Andreas Resch: Spiritismus

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SPIRITISMUS

Während der Satanismus die Verbindung mit den Dämonen zum Ausleben der eigenen Vitalität und Individualität zum Inhalt hat, steht im Spiritismus die Verbindung mit den Verstorbenen und der Geisterwelt ganz allgemein im Mittelpunkt des Interesses.
Spiritismus (latein. spiritus: Geist) bezeichnet die Annahme und die Lehre einer Verbindung Verstorbener und anderer Geistwesen mit den Lebenden sowie der Lebenden mit den „Geistern“ der Verstorbenen und anderen Geistwesen mittels einer sensitiven Person, auch Medium genannt, oder mittels Befragungstechniken wie Tischchenrücken, automatisches Schreiben, Aufzeichnungen auf Tonträgern, elektronische Kommunikationsmittel usw.

1. Geschichte

Ansätze derartiger Verbindungen finden sich im Animismus archaischer Völker, in der Ahnenverehrung Chinas, in der Umwelt Alt-Israels, ja, bei allen Natur- und Kulturvölkern. Auch die griechisch-römische Antike und das Christentum (vgl. die Lehre von den Armen Seelen und die Heiligenverehrung), praktisch alle Religionen betonen mehr oder weniger die Möglichkeit der Verbindung mit der Welt der Geistwesen, wobei die Verbindung mit den Verstorbenen in der katholischen Kirche besonders ausgeprägt ist, wenn sie auch die direkte Totenbefragung im Sinne des Spiritismus ablehnt.
Im Spiritismus kommt nämlich zum Glauben an die Geisterwelt, wie bereits erwähnt, auch noch die Annahme hinzu, mit dieser Geisterwelt durch bestimmte Techniken in Verbindung treten zu können.
Den großen Durchbruch erzielte dieser Denkansatz im vorigen Jahrhundert. Ansätze finden sich aber bereits im Anschluss an den „animalischen Magnetismus“ von F. A. MESMER (1734 – 1815)1, wo sich in mesmerischen Kreisen auch spiritistische Praktiken entwickelten. In dieser Zeit großer und kleiner Visionäre im Bereich des deutschen Pietismus, der englischen Quäker und Methodisten, der amerikanischen Shaker, der Inspirierten aus den Cervennen, gingen nämlich noch zu Lebzeiten MESMERs einige Schüler dazu über, mit Hilfe von Somnambulen mit der Geisterwelt in Verbindung zu treten. Die erste Aufzeichnung von
Gesprächen mit Geistern erfolgte 1787 durch ein Medium im somnambulen Zustand in einer Gemeinde von Anhängern E. SWEDENBORGs in Stockholm. Bald darauf begann sich im Kreise der Mesmer-Anhänger – MESMER selbst war kein Spiritist -, die sich auch mit Besessenen befassten, ein regelrechter spiritistischer Kult zu entwickeln. So offenbarten sich dem Pariser Medium Célina Bequet die Geister verstorbener Ärzte, die medizinische Anweisungen gaben. Bequet schrieb auch automatisch, angeblich unter dem Einfluss der Geister, wobei die Reinkarnation ein Lieblingsthema war.
Diese Zuwendung zu den Geistwesen und dem Spirituellen wird zusehends mit einem entschiedenen Materialismus konfrontiert und von diesem geradezu provoziert. So schrieb Ludwig FEUERBACH in seinem Buch „Das Wesen des Christentums“ (1848):
„Wer an ein ewiges Leben glaubt, dem verliert dieses Leben seinen Wert.“2
Beinahe im gleichen Wortlaut schrieb ebenfalls 1848 Karl MARX in seinen „Pages choisies pour une èthique socialiste“:
„Die Leugnung des Jenseits bedeutet auch die Annahme des ,Hienieden‘.“3
In dieser Zeit also, wo führende Denker der Aufklärung, des Rationalismus, der Wissenschaftsgläubigkeit und des Materialismus die Todesfrage verdrängten, das Fortleben und eine Welt der Geister ablehnten, ja, den Jenseitsglauben als Feind der Diesseitsgewinnung denunzierten, schlug am 1. April ebenfalls 1848 die Stunde des neuzeitlichen Spiritismus. Zwei Mädchen, Leah (10) und Kate (12), hörten im Hause ihres Vaters (Abb. 32), des methodistischen Farmersohnes John FOX (Abb. 1) in Hydesville bei Rochester, USA, Klopflaute und andere Geräusche und nahmen mit Erfolg spiritistischen Kontakt auf. Eine Untersuchungskommission konnte die Vorfälle nicht erklären. Mittels eines Klopf-ABCs, das Isaak Port erfand, versuchte man die Kundgaben des „Geistes“ zu deuten. Dabei kam unter anderem die Mitteilung des Geistes, er habe als Kaufmann im Hause Fox gelebt und sei ermordet und im Haus verscharrt worden. Beim Nachgraben fand man tatsächlich ein Skelett, was den Begebenheiten zu breiter Resonanz verhalf.

Abb. 1: Die Familie Fox

Zudem veranlasste 1850 ein Spukfall in der Wohnung des Pastors Dr. Phelp in Stratford, Connecticut, den medial veranlagten Anhänger SWEDENBORGs, Andrew Jackson DAVIS (1826 – 1910, Abb. 2), zu Nachforschungen an Ort und Stelle, woraus sein Buch „The Philosophy of Spiritual Intercourse“ („Die Philosophie des geistigen Verkehrs“) 1851 entstand.4 Das Buch enthält „aus dem Jenseits stammende Mitteilungen“ über das Geisterland und Techniken der Kommunikation zwischen den Geistern im Jenseits undden Diesseitigen.

Abb. 2: Andrew Jackson Davis

In Windeseile verbreiteten sich die Praktiken der Verbindung mit der Geisterwelt – vor allem Tischchenrücken, Planchette, automatisches Schreiben, „direkte Stimme“ von Trancemedien – über das ganze Land, so dass 1855 die Zahl der Spiritisten in den USA auf 2 Millionen geschätzt wurde.
Bereits 1848 kam diese spiritistische Bewegung auch nach Europa – nach Frankreich, ein Jahr später nach Deutschland und England. In Frankreich wurde 1856 Hippolyte Léon Denizard RIVAIL (1804 – 1869; Abb. 3), der in Lyon die Höhere Schule besuchte und nach seinem Studium bei Johannes Heinrich PESTALOZZI in der Schweiz 1826 in Paris ein pädagogisches Institut gegründet hatte, in den spiritistischen Kreis eingeführt. Er hielt bereits seit 1855 selbst spiritistische Sitzungen ab. 1858 gründete er die erste spiritistische Zeitschrift in Paris, die Revue Spirite, sodann die Societé Parisienne des études spirites und verfasste verschiedene Bücher. Bei einer spiritistischen Sitzung teilte ihm sein „Schutzgeist“ (esprit protecteur) mit, er habe bereits im alten Gallien als keltischer Druide mit Namen Allan KARDEC gelebt. Seither führte er diesen Namen und präsentierte sich selbst als historischen Beweis einer Reinkarnation. In seinem Buch „Livre des Esprits“ (Buch der Geister) verarbeitete er die Botschaften, die er durch Medien erhielt, zu einem ganzen System über die Geisterwelt, das zum Grundwerk des modernen Spiritismus werden sollte. In den folgenden Ausführungen fasst er seine wesentlichen Gedanken zusammen:

Abb. 3: Hippolyte Léon D. Rivail, alias Allan Kardec

„Gott ist ewig, unwandelbar, unmateriell, einig, allmächtig, allgerecht und allgütig. Er hat das Weltall erschaffen, welches alle belebten und unbelebten Wesen, materielle wie immaterielle, umfasst. Die materiellen Wesen bilden die sichtbare Welt, die Körperwelt, die immateriellen Wesen die unsichtbare Welt, die Geisterwelt. Die geistige Welt ist die normale, ursprüngliche, ewige Welt, die vor allem physischen Sein gewesen ist und alles Materielle überdauern wird. Die Körperwelt ist nur sekundär; sie könnte aufhören zu existieren, ja braucht nie existiert zu haben, ohne die Wesenheit der geistigen Welt zu verändern.
Die Geister legen auf Zeit eine vergängliche, materielle Hülle an, deren Zerstörung – das, was man gewöhnlich Tod nennt – sie wieder in Freiheit setzt …
Die Geister gehören nicht für alle Zeit zu derselben Ordnung. Sie erheben sich nach und nach und steigen auf der geistigen Leiter immer mehr empor. Diese Besserung findet durch die Einverleibung statt, die auch als Sühne sowie als Mission auferlegt sein kann. Das materielle Leben ist eine Prüfung, welche die Geister zu wiederholten Malen zu bestehen haben, bis sie zu einem gewissen Grade der Vollkommenheit gelangt sind. Es ist dies für sie eine Art Siebtuch oder Läuterungsapparat, aus dem sie mehr oder minder geläutert hervorgehen.
Beim Verlassen des Körpers kehrt die Seele in die geistige Welt zurück, um nach Ablauf längerer oder kürzerer Zeit, während welcher sie sich im Zustande eines ,Wandelgeistes‘ befindet, eine neue materielle Hülle anzunehmen.
Da der Geist durch mehrere Einverleibungen hindurchgehen muß, so ergibt sich, daß wir alle mehrere Existenzen hinter uns haben und daß wir noch andere, mehr oder weniger vollkommene werden bestehen müssen, sei es hier auf Erden, sei es auf anderen Weltkörpern.
Die Einverleibung der Geister findet stets in der Ordnung Mensch statt. Irrtümlich glaubte man früher, daß Seele oder Geist sich in ein Tier einverleiben könne (Seelenwanderung, Metempsychose). Die verschiedenen materiellen Existenzen des Geistes sind immer vorwärtsschreitende, nie rückwärtsschreitende; aber die Geschwindigkeit des Fortschritts hängt von den Anstrengungen ab, welche wir machen, um zum Ziele zu gelangen…
Bei ihrer Rückkehr in die geistige Welt findet die Seele alle die wieder, welche sie auf Erden gekannt hat, und alle ihre früheren Existenzen stellen sich nach und nach mit der Erinnerung an ihre guten und schlechten Taten wieder im Gedächtnis dar … Die einverleibten Geister bewohnen die verschiedenen Himmelskörper im unendlichen Raume…
Die nicht einverleibten Geister, die ,Wandelgeister‘, bewohnen keine bestimmte und begrenzte Gegend im unendlichen Raume; sie finden sich überall im Raume, an unserer Seite, uns betrachtend und unaufhörlich umdrängend. Es ist dies eine ganze, unsichtbare Bevölkerung, die um uns herum lebt und webt.“5
Wie bereits in der Reinkarnationslehre des Hinduismus, von der sich KARDECs Reinkarnationslehre darin unterscheidet, dass sie nur auf den Menschen bezogen ist, lehrt auch er, dass diese Welt nicht der einzige Ort der Wiedergeburt ist:
„Die hiernieden ist weder die erste noch die letzte, ja sie ist eine der am meisten stofflichen und am weitesten von der Vollendung entfernten.“6
Wie aus diesen Ausführungen hervorgeht, lehrt KARDEC im Gegensatz zum amerikanisch-angelsächsischen Spiritismus, der vor allem durch A. J. DAVIS Verbreitung fand, die Reinkarnation. Er verneint die Gottheit Christi, die Hl. Schrift und die ewige Verdammnis. Dies führte zwangsläufig zur Verurteilung durch die Kirchen.
Der Einfluss KARDECs hat vor allem in Südamerika Millionen von Anhängern in den Bann gezogen.

2. Der gegenwärtige Spiritismus

Abb. 4: Morey Bernstein versetzt Virginia Tighe, alias Ruth Simmons – oder Bridey Murphy – in Trance (1956). Sein Buch über ihre angebliche Wiedergeburt wurde eine Weltsensation.

Der gegenwärtige Spiritismus ist sehr vielschichtig. Er reicht von der Ablehnung der christlichen Grundwahrheiten bis zur vollen Annahme der christlichen Lehre, von einem rein inneren Bezug mit dem Geistwesen des Jenseits über Rückführungen und Hypnose (Abb. 4) bis zur so genannten Transkommunikation, die jenseits aller theologischen Fragen, mittels verschiedenster Formen der Technik, unter Einschluss der Elektronik, den empirischen Beweis einer Kommunikation mit der Dimension des Geistes und den Geistern der Verstorbenen zu erbringen sucht.7

Bei allem Bemühen, mit der Welt der Geister in Verbindung zu treten, sollte man bei zahlreichen „Stimmen“, die sich dabei von außen oder im Innern melden, stets auch in Rechnung ziehen, dass man selbst der Produzent sein kann. Die Unterscheidung der Geister ist hier besonders gefragt.

 

 

Anmerkungen:
1 G. WOLTERS: Franz Anton Mesmer (1988); W. BONGARTZ (Hg.): Hypnosis (1992)
2 L. FEUERBACH: Das Wesen des Christentums (1848); zit. nach: H. RELLER: Handbuch religiöser Gemeinschaften (1979), S. 575
3 K. MARX: Pages choicies pour une éthique socialiste (1848); zit. nach: H. RELLER: Handbuch religiöser Gemeinschaften (1979), S. 575
4 A. J. DAVIS: The Philosophy of Spiritual Intercourse (1851); dt.: Die Philosophie des geistigen Verkehrs (1884)
5 A. KARDEC: Das Buch der Geister (o.J.), S. 18
6 Ders., ebd., 139
7 A. RESCH: Spiritismus (1988), 1175; ders.: Forleben nach dem Tode. – 4. Aufl. – Innsbruck: Resch, 1987; W. P. MULACZ: Der sogenannte wissenschaftliche Spiritismus (1976)