Andreas Resch: Inselbegabungen II-IV

II. RECHNERISCHE INSELBEGABUNGEN

In den folgenden Ausführungen sollen jene rechnerischen Inselbegabungen vorgestellt werden, die als Naturtalente in einer besonderen Weise beeindrucken und als solche allgemeine Anerkennung finden.

Jedediah Buxton

Jedediah Buxton (* 20. März 1707 in Elmton, Derbyshire, England; † 1772), Landarbeiter und Rechengenie.

Jedediah Buxton (1707-1772)

Biografisches
Jedediah Buxton, dritter Sohn des Bauern und Lehrers von Elmton, William  Buxton, und seiner Frau Sara, wuchs im Schoß der Familie auf, ohne je lesen und schreiben zu lernen. Er arbeitete vielmehr bis zu seinem Lebensende als Landarbeiter. Wie heute beurteilt werden kann, war Buxton von Geburt an Autist, den nur Zahlen interessierten und dem die soziale Kommunikation völlig fehlte. Mit seiner außergewöhnlichen Begabung im Kopfrechnen versetzte er die gesamte Umgebung in Staunen. Da er Analphabet war, stellte man sich die Frage, wie und wann er zur Unterscheidung der Zahlenverhältnisse und deren Benennung gekommen war. Die Antwort darauf blieb er schuldig, weil er es schlicht und einfach nicht wusste. Sicher ist jedenfalls, dass er von Kindheit an eine besondere Vorliebe für Zahlen hegte. Allem, was mit Zahlen zu tun hatte, galt seine Aufmerksamkeit in einem Ausmaß, dass er äußere Umstände und Gegenstände stets nur auf ihre Zahl hin bedachte. So begann er mit 12 Jahren zu addieren, multiplizieren und subtrahieren.
Erstmals Aufsehen erregte Buxton mit der Vermessung des Gebietes von Elmton in der Größe von 4 km2, indem er dieses, lediglich durchschreitend, penibel nach diversen Maßeinheiten gliederte. Sein Zahlengedächtnis war derart, dass er nach einer Woche oder sogar noch nach Monaten Berechnungen, die er unterbrochen hatte, an ein und derselben Stelle wiederholen und fortführen konnte. Seine ständige Beschäftigung mit Zahlen verhinderte zwar jeden anderen Wissenserwerb, nicht aber die persönliche Lebensplanung. So heiratete er Alice Eastwood, mit der er drei Kinder hatte, John, Susannah und Sara, deren Nachkommen bis heute in der Gegend ansässig sind.
Berechnungen
Anfangs waren Buxtons Berechnungen rein zweckbezogen. So durchschritt
er beispielsweise ein Feld, bestimmte dessen Ausmaße und dividierte dann das Ganze, um in etwa festzulegen, wie viele Brokkoli-Pflänzchen es brauchte, um das Feld zu füllen, wenn man diese im Abstand von soundsoviel Metern in soundsoviel Reihen zueinander setzte. Auch war er dafür bekannt, sich Anforderungen zu stellen, dann zum Arbeiten auf das Feld zu gehen, dort nachzusinnen und Berechnungen durchzuführen, um schließlich am Ende eines Arbeitstages in ein Gasthaus einzukehren und ein Freibier zu genießen.
Von seinen vielen mathematischen Meisterleistungen sei hier als Beispiel nur die Berechnung des Produkts eines 139-mal verdoppelten Farthing erwähnt (Viertelpenny, erste Prägung in Silber im 13. Jh., später in Kupfer und Bronze; gültiges Zahlungsmittel bis 1960). Das in Pfund berechnete Ergebnis ergab eine 39 Stellen umfassende Zahl, die sich bei Nachprüfung unter Verwendung von Logarithmen als korrekt erwies. Buxton multiplizierte diese enorme Zahl dann mit sich selbst. Es scheint, dass er dabei eine eigene Nomenklatur für große Zahlen kreierte. So stellte er eine Reihe neuer Zahlen auf, um mit dem Begriff „Millionen von Millionen von Millionen“ zurechtzukommen, wie „tribes“ (1018 = 1 Trilliarde) und „cramps“ (1039 = 1 Sextilliarde).
Pressestimmen
Buxtons außerordentliche mathematische Leistungen kamen schließlich dem Herausgeber des Gentleman’s Magazine zu Ohren, der einen Reporter für ein Gespräch zu ihm schickte. Dabei musste dieser feststellen, dass Buxton ein völlig unbelesener Mann war, wenngleich er sich mit Quadrat, Rechteck, Dreieck und Zirkel bestens auskannte. So sagte er in einer Beurteilung der Konzentrationsfähigkeit Buxtons, dieser habe überhaupt kein Interesse an dem Gespräch gezeigt, sei einfach nur teilnahmslos dagesessen und habe lediglich Augen für den Bierkrug vor sich gehabt. Der Bericht erschien im Juni 1754 im genannten Magazin.
Bei der Royal Society in London
Nachdem Buxtons Ehefrau Alice 1753 verstorben war, ergriff ihn, der bis dahin nur über einen lokalen Bekanntheitsgrad verfügte, plötzlich die Wanderlust, und er wollte seine Fähigkeiten einer breiteren Öffentlichkeit vorstellen. So machte er sich im darauffolgenden Jahr auf den Weg nach London, um dort u.a. auch König Georg II. zu treffen. Die gut 200 Meilen legte er zu Fuß zurück. Als er in London ankam, war der König allerdings verreist. Buxton ergriff daher ersatzweise die Gelegenheit, sich der Royal Society vorzustellen, wo er durch Rechenoperationen wie Multiplizieren und Wurzelziehen beeindruckte. Zudem wurde ihm erlaubt, zwei Personen anzuweisen, ihm nacheinander verschiedene Fragen zu stellen, die er jedes Mal richtig beantwortete. Auf Wunsch konnte er die Antworten ein, zwei Monate später wiederholen. Einige Mitglieder der Gesellschaft, die seine Fähigkeiten genauer unter die Lupe nehmen wollten, forderten ihn sogar auf,  eine Reihe von Berechnungen durchzuführen, die im Grunde für unlösbar gehalten wurden. Buxton war jedoch auch in der Lage, eine lange Rechenoperation auf halbem Weg zu unterbrechen, um sie dann erst nach einer gewissen Zeit zu Ende zu führen. Eine weitere Frage, die ihm gestellt wurde, war, wie viele Gerstenkörner, von denen das Einzelne den soundsovielten Bruchteil von einem Inch (2,54 cm) ausmachte, aneinandergereiht werden müssten, um auf eine Länge von acht Meilen zu kommen. Buxton gab innerhalb von eineinhalb Minuten die richtige Antwort: 1.520.640 (also drei Gerstenkörner pro Inch). Alle diese Aufgaben löste er im Kopf.
Die Royal Society bekundete ihre Anerkennung durch eine großzügige Spende und lud Buxton zur Aufführung der Tragödie von Richard III. in das Drury Lane Theatre, wo der damals berühmte Schauspieler David Garrick auftrat. Während die anderen beeindruckt dem Geschehen folgten, richtete Buxton seine Aufmerksamkeit einzig und allein auf die Anzahl der von Garrick rezitierten Worte. Das Gleiche galt für die Schritte der Tänzer. Anschließend erzählte er, dass ihn die unzähligen von Musikinstrumenten produzierten Töne dabei über die Maßen verwirrt hätten.
Buxton führte zudem die längsten nur denkbaren Berechnungen durch und löste die schwierigsten Aufgaben in Arithmetik durch bloße Gedächtnisanstrengung. Weder Lärm noch Gespräche konnten ihn aus dem Takt bringen. Er fuhr mit seiner Berechnung die ganze Zeit hindurch fort oder unterbrach in der Mitte, um sie später fortzusetzen, oder wiederholte sie auch noch Jahre danach.
Nach seinem Abstecher nach London kehrte er, reichlich unbeeindruckt,  wieder nach Elmton zurück und verbrachte dort den Rest seines Lebens als Bauer.
Die letzten Tage
Was seinen Tod betrifft, so kursiert hier u.a. folgende Geschichte: Als 1772 der Duke of Portland zu Besuch kam und anbot, am darauffolgenden Donnerstag wiederzukehren, teilte ihm Buxton zu seiner Verblüffung mit, dass sie sich wohl nicht wiedersehen würden, weil er, Buxton, an eben diesem Donnerstag sterben werde. Und seine Vorhersage sollte sich bewahrheiten. Er starb genau zum berechneten Zeitpunkt.
Buxtons Grab befindet sich in der Kirche von Elmton. Die Erinnerung an ihn ist ungebrochen. 2011 wurde dort auf dem Vorplatz ihm zu Ehren eine blaue Gedenktafel enthüllt.
Jedediah Buxton gehört zu den größten autistischen Inselbegabungen.

Lit.: Extract from the ‘Gentleman’s Magazine’, June 1754, relating to ‘The life of Jedediah Buxton’, together with a full page print.

Rüdiger Gamm

Rüdiger Gamm (geb. am 10. Juli 1971 in Welzheim im Rems-Murr-Kreis, Deutschland), Gedächtnis- und Mentaltrainer.

Rudigier Gamm (* 1971)

Ausbildung
Gamm verbrachte seine Jugend in Rienharz und war schon von klein auf  wissbegierig. Was seine schulische Ausbildung anbelangt, so schloss er die mittlere Reife allerdings mit Durchschnittsnoten ab, da Mathematik und Physik seine Problemfächer waren. Dies hatte laut Gamm seinen Grund darin, dass das, was in der Schule gerade geboten wurde, nie zu seinem aktuellen Interesse gehörte. So war Mathematik für ihn völlig uninteressant, über Raumfahrt hingegen wollte er alles wissen. Die Eltern hatten Verständnis und kauften ihm die gewünschten Bücher.
Gamms besonderes mathematisches Interesse erwachte erst um das 21. Lebensjahr, als nach der Lektüre eines mathematischen Buches die Zahlen in seinem Leben einen größeren Platz einzunehmen begannen. Zunächst lernte er die Quadratzahlen zwischen 1 und 99 auswendig, weitere Potenzen und gelernte Zahlenprodukte kamen dazu. Bereits nach einer Woche machte er die Feststellung, dass er schneller im Kopf rechnen konnte als ein Rechenmeister, der im Radio auftrat.
Hirnphysiologische Untersuchungen
Bei den wissenschaftlichen Untersuchungen von Gamms Gehirn stellte man u.a. fest, dass der Verbindungsbalken zwischen den beiden Gehirnhälften um einiges stärker ausgeprägt ist. Auch an den Seiten ist sein Gehirn breiter. Gamm selbst ist der Ansicht, dass seine Begabungen nur zum Teil von der Anatomie abhängen, zum andern aber von seiner Verbissenheit, zu trainieren. Zu Beginn seiner Rechnerei habe er acht und mehr Stunden allein im Wald geübt und begab sich nur noch zum Duschen, Essen und Schlafen nach Hause. Die beim Rechnen zu beobachtenden Bewegungen der Hände dienten nicht als Gedankenstütze, sondern würden gewohnheitsmäßig helfen, die Lösungen leichter zu finden. Als Hauptmotivation für das Trainieren nennt Gamm sein Bestreben, auf rechnerischem Gebiet in dieser Form weltweit der Einzige und Beste zu sein. Der Erfolg habe nämlich seine Schüchternheit in Selbstbewusstsein verwandelt. Dafür sei es, nach Gamm, grundsätzlich wichtig, täglich danach zu streben, besser zu werden.
Art der Berechnungen
Was die Art von Gamms Berechnungen betrifft, so unterscheidet sich diese vom normalen Rechnen, bei dem mit dem Kurzzeitgedächtnis gearbeitet wird, durch die bei ihm gegebene Zusammenarbeit von Langzeit- und Kurzzeitgedächtnis. Zudem entwickelt Gamm, wie auch andere begabte Rechner, jeder Zahl gegenüber ein Gefühl, allerdings nicht in Form von Musik oder Farben, sondern in Form von „geschriebenen“ Zahlen. So kann er z.B. für die Zahl Pi die ersten 200 Stellen nach dem Komma einfach abrufen. Dabei unterscheidet er zwischen „weichen“ und „spitzen“ Zahlen. 856 ist z.B. eine weiche, 791 eine spitze und die 7 eine sehr schöne Zahl. Wenn man nämlich eine Zahl durch sieben teilt, taucht nach dem Komma immer der Kehrwert der Sieben auf. Zudem visualisiert Gamm die Zahlen und stellt sie sich niedergeschrieben vor. Bei konkreten Rechenaufgaben schließt er die Augen und liest die Zahl im Innenraum ab, wie folgendes Beispiel erklären soll:
Bei der Frage: Wie viel ist 99 hoch 20? schließt Gamm die Augen, legt die Hände an seine Schläfen und sagt nach einigen Sekunden: „8 Sextilliarden, 179 Sextillionen, 69 Quintilliarden, 375 Quintillionen, 972 Quadrilliarden, 308 Quadrillionen, 708 Trilliarden, 891 Trillionen, 986 Billiarden, 605 Billionen, 443 Milliarden, 361 Millionen, 898 Tausend und 1, mathematisch ausgeschrieben: 8 179 069 375 972 308 708 891 986 605 443 361 898 001.
Gamm kann aber auch ohne Taschenrechner oder Computer zurückrechnen und Wurzeln bis zu 20 ziehen sowie die Zahlen in elf Sprachen abrufen.
Kalenderdaten
Ebenso verblüfft Gamm in Kalenderangelegenheiten. So antwortete er etwa auf die Frage: Wie viele Mittwoche, den 13., gab es 1286? – Das seien drei gewesen: im Februar, März und November. Zudem kann er Wochentage zurück bis in das Jahr 1 n. Chr. zuordnen.
Mangelerscheinungen
Trotz dieser Fähigkeiten schaffte Gamm nicht einmal das Abitur. Im Rechnen war er der Schlechteste. Er hatte meistens Fünfer und blieb sitzen. Das lag ihm zufolge aber an den Lehrern.
Seine mathematische Spitzenbegabung entdeckte Gamm, heute gelernter Versicherungskaufmann, erst  nach dem Abschluss der achten Klasse. Er hörte im Radio eine Sendung über den deutschen Meister im Kopfrechnen und bemerkte dabei, dass er schneller und besser rechnen konnte als dieser. Seitdem hat er nichts mehr außer Zahlen im Kopf.
Gamms Rechenvermögen sei eine Mischung aus Veranlagung und Training. Schon seine Mutter habe früher als Bankangestellte sämtliche Kontonummern der Kunden im Kopf gehabt. Sein Vater könne perfekt rückwärtssprechen.
Bei seinem ersten Auftritt am 15. Januar 1994 löste Gamm in Thomas Gottschalks „Wetten, dass..?“-Sendung die Aufgaben mit hoch 12 blitzschnell.
Weltrekordler und Pokalsieger im Kopfrechnen
Der inzwischen zum Weltrekordler im Potenzieren und Weltpokalsieger im Kopfrechnen avancierte Rüdiger Gamm wird international für Veranstaltungen gebucht. Dafür trainiert er sein Zahlengedächtnis und seinen Körper täglich mehrere Stunden. Seine Motivation schöpft das mit einem IQ von mehr als 200 ausgestattete Rechengenie aus der Liebe zur Zahl, verbunden mit dem Gefühl, eine Leistung zu erbringen wie sonst niemand auf der Welt.
Gamm arbeitet als Buchautor, trainiert Manager, Profisportler, Kreative sowie alle „Kopfarbeiter“.
Inselbegabter?
Da Gamm keine nennenswerten Verhaltensanomalien aufweist und für seine Leistungen schwer trainiert, stellt sich die Frage, ob er zu den Inselbegabungen (Savants) zu zählen ist. Die bei allem Ehrgeiz und Training gebotene Leistung reicht ohne eine besondere Begabung nicht aus, die jenseits von Fleiß und wissenschaftlicher Deutung liegt. Wenn auch kein Beleg für Autismus vorliegt, so lässt die überdimensionale Vorliebe für Zahlen, verbunden mit den Misserfolgen im normal-schulischen Bereich, an ein Asperger-Syndrom denken. Jedenfalls gehört Gamm zu den größten Rechengenies. Dabei geht es nicht nur um das Rechnen im herkömmlichen Sinn, sondern auch um das Behalten von Ergebnissen großer Zahlenmengen, die bei Bedarf selbst nach vielen Jahren noch abrufbar sind.

Lit.: Gamm, Rüdiger /Ehlert, Alexandra: Das Brain-Training: Fitness für Gedächtnis, Logik und Kreativität; [Neues vom Rechengenie]. München: Heyne, 2011.
http://www.ruediger-gamm.de

Jason Padgett

Jason Padgett  (geb. am 7. Oktober 1972 in Oklahoma City, Oklahoma, USA, als Jason Henson Padgett), Autor, Produzent, Inselbegabter.

Jason Padgett (1972)

Jason Padgett verzeichnete in der Schule sowohl in Sprachen als auch in Naturwissenschaften und Mathematik nur mäßigen Erfolg. Zahlen und Geometrie interessierten ihn überhaupt nicht und Algebra bereitete ihm sogar große Mühe. Er quälte sich durch die Klassen bis zum Abschluss und ging dann sogar aufs College. Im Grunde wollte er sich nur amüsieren und das 24 Stunden am Tag und 7 Tage in der Woche. So verließ er das College, kaufte sich von seinem Ersparten einen gebrauchten Camaro und zog mit seinen Kumpels von Kneipe zu Kneipe. Ein Job als  Matratzen-Verkäufer im Geschäft seines Vaters reichte ihm, um die Miete zu bezahlen, einzukaufen und seine Hobbys zu finanzieren. Er glaubte, dass das immer so weitergehen würde, doch es kam anders.
Überfall
Am 13. September 2002 lauerten ihm vor einer Karaoke-Bar in Tacoma im US-Bundesstaat Washington zwei Männer auf, die es auf seine 99 Dollar-Jacke abgesehen hatten, und schlugen auf ihn ein. Padgett erinnert sich nur noch an einen dumpfen Aufprall und dass ein weißes Licht in seinem Kopf aufblitzte. Er fiel in eine kurze Ohnmacht. Als er wieder zu sich kam, wurde er von allen Seiten attackiert. Die Angreifer schlugen ihm mehrmals auf den Hinterkopf und traten ihn. Später in der Nacht diagnostizierten die Ärzte eine schwere Gehirnerschütterung sowie eine Nierenblutung und schickten ihn anschließend mit Schmerzmitteln nach Hause.
Geometrische Muster
Als er am nächsten  Morgen in sein Badezimmer ging, nahm er plötzlich hochkomplexe geometrische Muster wahr. Das Wasser aus dem Wasserhahn floss in Linien in das Becken. Zunächst war Padgett schockiert und besorgt. Er dachte, er sei verrückt, doch sahen die Wasserlinien wunderschön aus und er begann zu malen, was er sah. Dabei wusste er noch nicht, dass er Muster malte, die man in der Mathematik Fraktale nennt. Mit einem Schlag war er von Geometrie und Physik fasziniert und die Zahlen, mit denen er zuvor nur in seinem Möbelladen und bei der Begleichung seiner Kneipenrechnungen zu tun hatte, wurden zu seinem Lebensinhalt. Er „sah“ die Formel hinter der Zahl Pi, begeisterte sich für Primzahlen und verstand auf einmal Einsteins Relativitätstheorie, konnte sich aber all das nicht erklären.
Dann sah er eine von der BBC ausgestrahlte Dokumentation über den Inselbegabten Daniel Tammet, der mehr als 22.000 Stellen hinter dem Koma von Pi aufsagen konnte. Als Fachmann trat Dr. Darold Treffert aus Wisconsin auf. Padgett ließ sich daraufhin von Treffert untersuchen. Seine Diagnose war eindeutig: Padgett gehöre zu jener kleinen Gruppe von Inselbegabungen, die auf einem bestimmten Gebiet ein besonders ausgebildetes Talent aufweisen, in anderen Bereichen aber oft eher begrenzt bis sehr eingeschränkt sind.
Padgett fühlt sich zwar völlig normal, ist jedoch besessen von der Angst, krank zu werden, und wäscht sich pausenlos die Hände, leidet also an einer Zwangsneurose. Er geht kaum noch aus, verabscheut grelles Licht und verhängte aus diesem Grund die Fenster mit Decken. Auch Besucher empfängt er nur noch selten.
Wissenschaftliche Untersuchung
Was die wissenschaftliche Untersuchung betrifft, so wurde er im Broogard Lab for Multisensory Research in Miami, USA, einer Gehirntomographie unterzogen. Dabei stellte man fest, dass Padgetts linke Hirnhälfte, die für das mathematische Verständnis zuständig ist, deutlich aktiver war als seine rechte. Zudem vertrat man nach all den Analysen die Ansicht, dass gerade die Schläge auf den Hinterkopf das besondere Talent ausgelöst hätten. Trotz der an Padgett vorgenommenen wissenschaftlichen Untersuchungen lässt sich aber nicht sagen, ob seine Begabungen von Dauer sein werden.
Das Besondere an Padgetts Geschichte ist, dass er nicht als Inselbegabter geboren wurde. Er ist vielmehr einer von etwa 30 Inselbegabten weltweit, deren spezielles Talent plötzlich auftauchte. Bei Padgett geschah dies durch einen brutalen Überfall mit Körperverletzung und Schock, wie er in seinem 2014 zusammen mit Maureen Seaberg veröffentlichten Buch Struck by Genius schreibt. Zudem verfügen von den Personen, die sich durch „erworbene Inselbegabungen“ auszeichnen, nur wenige über mathematische Fähigkeiten. Padgett deutet dies dahingehend, dass in jedem Menschen eben verschiedene unentdeckte Stärken liegen.
Muster und Winkel
Wie erwähnt, sieht Padgett seit dem Überfall in der Natur überall Muster und Winkel. Er beschreibt seine Eindrücke als diskrete Bildrahmen, die in Realzeit von Linien getragen werden. Ein Rastereindruck entsteht. Mit dieser neuen Sicht verband sich eine überraschende mathematische Zeichner-Qualität. So begann Padgett mit dem Zeichnen von Kreisen mit überlagernden Dreiecken, was ihm das Verständnis der Zahl Pi ermöglichte. Er kennt die Zahl, weil er stets die Ecken eines Polygons sehen kann, das sich einem Kreis nähert. Daher gefällt ihm auch der Begriff Unendlichkeit nicht, weil er jedes Muster als eine endgültige Konstruktion von kleineren und kleinsten Einheiten wahrnimmt, was die Physiker als Planck-Länge oder Planck-Einheiten bezeichnen, da es die kürzeste messbare Länge ist.
Aktuelle Lebenssituation
Heute lebt Jason Padgett mit seiner russischstämmigen Frau Elena in einem Einfamilienhaus in Tacoma, Washington, USA. An den Wänden der Wohnung hängen hochkomplexe geometrische Zeichnungen, die er in den vergangenen Jahren in Handarbeit erstellt hat.
Ein normaler Tag beginnt laut eigenen Aussagen bei ihm damit, dass er ins Bad geht und den Wasserhahn aufdreht, da die Beobachtung des Wassers nach wie vor magisch auf ihn wirkt. Die Struktur des Wassers vibriere nämlich in spezifischen geometrischen Formen und Frequenzen, gleich Kristallen. Akribisch beobachtet Padgett den Tanz der Tropfen und versucht, sich diesen einzuprägen, um ihn später zu zeichnen. Vor dem Zähneputzen hält er die Zahnbürste 16-mal unter den Wasserstrahl, weil dies ein perfektes Quadrat ergebe, das perfekt zum dreidimensionalen runden Objekt des Mundes passe. Vielleicht ist dies, wie er sagt, auch nur seiner Zwangsstörung zuzuschreiben, unter der er seit dem Überfall leidet.
Da die meisten Menschen von seinem Wasserstrahl nicht übermäßig angetan sind, wünscht er sich, dass sie sehen könnten, was er sieht. Padgett legt über alles ein Raster, sieht so die Welt in Echtzeit und kann dabei vier bis fünf Phasenbilder gleichzeitig betrachten, denn alles sieht etwas verpixelt aus.
Die Bilder an seiner Wand würden, so Padgett, nur annähernd zeigen, wie er die Welt wahrnimmt, da die Zeichenstifte zur Darstellung der Feinheiten zu fett seien.
Was konkret die Wahrnehmung von bereits früher bekannten Umgebungen betrifft, so ist es für Padgett schwierig, sich daran zu erinnern, weil er jetzt alles in geometrischen Mustern sieht. Die Dreiecke der Blätter erinnern ihn an den Satz des Pythagoras. Sie sind offensichtlich Fraktale. Im Geist legt er ein Raster zwischen sie. Wenn die Sonne scheint, ergibt das eine großartige Schau, denn er sieht, wie die Zweige das Licht in lauter kleinen Dreiecken reflektieren. Schon Galileo Galilei sagte, dass wir das Universum nicht verstehen können, so lange wir seine Sprache nicht gelernt haben. Nach Padgett sind Mathematik und Geometrie die Grundlagen dafür.
So ist er der Ansicht, dass alle Menschen die Umwelt so wahrnehmen könnten wie er. Denn nach den Ärzten sei sein Gehirn durch den Überfall nicht verändert, sondern es seien lediglich angeborene Fähigkeiten aktiviert worden. Das besagt, dass die Fähigkeiten nicht im Gehirn, sondern im geistigen Personträger des Einzelnen zu suchen sind, der nach meiner Darstellung mit der Anima Mundi (Weltgeist) kommuniziert. Das Gehirn sei vielmehr ein Flaschenhals unserer Fähigkeiten, der beim normalen Bewusstsein einen harmonisierenden Ausgleich zwischen den einzelnen Fähigkeiten bewirkt. Bei Sonderbegabungen ist dieser Flaschenhals, also das Gehirn, in dem betreffenden Bereich durchlässiger, was sich bei Jason Padgett im Interesse für Muster und Winkel, verbunden mit der Fertigkeit, das Erlebte nachzuzeichnen, ausdrückt.

W.: Padgett, Jason/Seaberg, Maureen: Struck by Genius. How a Brain Injury Made Me a Mathematical Marvel. Boston [u.a.]: Houghton Mifflin Harcourt, 2014.
https://www.google.at/?gws_rd=ssl#q=padgett+jason

III. SPRACHLICHE INSELBEGABUNGEN

Im Folgenden werden sprachliche Sonderbegabungen vorgestellt, die als Naturtalente besonders beeindrucken und ebenso allgemein anerkannt werden. Bei diesen Begabungen handelt es sich durchwegs um völlig normale Personen mit großem beruflichen Erfolg. Dieser Erfolg ist vor allem durch ihre Sprachbegabung gekennzeichnet, die ihrerseits das Hauptmerkmal der persönlichen Lebensgestaltung bildet. Ohne intensive und ständige Beschäftigung mit den Sprachen können diese weder erlernt noch stets erinnert werden. Allerdings liegt das Lernen und Erinnern bei den Betreffenden jenseits normalen Lernens und Erinnerns. Es scheint bei ihnen eine Bewusstseinsform zu wirken, die in Verbindung mit der Weltseele, der Anima Mundi, steht und somit die kosmische Resonanz aufgreift, sind doch Sprachen im Letzten individualisierte Resonanzphänomene mit eigener rhythmischer Qualität.
In diese Richtung sind auch die Theorien zur Klärung der Inselbegabungen bei Autisten mit Gehirnschädigungen zu verstehen, nach denen die Gehirndefekte als Entsperrung der normalen hirnphysiologischen Schranken gedeutet werden. Dahinter steckt der Gedanke, dass durch die hirnphysiologische Einschränkung von Aktions- und Orientierungsformen auf der einen Seite es zur Schaffung von Freiräumen auf der anderen Seite kommt. Für wen sollen diese Freiräume gelten, wenn nicht für den spontanen Zugang zum je eigenen Seelengrund und dessen Kommunikation mit der Weltseele. Damit wird allerdings der rein hirnphysiologische Raum verlassen, zumal hier keine Erklärung der Sonderbegabungen zu überzeugen vermag.

Emil Krebs

Emil Krebs (geb. am 15. November 1867 in Freiburg in Schlesien, heute Świebodzice; gest. am 31. März 1930 in Berlin), deutscher Sinologe, vielsprachig (polyglott), Diplomat, Dolmetscher und Übersetzer. Er beherrschte 68 Sprachen, was es ihm ermöglichte, im Auswärtigen Amt in Berlin aus mehr als 40 Fremdsprachen zu übersetzen.

Emil Krebs (1867-1930)

Ausbildung
Von 1870 bis 1887 lebte Krebs mit den neun Geschwistern bei seinen Eltern, Gottfried und Pauline Krebs geb. Scholz, in Esdorf (heute: Opoczka). Als Volksschüler kam er erstmals in Kontakt mit einem französischen Wörterbuch. Von 1878 bis 1880 besuchte er die Höhere Realschule in Freiburg (Schlesien) und von 1880 bis 1887 das Evangelische Gymnasium in Schweidnitz, auf dessen Lehrplan Latein, Französisch, Althebräisch und Altgriechisch standen. Neben diesen Sprachen lernte Krebs als Autodidakt noch Neugriechisch, Englisch, Italienisch, Spanisch, Russisch, Polnisch, Arabisch und Türkisch. Am 17. März 1887 legte er das Abitur ab, wobei ihm bereits 12 Sprachen geläufig waren. Anschließend studierte er an der Universität Breslau ein Semester evangelische Theologie und Philosophie, um dann im Wintersemester 1887 an der Universität Berlin mit dem Studium der Rechtswissenschaften zu beginnen und am neu gegründeten Seminar für Orientalische Sprachen Chinesisch zu studieren.
Staatsdienst
Nach Abschluss des Studiums am 24. Juli 1890 machte Krebs am 12. Juni 1891 das erste juristische Staatsexamen und wurde Gerichtsreferendar beim „Königlich-preußischen Amtsgericht“ in Gottesberg (Preußen) und dann beim Kammergericht im Berlin. 1892 wurde er am Seminar für Orientalische Sprachen Mitglied der türkischen Klasse, doch bereits am 30. September 1893 schickte man ihn als Dolmetscher-Aspiranten nach Peking, wo er am 10. Juni 1896 zum zweiten Dolmetscher der deutschen Kaiserlichen Gesandtschaft bestellt wurde. Mit Chinesisch, Mongolisch, Mandschurisch, Tibetisch und Koreanisch stieg seine sprachliche Bedeutung, weshalb ihm auch ohne Konsulatsexamen der Titel eines Legationsrats verliehen wurde. Am 5. Februar 1913 heiratete Krebs in Shanghai Mande Hayne geb. Glasewald.
In seiner Freizeit fanden auch Privatbesuche im chinesischen Kaiserhaus und beim ersten Präsidenten Chinas, Yuan Shikai, statt.
Beim Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und China im März 1917 kehrte Krebs nach Berlin zurück, wo er am 1. Januar 1918 in den einstweiligen Ruhestand versetzt wurde. Das Auswärtige Amt nutzte aber weiterhin seine Sprachkenntnisse und ab 1923 erfolgte die Festanstellung als Übersetzer und Prüfer, denn Krebs ersetzte nach dem Leiter des Sprachdienstes 30 Außendienstmitarbeiter.
Sein Bedürfnis, neue Sprachen zu lernen, verlief im Alltag folgendermaßen: Krebs hörte im Gasthaus eine ihm unbekannte Sprache, z.B. Armenisch. Sogleich bestellte er an der Universitätsbibliothek eine armenische Grammatik, altarmenische Kirchenliteratur sowie moderne armenische Romane und begann zu lernen. Für die armenische Grammatik benötigte er zwei,  für das Altarmenische drei und für die gesprochene armenische Sprache vier Wochen. Auch sonst war er stets mit dem Erlernen von Sprachen beschäftigt. Wenn man ihn störte, reagierte er zwar immer freundlich, wirkte aber zerstreut. Hartnäckige Besucher wurden durch langes Stehen zum baldigen Rückzug gezwungen.
Sprachen
In einer von ihm 1922 persönlich erstellten Auflistung finden sich neben den europäischen Sprachen noch folgende: Ägyptisch, Albanisch, Arabisch, Armenisch, Chinesisch, Georgisch, Hebräisch, Japanisch, Javanisch, Koreanisch, Latein, Mandschurisch, Mongolisch, Persisch, Russisch, Sanskrit, Syrisch, Tibetisch, Türkisch und Urdu. Zudem lernte er ohne Einbezug seiner Muttersprache über Englisch noch Afghanisch, Birmanisch, Gujarati, Hindi, Irisch, Singhalesisch und Portugiesisch; über Russisch erarbeitete er sich Burjatisch, Finnisch, Tatarisch, Ukrainisch und über Spanisch das schwierige Baskisch. Gleichzeitig befasste er sich mit den Dialekten Guipuzkoa, Bizkaia, Laburdi und Zubero. Als „Mittlersprache“ verwendete Krebs zum Erlernen und Vertiefen einer neuen Sprache neben Deutsch vorwiegend Englisch, Französisch, Russisch, Chinesisch, Griechisch, Niederländisch, Italienisch, Türkisch, Latein, Spanisch und Arabisch. Das „Neue Testament“ in 61 verschiedenen Sprachen spielte ebenfalls eine nicht unbedeutende Rolle.
Tod
Schließlich waren auch die Umstände seines Todes am 31. März 1930 so wie sein ganzes Leben: Er verstarb auf seiner Dienststelle im Sprachendienst des Auswärtigen Amtes während einer Übersetzung an einem Gehirnschlag. Nach Entnahme seines sogenannten „Elitegehirns“, das heute in der Heinrich Heine-Universität Düsseldorf aufbewahrt wird, wurde Emil Krebs in Berlin auf dem Südwestkirchhof Stahnsdorf begraben, wovon heute noch der Grabstein zeugt.
1932 wurde seine Privatbibliothek mit über 3500 Bänden und Schriften in über 110 Sprachen der Library of Congress in Washington D.C. übergeben.
Seine Sprachbegabung führte man auf das bei ihm besonders ausgeprägte Broca-Zentrum im Schläfenbereich zurück, das bei der Sprachproduktion eine wichtige Rolle spielt. Diese rein hirnphysiologische Deutung erfasst jedoch in keiner Weise das Ausmaß der außergewöhnlichen Sprachkenntnisse von Emil Krebs.

Lit.: Chinesische Schattenspiele/Übers. von Wilhelm Grube. Auf Grund d. Nachlasses durchges. u. abgeschlossen von Emil Krebs. Hrsg. u. eingel. von Berthold Laufer. München: Akad. d. Wiss., 1915; Hahn, Peter/Amunts, Katrin (Hg.): Emil Krebs – Kurier des Geistes. Badenweiler: Oase Verl., 2011.

Christopher Taylor

Christopher Taylor (geb. 1963 in England), Autist mit sprachlicher Inselbegabung. Bewegungsarmut, motorische Funktionsstörung, geistige Unterentwicklung.

Christopher Taylor (*1963)

Christopher Taylor zeigte als Kind zunächst keinerlei Störungen, wenngleich er bei der Geburt fast erstickt wäre. Im Alter von sechs Monaten traten dann jedoch in Form und Ausmaß schwere motorische Funktionsstörungen auf, verursacht durch eine weitreichende Schädigung des Gehirns, die zu Seheinbußen und Bewegungseinschränkungen (Apraxie) führten. Was seine Gesamtentwicklung anbelangt, so zeigten sich Beeinträchtigungen vor allem beim Gehen und Sprechen. Eine Magnetresonanzaufnahme ergab eine zerebrale Atrophie mit breiten Furchen über beiden Hemisphären.
Leseeifer
Im Alter von drei Jahren zeigte Taylor eine auffallende Lesefähigkeit (Hyperlexie), vor allem beim Französischbuch der Schwester. Die Eltern schenkten dem angesichts der Entwicklungsstörung ihres Sohnes keinerlei Beachtung, obwohl sich die Hyperlexie in einem raschen und korrekten Erfassen von lexikalischen Begriffen sowie geradezu in einer Besessenheit, neue Begriffe aus den verschiedensten Wörterbüchern zu erlernen, äußerte. Vielmehr wurden als Ursachen der Entwicklungsstörung Taylors eine Gehirnschädigung und ein Wasserkopf verantwortlich gemacht, musste er doch als Kind rund um die Uhr beobachtet werden, da er das Haus nicht allein verlassen konnte.
Seine Lesefähigkeit nannte man schließlich eine autistische Inselbegabung. Nach Aussagen von Fachexperten ist der Fall Christopher Taylor in der Geschichte der Literatur sogar weltweit einmalig, sodass man ihn als Wundertalent bezeichnet. Inselbegabte sind nämlich selten sprachbegabt, am wenigsten Frauen.
Da Taylor, wie dargelegt, bereits als Kind als zurückgeblieben eingestuft wurde, gab man ihn zunächst in eine Schule für Lernbehinderte. Anschließend kam er in ein Heim für betreutes Wohnen, wo er sich um den Garten kümmert. Das Wohnheim verlassen kann er allerdings nur in Begleitung, da er sonst die Orientierung verlieren und sich ängstigen würde. Er könnte von selbst nicht einmal seine Stammkneipe um die Ecke finden, wo er seit Jahren sein Bier trinkt.
Sprachbegabung
Andererseits kann Taylor 25 Sprachen verstehen, schreiben, lesen und zehn davon mehr oder weniger fließend sprechen. Er könnte also z.B. ein Bier  in 25 Sprachen bestellen, neben Englisch, Deutsch, Hindi, Italienisch, Norwegisch, Dänisch, Finnisch, Holländisch und Französisch auch auf Griechisch, Polnisch, Spanisch, Schwedisch, Türkisch, Russisch, Portugiesisch, Walisisch, in der Berber-Sprache der Tuareg, der Kunstsprache Epun sowie in der Gebärdensprache.
Mit seinem Wortschatz in Französisch bräuchte er sich auch nicht vor einem Professor der französischen Philologie zu verstecken.
Unklar bleibt hingegen nach Prof. Neil Smith, der sich mit Taylor eingehend befasst hat, warum er bei allgemeinen Intelligenztests schlecht abschneidet, bei Sprachtests jedoch Universitätsniveau erreicht. Es scheint, dass die autistische Motivation eine andere ist, d.h., dass er Vokabeln und Sätze nur sammelt und Sprache als bloßes (erlernbares) System betrachtet, denn der Gebrauch der Sprache zur Kommunikation mit anderen Menschen hat für ihn keine Bedeutung. Hinzu kommt noch, dass Taylor nach allen Seiten hin lesen kann, so auch seitenverkehrt. Außerhalb des Sprachbereiches ist sein Denken und Fühlen kaum zu spüren.
Damit ist Christopher Taylor das beste Beispiel eines Nebeneinanders von außerordentlicher Fähigkeit und völliger Unfähigkeit in ein und derselben Person.

Lit.: Ammari, Elham H.: Prodigious Polyglot Savants: The Enigmatic Adjoining of Language Acquisition and Emaciated Potentials. International Journal of Business and Social Science, vol. 2, no. 7; special issue (April 2011).
https://www.youtube.com/watch?v=hVfyZVaH9ag
https://www.youtube.com/watch?v=Nz3h0K0GazM

Raffael Merry del Val

Raffael Merry del Val (geb. am 10. Oktober 1865 als Rafael María José Pedro Francisco Borja Domingo Gerardo de la Santíssima Trinidad Merry del Val y Zulueta in der Spanischen Botschaft in London; gest. am 26. Februar 1930 im Vatikan), Kurienkardinal der römisch-katholischen Kirche.

Raffael Merry del Val (1865-1930)

Karriere
Merry del Val lebte bis 1878 in England. Seine Schul- und Jugendjahre verbrachte er in Slough, Namur, Brüssel, Durham und Rom. Nach dem Doktorat in Philosophie an der Päpstlichen Universität Gregoriana wurde er am 30. Dezember 1888 in Rom zum Priester geweiht. Später machte er auch das Doktorat in Theologie und erwarb das Lizenziat in Kanonischem Recht.
1891 wurde er Päpstlicher Geheimkämmerer und Mitglied der Päpstlichen Familie. Ab 1896 war er Sekretär der Päpstlichen Kommission für die Überprüfung der Gültigkeit der anglikanischen Weihen. 1898 ernannte ihn Papst Leo XIII. zum Berater der römischen Kurie für Fragen des Index der verbotenen Bücher und übertrug ihm im Jahr darauf die Leitung der Päpstlichen Diplomatenakademie.
1900 wurde Rafael Merry del Val zum Titularerzbischof von Nicaea erhoben. In den folgenden Jahren leitete er mehrere päpstliche Gesandtschaften. Im Konklave nach dem Tod Leos XIII. 1903 fungierte er als Sekretär und gewann so das Vertrauen des dabei gewählten Pius X., der den erst 38-Jährigen, zur allgemeinen Überraschung, wegen seiner Vielsprachigkeit und diplomatischen Erfahrung zum Staatssekretär ernannte und ihm zusätzlich die Leitung der Präfektur des Päpstlichen Palastes übertrug. Kurz darauf, am 9. November 1903, wurde er als Kardinalpriester in das Kardinalskollegium aufgenommen.
Zur Zeit des (später heiliggesprochenen) Papstes Pius X. unterstützte Merry del Val den Kirchenhistoriker Umberto Benigni, den entschiedensten Kämpfer gegen den Modernismus. 1904 wurde Merry del Val Präsident der Päpstlichen Kommission für die Koordination von Wohlfahrtsfragen der Kirche. 1911 bis 1912 war er Camerlengo des Heiligen Kardinalskollegiums, ab 1912 leitete er die Verwaltung der Dombauhütte des Petersdoms. Mit dem Ableben Pius’ X. im Jahr 1914 bekam er unter  Benedikt XV. weniger einflussreiche Ämter.
Im Konklave vom 2. bis 6. Februar 1922, das Achille Kardinal Ratti zu Papst Pius XI. wählte, gehörte del Val zu den „frommen Eiferern“ („zelanti“).

Merry del Val erlag am 26. Februar 1930 einer Blinddarmentzündung und wurde im Petersdom im Beisein von Kardinal Pacelli beigesetzt. Nach dem Tod wurde ihm der Ehrentitel Ehrwürdiger Diener Gottes zuerkannt.
Sprachbegabung
Berühmtheit erlangte Merry del Val wegen seiner Sprachkenntnisse. Er beherrschte insgesamt 63 Fremdsprachen (inklusive Dialekte), die meisten davon fließend.

W.: Pius X. Erinnerungen und Eindrücke seines Staatssekretärs. Basel: Thomas Morus-Verlag, 41954.
Lit.: Dalla Torre, Giuseppe: The Cardinal of Charity. Memorial discourse on the work and virtues of the late Cardinal Raphael Merry del Val. New York, 1932; Cenci, Pio: Il Cardinale Raffaele Merry del Val. Rom, 1933.

Giuseppe Mezzofanti

Giuseppe Gasparo Mezzofanti (geb. am 19. September 1774 in Bologna; † 15. März 1849 in Neapel), Kardinal und Polyglott. Er gilt als eines der größten Sprachgenies und soll 57 Sprachen verstanden und 38 davon gesprochen haben. Seitdem ist „Mezzofanti“ die Bezeichnung für einen polyglotten Menschen.

Giuseppe Mezzofanti (1774-1849)

Karriere
Giuseppe Gasparo Mezzofanti war Professor für arabische Sprache in Bologna und wurde 1833 Kustos der vatikanischen Bibliothek. 1838 wurde er Titularbischof der Kirche Sant’Onofrio al Gianicolo in Rom, wo er nach seinem Tod auch bestattet wurde. Papst Gregor XVI. ernannte ihn zum Kardinal.
Sprachbegabung
Nach seinem Biografen Charles W. Russell soll Mezzofanti 38 Sprachen beherrscht haben und gilt als Rekordhalter der Mehrsprachigkeit. Er sprach nachweislich folgende 29 Sprachen neben seiner italienischen Muttersprache: Latein, Altgriechisch, Neugriechisch, Hebräisch, Arabisch, Aramäisch, Amharisch, Koptisch, Armenisch, Persisch, Türkisch, Maltesisch, Illyrisch, Spanisch, Portugiesisch, Französisch, Englisch, Walisisch, Schottisch-Gälisch, Deutsch, Niederländisch, Schwedisch, Dänisch, Russisch, Polnisch, Tschechisch, Ungarisch, Albanisch und Chinesisch.
Seine Kenntnisse dieser Sprachen waren mehr intuitiv als analytisch. Er hinterließ keine wissenschaftlichen Werke. Unter seinen Manuskripten fanden sich einige vergleichende Sprachstudien, die er zum einen Teil der Gemeindebibliothek und zum anderen Teil der Bibliothek der Universität von Bologna überließ.
Ähnliche Fähigkeiten besaßen der ebenfalls in diesem Abschnitt behandelte deutsche Sinologe Emil Krebs (1967-1930), der britische Forscher Sir Richard Francis Burton (1821-1890), der spanische Jesuit Lorenzo Hervás y Panduro (1735-1809) sowie der vorhin erwähnte Kardinalstaatssekretär Rafael Merry del Val (1865-1930). Gleichfalls als Sprachgenie gilt der belgische Orientalist Johan Vandewalle (geb. 1960).

Lit.: Russell, Charles William: The Life of Cardinal Mezzofanti. London, 1858; Bellesheim, Alfons: Giuseppe Cardinal Mezzofanti. Würzburg, 1880; Manavit, Augustin: Esquisse historique sur le cardinal Mezzofanti. Sagnier et Bray. Paris, 1853; Pasti, Franco: Un poliglotta in biblioteca. Giuseppe Mezzofanti (1774-1849) a Bologna nell’età della Restaurazione. Bologna: Editore Pàtron, 2006.

IV. VISUELLE INSELBEGABUNGEN

Der folgende Abschnitt behandelt visuelle Sonderbegabungen, die als Naturtalente besonders beeindrucken und auch allgemeine Anerkennung finden.

Temple Grandin

Temple Grandin (geb. am 29. August 1947 in Boston, USA), Autistin und Inselbegabte, führende US-amerikanische Spezialistin für den Entwurf von Anlagen für die kommerzielle Viehhaltung, Dozentin für Tierwissenschaften an der Colorado State University in Fort Collins.

Temple Grandin (*1947)

Ausbildung
Temple Grandin machte bereits als Kleinkind durch besondere Verhaltensformen auf sich aufmerksam. Als sie zwei Jahre alt war, diagnostizierte man bei ihr einen „Hirnschaden“, dem man folgende Entwicklungsstörungen zuschrieb: sie begann verspätet zu sprechen, zeigte heftige Wutausbrüche und langes Betrachten von Details an Gegenständen. Die Ärzte rieten den Eltern, sie in ein Heim zu geben, was diese aber strikt  ablehnten. Sie begannen daraufhin selbst, ihre Tochter intensiv zu fördern, wobei sie an deren Interessen und Neigungen anknüpften. In einem sprachheilpädagogischen Kindergarten wurden ihr die ersten Schritte zur Kommunikation mit anderen Kindern beigebracht. Sie besuchte dann eine Reihe von Privatschulen, wo sie so erfolgreich war, dass sie ein Universitätsstudium ins Auge fassen konnte.
Grandin studierte schließlich experimentelle Psychologie und schrieb an der Universität von Illinois (Urbana) eine Doktorarbeit im Fach Tierwissenschaften.
Grandin-Viehhaltungsmethoden
Seit 1990 lehrt sie das Fach Tierwissenschaften an der Colorado State University in Fort Collins. Dort betreibt sie auch die von ihr entwickelten „Grandin Livestock Systems“ (Grandin-Viehhaltungsmethoden). Inzwischen ist ihr Wortschatz, den sie sich wie eine Fremdsprache aneignen musste, so umfangreich, dass sie mehrstündige Vorlesungen halten kann.
Zur Bewältigung ihrer unkontrollierbaren Impulsivität verhalf ihr die Beobachtung einer Pressmaschine am Straßenrand, in der Rinder geimpft wurden.
„Ich war völlig fasziniert von dem Anblick der in diese Maschine gepferchten Tiere. Man sollte meinen, dass die Rinder panisch reagieren, wenn sie so in die Zange genommen werden, doch das Gegenteil ist der Fall. Sie werden plötzlich ganz ruhig. Das ist gar nicht so unlogisch, wenn man bedenkt, dass starker Druck äußerst beruhigend wirkt. Aus demselben Grund empfinden wir auch Massagen als angenehm. Der Fang- und Behandlungsstand gibt den Rindern höchstwahrscheinlich das Gefühl, das sonst nur Neugeborene haben, wenn man sie wickelt. Oder Taucher unter Wasser. Sie mögen das. Noch während ich die Rinder betrachtete, wurde mir klar, dass ich auch sowas brauchte.“
Da Grandin extrem intensive Berührungen schon als Kind unerträglich empfand, baute sie zunächst für sich eine spezielle, bettähnliche „Berührungsmaschine“ mit seitlichen, gepolsterten Platten, deren Anpressdruck sie mittels einer Steuerung durch mehrere Antriebe hinter den Platten selbst bestimmen konnte. Diese Vorrichtung, die sie heute noch verwendet, half ihr zunächst persönlich, die ihr unangenehmen Reizüberflutungen zu vermindern. Heute wird diese Maschine auch bei anderen Autisten zum genannten Zweck eingesetzt.
Ihre diesbezüglichen Erfahrungen verband Grandin dann mit ihren Viehhaltungsmethoden. So wurde sie nicht nur zur Expertin, was die Verhaltensbiologie von Nutztieren anbelangt, sondern auch auf dem Gebiet des Autismus.
Nach Grandin unterscheidet sich der Autist vom Nicht-Autisten durch das Denken in Bildern und eine größere sensorische Empfindsamkeit. Auch die bei Tieren oft auftretenden panischen Ängste werden laut Grandin durch die bei Autisten vergleichbaren sensorischen Dispositionen und bildhaften Vorstellungen ausgelöst. Diese Schlussfolgerungen setzt sie daher beispielsweise beim Bau von Viehhaltungs- und Viehtransportanlagen um. Dadurch wandelt sich das Verhalten der Tiere anscheinend derart zum Positiven, dass gefährliche Situationen und Unfälle mit Menschen und Tieren deutlich zurückgehen.
2010 wurde Grandins Leben unter dem Titel Du gehst nicht allein (Originaltitel: Temple Grandin) verfilmt. Der Film wurde mehrfach ausgezeichnet.

W.: Durch die gläserne Tür. Lebensbericht einer Autistin (mit Margaret M. Scariano). München: dtv, 1994; „Ich bin die Anthropologin auf dem Mars“. Mein Leben als Autistin. München: Droemer Knaur, 1997; Ich sehe die Welt wie ein frohes Tier (mit Catherine Johnson). München: Ullstein, 2005.
http://www.ted.com/talks/temple_grandin_the_world_needs_all_kinds_of_minds
http://www.makers.com/temple-grandin

GW 65 (2016) 3, 231-255

Inselbegabungen: I
I
nselbegabungen: II-IV
Inselbegabungen: V- VI