wir strengten uns wirklich an. Wir waren uns sicher, besonders meine Schwester Andrée, dass sie – wenn sie sie schon nicht sehen konnten, sie doch zumindest gehört haben mussten, wo wir sie doch mit unseren eigenen Ohren gehört haben! Die Mutter aber meinte: „Jetzt geben sie sich nicht mehr nur damit zufrieden, etwas gesehen zu haben, jetzt hören sie sie auch noch sprechen!“ Sie wurde immer wütender. Sie können sich nicht vorstellen, was wir nach all dem mit Mama durchmachten. Denn plötzlich waren unwahrscheinlich viele Leute da, und ich kann ja verstehen… Die Mutter wollte uns nicht mehr sehen, nicht einmal bei Tisch. Sie sagte: „Wie könnt ihr bloß so ruhig sein, mit derartigen Lügen auf eurem Gewissen?! Weg vom Tisch! Ich will euch hier nicht mehr sehen. Ich dulde keine Lügner an meinem Tisch.“ Also gingen wir. Meine Schwester nahm ihr Brot mit in den Stall zu den Kühen und ich ging mit dem meinen auf mein Zimmer. Meine ältere Schwester Jeanne hat nie etwas gesehen. Sie war sehr fromm, aber sie hat nie etwas gesehen. Sie fand Andrée, wie sie die Kuh umarmte und sagte: „Arme Kuh, du bist die Einzige, die mich nicht zum Weinen bringt.“ Und das stimmte!
Die Zeit verging. Die schönsten Erinnerungen, menschlich gesehen… denn, was wir erlebt hatten, war mit Worten nicht zu beschreiben… Was frappierend war und mich immer noch bewegt, ist, dass die beiden Hunde von Mutter Théophile, die sich normalerweise ziemlich wild gebärdeten, gegen den Gitterzaun sprangen, die Leute anknurrten und kläfften, sich wie Lämmer verhielten, sobald die Jungfrau erschien und wir auf die Knie fielen. Das war für mich das erste Wunder. Denn zornige Hunde zu bändigen bei all den Leuten ringsum ist nicht einfach! Jeden Abend, wenn sie da waren, legten sie sich hin und waren ruhig. Und in dem Augenblick, in dem die Jungfrau verschwand, fingen sie wieder an zu bellen. Das war schön! Einfach schön! Und sofort war da eine Menge von Leuten, die uns Fragen stellten und wissen wollten… Die Mutter sagte: „Na, tischt eure Lügen doch den armen Menschen da auf, die euch auch noch glauben! Wie kann man nur so gewissenlos sein!“ Und so ging es weiter bis zum letzten Abend.
Rouard: Es gab also mehrere Erscheinungen. Die Jungfrau hat euch zuerst gebeten, brav zu sein, und hat dann über andere Dinge gesprochen…
Gilberte: Ja, sie sagte, wir sollten brav sein, und fragte dann: „Werdet ihr auch wirklich immer brav sein?“ Und wir antworteten wieder: „Ja, wir werden immer brav sein.“ Und dann fragte Fernande: „Warum kommen Sie hierher?“ Und sie hat so schön geantwortet: „Damit die Menschen hierher pilgern.“ Man stelle sich vor: Ein Kind stellt eine Frage an die Mutter Gottes und diese antwortet ihm. Das berührt mich heute noch. Sie bat um eine Kapelle. Geredet haben die Älteren, ich nicht. „Was möchten Sie, dass wir für Sie tun?“ Diese Frage kam von den Priestern. Sie erwiderte: „Eine Kapelle“ (Abb. 5). Sie sprach immer in kurzen Sätzen. Sie bat uns, zu beten, immer zu beten. Sie sagte: „Ich werde die Sünder bekehren.“ „Ich bin die Mutter Gottes, die Königin des Himmels.

Beauraing: Votivkapelle

Abb. 5: Beauraing, Votivkapelle

Betet immerzu.“ „Ich bin die Unbefleckte Jungfrau.“ Sie fragte Fernande: „Liebst du meinen Sohn? Liebst du mich? Dann opfere dich für mich.“ [Das war] am letzten Abend der Erscheinungen. Dann vertraute sie den drei Jüngsten ein Geheimnis an. Während sie zum einen sprach, konnten die andern zwar ihre Lippenbewegungen sehen, aber nichts hören. Es war am letzten Abend, dass sie uns „Adieu“ sagte. Ein paar Tage zuvor hatte sie angekündigt: „Bald werde ich zum letzten Mal kommen.“ Aber ich glaubte ihr nicht, als sie „Adieu“ sagte, ich konnte es einfach nicht glauben. Denn ich dachte, das wäre so wie bei den Missionaren, die zwar zu jedem ringsum „Adieu“ sagen, dann aber wiederkommen. Also würde auch sie wiederkommen. Und jahrelang, jeden Abend, hoffte ich, sie wiederzusehen. Heute sehne ich mich nach ihr auf eine andere Weise.
Rouard: Und am Ende der Erscheinungen, als sie ihre Arme ausgebreitet hat, haben Sie ihr Herz gesehen.
Gilberte: An den letzten Abenden. Ich sah ihr Herz zwei Abende später als die anderen. Ich fragte mich: „Warum kann ich ihr Herz nicht sehen wie die anderen?“ Ich werde sie Ihnen beschreiben. Sie trug ein gerade geschnittenes weißes Kleid, das in Rundfalten gelegt war. Das Kleid verschmolz mit der Wolke, die ihre Füße bedeckte. Ihre Füße haben wir nie gesehen. Da war ein blauer Schimmer, der von ihrer linken Schulter hinab bis zum Ende des Kleides reichte. Ihre Hände waren gefaltet. Ein Rosenkranz hing von ihrem rechten Ellbogen und verlor sich in den Falten ihres Kleides. Ihre Hände hatte sie immer gefaltet. Als sie entschwand, öffnete sie langsam ihre Arme, der Rosenkranz war nicht mehr zu sehen, und an den letzten Abenden sahen wir ein goldenes Herz auf ihrer Brust, mit goldenen Strahlen. Direkt an ihrem Herzen waren die Strahlen breiter und liefen dann an den Enden spitz zu. Auf dem Kopf trug sie einen Schleier, der ihre Schultern bedeckte. Ihr Haupt war von goldenen Strahlen umrandet, die alle gleich groß waren. Sie schienen aus Gold und Licht zu sein. Das Ganze wirkte unbeschreiblich leicht. Durch die vorderen Strahlen hindurch, die wir nicht zählen konnten, sahen wir sehr gut den Scheitel.
Rouard: Und wie klang ihre Stimme?
Gilberte: Sie hatte eine sehr weiche Stimme, wir konnten sie problemlos hören. Es war eine Stimme, die in einen eindrang.
Rouard: Und ihr Blick?
Gilberte: Sehr sanft. Sie hatte blaue Augen.
Rouard: Sie war sehr schön.
Gilberte: Sehr schön. Unbeschreiblich schön und gut.
Rouard: Wie eine Mutter?
Gilberte: Viel mehr!
Sr. Gillardin: Können Sie uns etwas über den 8. Dezember erzählen, Gilberte?
Gilberte: Am 8. Dezember schien sie uns noch strahlender. Sie schien dreimal heller als sonst: am 8. Dezember, am Heiligen Abend… Stellen Sie sich vor, noch schöner am Heiligen Abend – wir waren uns sicher, dass Sie an Weihnachten mit dem Christuskind in den Armen erscheinen würde. Aber sie kam nicht (Abb. 6). Nun, sie kam nicht jeden Abend. Manchmal vergingen mehrere Tage, ohne dass sie sich zeigte.

Gilberte Degeimbre

Abb. 6: Gilberte Degeimbre (+ 2015)

Und so erschien sie noch strahlender am 8. Dezember, am Heiligen Abend und am 3. Januar, dem Tag ihrer letzten Erscheinung. Wir fragten uns, wie es möglich war, noch strahlender zu erscheinen als üblich, aber es war so. Am 8. Dezember – wir wussten es erst später – wir fielen auf die Knie wie üblich, wenn sie erschien. Die Leute um uns, unsere Mutter eingeschlossen, bezeugten, dass man mit uns Experimente machte. Gilberte Voisin kniete. Es waren Ärzte da, die uns trennten, damit wir nicht miteinander sprechen konnten. Ein Arzt kniff Gilberte in die Wade, ziemlich heftig! Später sagte er: „Wenn sie das auch nicht gespürt hat, so wird sie zumindest einen blauen Fleck zurückbehalten.“ Meine Schwester Andrée pieksten sie mit einem Messer in die Wange. Das war übrigens ein Arzt aus Beauraing. Sie spürte nichts. Und mir hielten sie ein brennendes Streichholz unter die Hände. Ich hatte die Hände gefaltet und das Streichholz verbrannte die Unterseite meiner Hände, aber ich habe nichts gespürt. Sobald wir unsere Wohnungen verließen, wurden wir voneinander getrennt, schon vor den Erscheinungen, und zum Erscheinungsort gebracht. Dort befanden sich Dutzende Ärzte, die bestätigten, dass wir nicht verrückt waren. Sie waren bei den Erscheinungen anwesend und beobachteten uns. Während der Erscheinung wurden wir wieder getrennt und auch danach durch die Ärzte. Sie schleppten uns zum Kloster und brachten uns in verschiedene Zimmer. Dann wurden wir von sämtlichen Ärzten einem Verhör unterzogen. Da ich klein war, stellten sie mich auf einen Tisch, so dass alle Ärzte mich sehen konnten. Am Abend des 8. Dezember, als ich zur Befragung kam, sagten sie zu mir: „Zeig uns deine Hände!“ Ich hatte große Angst, weil ich meine Hände nicht gewaschen hatte. Mama glaubte uns nicht und hat sich daher nicht mehr um uns gekümmert. Und ich dachte, sie würden sagen: „Deine Hände sind schmutzig. Maria erscheint nicht einem Kind, das schmutzige Hände hat!“ Ich zeigte also meine Hände und sie schauten und schauten…, drehten meine Hände nach allen Seiten und meinten dann: „Aber da ist nichts!“ Ich dachte bei mir: „Was soll da schon sein?“ „Da sind keine Brandspuren“, und wieder dachte ich: „Warum sollten da Brandspuren sein?“ Es gab keinerlei Spur von Rauch, rein gar nichts. Erst später habe ich erfahren, dass sie versucht hatten, mich mit einem Streichholz zu verbrennen. Gilberte Voisin erging es schlechter. Als sie zur Befragung kam, wurde sie angewiesen, ihre Strümpfe auszuziehen. Sie dachte: „Jetzt muss ich mich ausziehen! Was wird geschehen?“ Wir waren wirklich auf uns allein gestellt, in einer erbärmlichen Lage. Alle untersuchten ihre Waden. Die Ärzte sagten: „Aber da ist nichts, nicht einmal eine rote Stelle!“ So viel zum 8. Dezember. Ich weiß nicht, ob sie auch mit Albert oder Fernande Experimente gemacht haben. Ich habe es nie erfahren.
Sr. Gillardin: Sie waren also tatsächlich in Ekstase. Sie waren so eng mit dem Himmel verbunden, dass Sie nichts gespürt haben.
Gilberte: Diese Frage habe ich mir nie gestellt. Ich habe nichts gespürt und das war’s.
Rouard: Während der Erscheinungen wurden sie zu Boden geworfen. Sie fielen mit einem Schlag auf die Knie, was man hören konnte. Sogar die Strümpfe waren zerrissen.
Gilberte: Ja, jedes Mal. Aber wir waren nicht verletzt und haben nichts gespürt. Der Aufprall war scheinbar aus der Entfernung zu hören. Wir konnten gar nicht stehen bleiben. Es war, als würde eine unwahrscheinliche Kraft uns alle fünf in die Knie zwingen. Dagegen kamen wir nicht an und wir spürten nichts.
Sr. Gillardin: Auch Ihre Stimme hat sich verändert.
Gilberte: So hat man uns gesagt, aber wir haben nichts bemerkt. Ich weiß es nicht.
Rouard: Ihre Stimme wurde heller und Sie haben rascher gebetet, das Ave Maria offenbar mit einer höheren Stimme.
Gilberte: Wie ich Ihnen erzählt habe, hat sie jedes Mal, wenn sie wegging, langsam ihre Arme geöffnet. Eines Abends, als wir das Ave Maria gebetet haben, fing sie an, ihre Arme zu öffnen. Wir beeilten uns, mit dem Gebet zu Ende zu kommen und stimmten sofort ein neues Ave Maria an. Daraufhin faltete sie ihre Hände wieder, blickte uns an und lächelte noch mehr. Dadurch konnten wir sie zurückhalten. Jedes Mal, wenn sie ihre Hände öffnete, fingen wir schnell ein neues Ave Maria an, und sie faltete ihre Hände wieder.
Rouard: Haben sie während der Erscheinungen ein engeres Verhältnis zu Maria entwickelt, gab es da Fortschritte?
Gilberte: Nein, das kann ich nicht sagen. Sobald sie da war, waren wir einfach glücklich, überglücklich. Das können Sie sich gar nicht vorstellen. Ich hatte das Gefühl, im Licht zu sein, in einem wunderschönen Licht. Ich fühlte mich gut. Und sobald sie verschwand – bum! – war ich im Dunkeln, mit all den Ärzten um uns herum und den Leuten, die uns festhalten wollten. Es war finster, pechschwarz. Es war schlimm. Es gab keinen Übergang.
Rouard: Haben Sie den Eindruck, dass Sie darauf vorbereitet waren, Maria zu sehen?
Gilberte: Nicht im Geringsten! Ich habe Ihnen erzählt, dass wir allerlei Schabernack getrieben haben, an Türen geläutet usw. Als sie uns erschien, waren wir also überhaupt nicht darauf vorbereitet. Ich hatte noch nie von Erscheinungen gehört. Wie ich Ihnen sagte, habe ich zum Jesuskind gebetet, so wie es uns die Mutter beigebracht hatte. Das war alles.
Rouard: Und warum erschien Maria, Ihrer Ansicht nach, gerade hier und Ihnen?
Gilberte: Diese Frage stelle ich mir auch noch nach 70 Jahren: Warum ist sie gerade uns erschienen, die wir unbedeutend waren? Unsere ältere Schwester wollte uns immer zur Vesper mitnehmen und wir sagten für gewöhnlich: „Die mit ihrer Vesper!“ Das zeigt ja, wie religiös wir waren! Wohingegen meine ältere Schwester nie etwas sah, obwohl sie fromm war, mehr als fromm. Sie sagte sogar: „Was? Und euch soll man glauben, dass ihr die Jungfrau Maria gesehen habt? Nie und nimmer! Wenn ich an eurer Stelle wäre – mir würden mir die Leute glauben, aber euch… nein!“ Wir haben zwar jeden Abend gebetet, das war normal. Und sonntags sind wir immer zur Messe und zur Kommunion gegangen, klar. Aber das war’s auch schon!
Rouard: Was heißt für Sie, „immer sehr brav“ zu sein?
Gilberte: Wie ich schon als Kind sagte, alles für Gott zu tun, aus Liebe zu Gott, so dass all unsere Handlungen ein einziges Gebet sind.
Rouard: Das ist wohl auch der Sinn der Aussage Marias, wo sie sagt: Betet … betet immerzu.“
Gilberte: So ist es. Alles soll Gebet sein – was uns gefällt, was uns missfällt, was wir mögen und nicht mögen. Das ist meine Ansicht. Das versuche ich zu tun. Es ist nicht immer leicht.
Rouard: Was war für Sie die schlimmste Erfahrung während der Erscheinungen? Was war schwer für Sie?
Gilberte: Am schlimmsten war, dass die Mutter uns nicht geglaubt hat. Wir hatten nämlich ein Jahr zuvor unseren Vater verloren. Wir hatten einen sehr liebevollen Vater. Seine drei Töchter bedeuteten ihm alles. Für ihn gab es nichts, das mehr wert war. Meine älteste Schwester war immer Klassenbeste, während meine Schwester Andrée konstant die Schlechteste in der Klasse war, aber er liebte sie über alles. Ich erinnere mich noch, als Andrée einmal ein schlechtes Zeugnis nach Hause brachte. Die Mutter sagte: „Wir werden ja sehen, was Papà dazu sagt, wenn er das sieht!“ Und er … er nahm das Zeugnis, lächelte und meinte, während er Andrée sanft über das Haar strich: „Du weißt, dass das nicht gut ist. Nächstes Mal versuchst du, es besser zu machen.“ Er war ein sehr guter Vater und liebte seine drei Töchter über alles. Daher sagte Andrée auch während der Erscheinungen: „Wenn Papà da wäre, würden wir nicht so schlecht behandelt… wenn bloß Papà da wäre!“
Unsere Mutter hingegen, wie ich Ihnen sagte, konnte es nicht ertragen, uns auch nur anzusehen. Aber sie hat auch darunter gelitten. Stellen Sie sich nur vor, jetzt gibt es überall Erscheinungen – ob echt oder nicht, das ist nicht unsere Angelegenheit, aber jeder spricht jetzt über Erscheinungen. Im Jahre 1932 aber hörten wir nie etwas von Erscheinungen. Wir lebten völlig abgeschieden auf einem Bauernhof. Abends verrichteten wir unsere Gebete, wie ich schon sagte, und sonntags besuchten wir die Messe. Aber bis zur Kirche war es ein Fußweg von 45 Minuten. Das galt auch für die Schule. Als der Vater starb, zogen wir nach Beauraing, weil wir unseren großen Bauernhof nicht mehr halten konnten. Er umfasste rund 100 Hektar – für damalige Zeiten enorm! Und Mama, mit drei kleinen Mädchen… das war unmöglich! So kamen wir hierher. 10 Kühe und 2 oder 3 Pferde behielten wir – ich weiß nicht mehr genau. Nach Beauraing kamen wir am 1. Mai 1932 und die Erscheinungen begannen am 29. November. Aber wer hätte damals gedacht, dass die Jungfrau Maria ihren Kindern erscheinen würde? Wie die Mutter später sagte, gab es Lourdes. Das war es, was wir glaubten. Aber das lag für uns am Ende der Welt. Und wenn das deinen Kindern geschieht, kannst Du es eben nicht glauben! Es kann nur sein, dass sie lügen. „Was ist bloß in sie gefahren? Wir haben ihnen das doch nicht beigebracht.“ Jetzt verstehe ich, wie sich meine Mutter fühlte.
Rouard: Aber trotz dieser Belastung waren die Erscheinungen eine glückliche Erfahrung für Sie?
Gilberte: Ja, sicher. Der Moment der Erscheinungen war ein Moment überwältigender Freude, die ich nicht beschreiben kann. Dennoch haben wir viel gelitten, auch später noch, weil es Leute gab, die uns nicht glaubten – ich kann das ja verstehen –, aber dann müssen sie doch nicht so unfreundliche Dinge zu uns sagen: „Eine Seherin bis Du also?! Dann kannst du uns ja die Zukunft voraussagen!“ Wenn ich heute daran denke, ärgert mich das noch immer.
Rouard: Und trotz allem würden Sie es noch einmal erleben wollen?
Gilberte: Ja, unbedingt! Aber ich würde erst viel später darüber reden. Auf jeden Fall es als Erwachsener zu erleben und zu sagen: „Ja, ich kann verstehen, dass Sie mir nicht glauben.“ Als Kind war es gar zu schlimm, vor allem weil wir die Unterstützung von Mutter bzw. Vater nicht hatten. Ich erinnere mich da an einen Abend. Ich wollte meiner Mutter einen Gutenachtkuss geben – es war zwei Uhr morgens – und Mama sagte: „Einem Kind, das lügt, gebe ich keinen Kuss! Geh zu Bett!“ Es war, als ob sie zu einem Hund sagte: „Los, auf deinen Platz!“ Das war hart. Vor allem, weil ich sehr sensibel war. Es brachte mich zum Weinen, ich habe in mein Kopfkissen geheult, damit es Mama nicht hören konnte, denn das hätte sie nur noch wütender gemacht.
Rouard: Was mich am meisten beeindruckt, ist das goldene Herz.
Gilberte: Ach, alles hätte Sie beeindruckt: ihr so überaus sanfter Blick, wenn sie uns ansah – Sie können sich gar nicht vorstellen, wie das für uns war. Und dann ihr goldenes Herz. Sie zeigte uns ihr goldenes Herz.
Rouard: Was, glauben Sie, hat das zu sagen?
Gilberte: Dass sie uns liebt! Ist es doch ihr Herz aus Gold und Licht, das strahlt. Es bedeutet, dass sie uns liebt. So viel ist sicher.
Sr. Gillardin: Und dass sie uns einlädt, unser Leben ihrem Herzen anzuvertrauen.
Gilberte: Ja, genau! Bei den Erscheinungen, wenn sie uns verließ – wie ich Ihnen erzählt habe –, hat sie langsam ihre Arme geöffnet. Ich dachte mir: Das ist ihre Art, Aufwiedersehen zu sagen. Aber jetzt denke ich, wollte sie damit sagen: „Ich warte auf euch.“ Vielleicht war es das, was sie mit ihrer Geste ausdrücken wollte: „Kommt morgen, ich erwarte euch.“ Sie hat es nicht gesagt, aber… Auf jeden Fall habe ich es so in Erinnerung. Jedenfalls hoffe ich, dass sie da ist, wenn ich diese Welt verlasse, dass sie mich nicht allein lässt. Das habe ich immer gesagt.
Rouard: Sie haben alle fünf geheiratet.
Gilberte: Ja, aber ohne es wirklich zu wollen. Es hat sich einfach ereignet. Andererseits waren wir durch die Superiorin, Mutter Théophile, dermaßen gebrandmarkt, dass das Kloster für uns [nicht in Frage kam]. Von daher musste es wohl so kommen, dass wir geheiratet haben. Ich habe mir das nicht ausgesucht. Ich habe nie ans Heiraten gedacht. Und dann die Situation meines Mannes… er kam zufällig zu uns. Sein Vater war von den Deutschen erschossen worden. Seine Mutter starb im Konzentrationslager Ravensbrück. Und als sie zurückkamen, war ihr Haus vollkommen leer, keine Möbel, keine Kleidung, nichts. Also gingen sie von Haus zu Haus. Zu der Zeit waren aber gerade die Amerikaner angekommen. Man sagte ihnen: „André, heute Nacht sind die Amerikaner hier. Wir haben keinen Platz für euch.“ So kamen sie zu uns nach Hause und Mutter sagte: „Hier können Sie ein Zimmer haben, es wird Ihnen gut gehen und Sie können so lange bleiben, wie Sie möchten.“ So haben wir uns kennengelernt.
Rouard: Sie haben zwei Kinder?

Gilberte: Ja, zwei Söhne.
Rouard: Und Sie haben in Italien gelebt?
Gilberte: Ja, 47 Jahre.
Rouard: Und dann wollten Sie nach Beauraing zurückkehren.
Gilberte: Oh ja, vom ersten Tag an in Italien habe ich auf den Moment gewartet, nach Beauraing zurückzukommen, zum Rotdornbusch, wo mein Herz geblieben war.
Rouard: Und jetzt kommen Sie gern hierher, wenn Sie können, um beim Rotdornbusch zu beten.
Gilberte: Oh ja, und ich würde gern viel öfter kommen, aber das Gehen fällt mir schwer. Ich sage immer zum Herrn: „Lass mich hier unten nicht zu lange schmachten, ich möchte lieber dort sein!“
Rouard: Besonders zu den Jahrestagen der Erscheinungen, die wir gerade gefeiert haben, am 29. November oder am 3. Januar, vor ein paar Tagen. Ist das leicht oder schwer für Sie?
Gilberte: Da sind viele schöne Erinnerungen, aber da ist auch immer eine gewisse Leere. Oh ja! Von dem Moment an, wo sie uns verlassen hat, fühlten wir alle fünf dasselbe: Wir haben sie sehr vermisst. Ich werde Ihnen ein kleines Beispiel geben. Wenn jemand, den Sie sehr lieben, Sie verlässt, denken Sie: „Er oder sie werden in zwei oder drei Wochen wieder zurückkommen.“ Sie wollen die geliebte Person einfach wiedersehen. Aber hier steckt viel mehr dahinter. Wir fühlten eine unglaubliche Leere!
Rouard: Und heute, wie sollen wir diese Botschaft Ihrer Meinung nach heute aufnehmen?

Abb. 7: Madonna von Beauraing

Gilberte: Das ist eine gute Frage und ich werde sie gerne beantworten. Sie hat uns gebeten, hierherzupilgern (Abb. 7). Und sie bat uns, zu beten, viel zu beten, immer zu beten. Das würde ich mir wünschen, dass das hier geschieht. Ich würde mir wünschen, dass die Pilger ihretwegen hierherkommen, und ich glaube, dass das möglich ist, weil es hier sonst, im Gegensatz zu anderen Erscheinungsorten, nicht viel zu sehen gibt. Da ist nichts, abgesehen von der Eisenbahnbrücke – das ist alles. Hier gibt es keine Möglichkeiten, schöne Ausflüge zu machen, es sind nur wenige Touristen hier. Es gibt nichts! Wenn man hierherkommt, dann ist es nur ihretwegen. Ich würde mir wünschen, dass die Leute das verstehen. Stellen Sie sich vor: Sie kam hier nach Belgien! Wir scheinen das gar nicht zu realisieren. Meine Schwester André pflegte zu sagen: „Vielleicht wenn wir alle gestorben sind, wird ihnen klar, dass die Mutter Gottes hier erschienen ist, mitten unter ihnen.“ Denn jetzt sagen wir: „Der hat den Fehler… der macht dies oder das…“ Man konzentriert sich zu sehr auf uns, die wir unbedeutend sind. Das ist es, was ich von Anfang an immer gesagt habe. Wir wurden ausgewählt, ohne es zu verdienen. Wir waren nicht besser als die anderen. Wir waren unbedeutend… grundlos ausgewählt. Ja, absolut! Wir haben getan, was wir konnten, um die Botschaft weiterzugeben. Und nach unserem Tod schließt die Särge und vergesst uns! Erinnert euch nur, dass Sie hierhergekommen ist.
Rouard: Welche Botschaft würden Sie den Menschen von heute, der Jugend von heute, aber auch künftigen Generationen gerne mit auf den Weg geben?
Gilberte: Wie ich schon sagte: beten, beten und nochmals beten, Buße tun, denn ihre Worte waren: „Opfert euch für mich!“ Ihren Sohn lieben – „Ich werde die Sünder bekehren.“… Aber dabei muss Sie uns helfen, weil Sie gesagt hat: „Ich will die Sünder bekehren.“ Wir müssen bereit sein, ihr dabei zu helfen, uns bekehren lassen. Aber Sie muss da mitwirken. Zuallererst muss Sie versuchen, uns zu bekehren, d.h., Sie wie mich… und Sie auch…
Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben. Und vergessen Sie nicht, worum ich Sie gebeten habe: Wallfahrten und Gebet… für Sie.
Rouard: Vielen Dank, Gilberte, für dieses schöne Zeugnis, das Sie uns gegeben haben. Es liegt nun an uns, dem Ruf Unserer Lieben Frau nachzukommen: hierherzupilgern, zu beten, viel zu beten, immerzu zu beten, bekehrt zu werden und gut zu sein, das bedeutet: alles mit und für Gott zu tun. So ist es. Vielen Dank!

(GW) 64 (2015) 4, 351-370

L i t e r a t u r:
Quellenwerke

Joset, Camille-Jean: Dossiers de Beauraing, 5 Bde (Dokumentensammlung). Namur: Recherches universitaires, 1981.
Toussaint, Fernand/Joset, Camille-J.: Beauraing (1932-1982). Paris: Desclée de Brouwer, 1981.

Sekundärliteratur

Höcht, Johannes Maria: Die Wahrheit über die belgischen Muttergottes-Erscheinungen und außergewöhnlichen Heilungen: Beauraing, Banneux, Onkerzele. Unter Berücks. d. Visionen von 3 Deutschen dargest. im Anschluss an e. Wallfahrt nach Beauraing. Wiesbaden: Matthias-Grünewald-Verl., 1934.
Johanns, A.: Die Ereignisse von Beauraing. Wahrheitsgetreuer Bericht eines Augenzeugen ueber d. Erscheinungen zu Beauraing. Loewen [Belgien]: Rex, 1933.
McClure, Kevin: Beweise. Erscheinungen der Jungfrau Maria. Dt. Erstausg. München: Droemersche Verlagsanst. Th. Knaur Nachf., 1987.
Monin, Arthur: Die Königin mit dem goldenen Herzen: Die Erscheinung Unserer Lieben Frau von Beauraing. Dt. von Thaddäus Soiron. Kevelaer: Butzon & Bercker, 1956.
Weigl, Alfons M. (Hg.): Volk unter prophetischem Anruf: Marien-Erscheinungen theol. u. prakt. gewertet; e. vorläufige Einf. Altötting: St.-Grignion-Verl., 1986.