Andreas Resch: Hildegard v. Bingen: Leben und Werk (1098-1179)

Hildegard von Bingen kann wohl als eine universale, wenn nicht überhaupt als die universalste Persönlichkeit der Menschheitsgeschichte bezeichnet werden. Wie keine andere umfasst sie in ihrem Leben, Erleben und Werk die gesamte Spannweite von empirischer Analyse über kreative Gestaltung bis hin zur mystischen Erfahrung. Aus diesem Grund wurde sie bereits vor der sog. Hildegard­-Renaissance bei der Errichtung des „Instituts für Grenzgebiete der Wissenschaft“ 1978 in Innsbruck zur Patronin ernannt, weil sie geradezu wegweisend den gesamten Aufgabenbereich des Instituts abdeckt. So soll in diesem Beitrag anlässlich des 900. Geburtstages der hl. Hildegard der Versuch unternommen werden, durch Beschreibung von Leben und Werk die Dimension ihres Welt-­ und Menschenbildes zumindest andeutungsweise aufzuzeigen.
Für eine eingehendere Betrachtung kann nur auf die Werke selbst verwiesen werden. Zum sachlichen Einstieg seien ferner u.a. folgende Bücher empfohlen: E. Forster (Hg.): Hildegard von Bingen. Prophetin durch die Zeiten (offizielle Jubiläumsschrift, 1997); H. Schipperges: Die Welt der Hildegard von Bingen (1997) und Hildegard von Bingen (Taschenbuch, 1995) sowie G. Lautenschläger: Hildegard von Bingen. Die theologischen Grundlagen ihrer Ethik und Spiritualität (1993). Nähere Angaben und weiterführende Literatur finden sich am Ende dieses Beitrages.

LEBEN

Der geschichtliche Hintergrund des Lebens der hl. Hildegard ist gekennzeichnet durch die reiche Welt des Hochmittelalters, das im 12. Jahrhundert zu seiner Blüte kommt. In Europa stecken Kaiser und Papst ihre Reiche ab, die Grenzen nach Osten und Westen sind fließend, ein weltweiter Reiseverkehr und internationaler Handel bilden die Brücke zum byzantinischen Ostrom wie zum hispanischen Islam, mit der Sprache der Kirche und des Reiches, dem Lateinischen, das zur Sprache des gebildeten Europa wurde. Zudem beginnt in dieser Zeit durch die Neubewertung der Arbeit und die Ansätze der Technisierung eine Weitung des menschlichen Aktionsraumes.

Kindheit

Der Lebensraum, in den Hildegard 1098 als zehntes Kind der Edelfreien Hildebert und Mechthild auf dem Gut Bermersheim bei Alzey in Rheinhessen hineingeboren wurde, ist noch weitgehend ländlich (Abb. 1). Allerdings sind die Quellenhinweise zu Hildegard äußerst spärlich. So ist auch das genaue Geburtsdatum nicht bekannt. Der erste Text nämlich, in dem Hildegard aufscheint und der über ihre Jugend berichtet, ist die 1137 verfasste, jedoch erst 1992 veröffentliche „Vita domnae Juttae inclusae“1, also das Leben ihrer Lehrerin und Disibodenberger Meisterin, Jutta von Sponheim. Auch die zeitgenössische Vita ist hier zu nennen, von der es jedoch drei verschiedene Redaktionen gibt: a) die fragmentarische von Probst Gottfried († 1176)2, die jedoch nur als integrierter Bestandteil jener b) des Mönchs Theoderich überliefert ist, und c) die unvollendete Fassung des Mönchs Wibert von Gembloux, der sich von 1177-1180 fast ständig auf dem Rupertsberg aufhielt.4

Abb. 1: Taufkirche Bermersheim

Aus weiteren Forschungen des 19. und 20. Jahrhunderts konnte nicht nur ihre Familie als einem Adelsgeschlecht entstammend identifiziert werden, das nach Bermersheim bei Alzey benannt wurde, sondern es wurden auch einige Geschwister ermittelt. So sind von den neun Geschwistern Hildegards immerhin sieben historisch bekundet. Drutwin, der älteste Bruder, scheint 1127 in einer Urkunde mit seinem Vater als Zeuge auf, Hugo wurde Domkantor an der Mainzer Kathedrale und ihr Bruder Roricus war Kanonikus von Tholey an der Saar. Von den vier Schwestern, Irmgard, Odili, Jutta und Clementia trat Letztere später als Nonne in Hildegards Kloster ein.
Hildegard war jedenfalls schon als Kind von besonderer Eigenart. So erlebte sie bereits in ihrer frühesten Jugend eine eigentümliche intuitive Begabung, die sie ihre „Schau“ nannte:
„Wenn die Gewalt der Schau mich in ihrer Fülle durchströmte, sagte ich vieles, was den Hörenden seltsam erschien. Und so schämte ich mich sehr. Ich weinte oft und wäre froh gewesen, alles wieder mit Schweigen zudecken zu können, wenn dies möglich gewesen wäre. Die Menschen flößten mir daher so große Furcht ein. Deshalb wagte ich über die Art meines Schauens niemandem etwas zu sagen.“5
Die „Schau“ scheint mit zunehmendem Alter immer deutlicher zu werden und gewinnt dann konkrete Züge, als Hildegard mit acht Jahren in die Obhut der schon genannten Jutta von Sponheim auf den Disibodenberg (Abb. 2) bei Bingen kam. Dies lässt vermuten, dass Jutta, mit der Familie Bermersheim verwandt oder ihr jedenfalls wohl bekannt war.

Abb. 2: Disibodenberg

Außerdem ist nach der Jutta­-Vita anzunehmen, dass Hildegard zunächst mit der nur sechs Jahre älteren Jutta in die Obhut der Witwe Uda von Göllheim kam. Nach dem Tod Udas, zwei Jahre nach dem Eintritt Hildegards in diese Gemeinschaft, machten sich die beiden Mädchen selbständig, um ihre besonderen Talente und Neigungen zu entfalten, wie aus der Lebensbeschreibung Juttas, die in gewisser Hinsicht auch die Jugendjahre Hildegards kennzeichnet, eindeutig hervorgeht, weshalb an dieser Stelle kurz darauf eingegangen werden soll.

Jutta von Sponheim

Jutta von Sponheim, die für das Leben Hildegards von entscheidender Bedeutung sein sollte, wurde 1092 als Tochter des Stephan von Sponheim und der Sophia geboren. Mit drei Jahren verlor sie den Vater und wurde künftig von der Mutter allein erzogen. Als sie mit zwölf Jahren schwer erkrankte, gelobte sie im Falle der Gesundung das Leben einer Nonne führen zu wollen, und schlug so sämtliche Angebote edler und reicher Freier, selbst aus fernen Landen, aus.6

„Folglich suchte sie Herrn Ruthard, den Mainzer Erzbischof (1089-1109), auf und empfing von ihm gegen den Willen aller ihrer Verwandten den Schleier. Von Gott geleitet, ordnete sie sich für drei Jahre der Witwe Uda von Göllheim, die im Habit der heiligen Religion lebte, als Schülerin unter. In deren Unterricht schritt sie täglich vom Guten zum Besseren, von einer Tugend zur anderen fort.
In diesen jungen Jahren brannte sie darauf, eine Wallfahrt zu unternehmen, wenn es ihre fürsorgliche Mutter nur erlaubt hätte. Also blieb sie bei ihr, diente der würdigen Witwe und arbeitete mit ihr Tag und Nacht mit Fasten, Nachtwachen und Beten ständig für den Herrn. Jeder günstigen Gelegenheit zum Ausreißen kamen der Fleiß und die Wachsamkeit der frommen Witwe zuvor. Nachdem die Mutter gestorben war, beschloss das Mädchen, mit seinem Plan nicht länger zu warten, das Vaterland und das väterliche Haus dem Herrn zuliebe zu verlassen. Er aber disponierte anders.
Ihr Bruder Meinhard fand, als ihm das bekannt wurde, dass er ihre Abwesenheit nicht würde ertragen können, bemühte sich, die Wallfahrt seiner Schwester zu verhindern, und schaltete als Vermittler Bischof Otto von Bamberg (1103-1139) seligen Angedenkens ein. Auf dessen Rat hin und nach der Forderung ihres Bruders wählte sie sich dieses Kloster hier, das Berg des hl. Disibod genannt wird, als Wohnung aus. Dorthin ging sie in ihrem zwanzigsten Lebensjahr. So wurde sie von dem Herrn Abt Burchard in dessen letztem Lebensjahr unter der Gnade der heiligen Dreifaltigkeit mit zwei Schwestern, so dass sie zu dritt waren, am 1. November als Inkluse aufgenommen. An diesem Tag legte sie vor dem genannten Vater das Gelübde klösterlichen Lebens ab, das sie dann auch durch die Stärkung des Heiligen Geistes mit ganzem Herzen befolgt hat.“7

Die „Eingemauerten“

Seit ihrem 8. Lebensjahr also lebte Hildegard mit Jutta als „Eingemauerte“ (inclusa) in der Frauenklause, die dem Benediktinerkloster auf dem Disibodenberg baulich und geistlich angeschlossen war. Hier wurde sie in das vielschichtige Bildungsgut benediktinischer Tradition eingeführt, waren doch die Benediktinerklöster damals nicht nur Hochburgen der Wissenschaften und Künste, sondern auch Zentren regen Bildungsaustausches.
Mit der „magistra“ Jutta begann Hildegard dann den breit angelegten Bildungsweg. Dazu gehörte traditionellerweise die Pflege des Psaltergesanges, der mit der Bibellektüre zur Grundlage der lateinischen Bildung Hildegards wurde. Wenn sie sich später als ungelehrt bezeichnete8, so besagt dies, dass sie keine formelle Ausbildung in Grammatik, Stilistik, Poetik, in Urkundenschrift oder im Abfassen von Urkunden erhielt. Hildegard benötigte daher wegen ihrer hauptsächlich passiven Fremdsprachenkenntnis (lesen und verstehen) für die Ausarbeitung ihrer Werke die Hilfe von einschlägig ausgebildeten Mönchen und Nonnen.
Bei der gemeinsamen Einschließung in die Disibodenbergerklause am 1. November 1112 gesellte sich zu Jutta und Hildegard als dritte Gefährtin noch eine andere Jutta hinzu, die schon früh zu der frommen Grafentochter Jutta von Sponheim gestoßen sein dürfte. Es handelte sich hier also – abgesehen vom Mut der beteiligten Familien – um ein sehr jugendliches religiöses Unternehmen, das die drei Adelstöchter begannen.

Hildegard und Jutta

Um diese eigenartige Konstellation auch nur ansatzweise verstehen zu können, muss hier näher auf den Lebensweg der Jutta von Sponheim eingegangen werden, der sich in Auszügen der Jutta­-Vita wie folgt kurz beschreiben lässt:

„Sie vermied es nämlich, Abstriche von ihrem Gelübde zu machen, stand in der Gottesfurcht, die ,Anfang der Weisheit ist‘ (Sir 1,14), erlaubte sich keine Nachlässigkeit, sann Tag und Nacht über das Gesetz des Herrn nach, bemühte sich vor Gott und den Menschen ohne Streit zu leben, strebte danach, dass ihr auch nicht das Geringste an Tugend abgehe.“9

So pflegte sie

„vom Tag ihrer Einschließung an bis zu ihrem Ende eine eiserne Gürtelkette, mit der sie ihre jugendlichen Glieder züchtigte, auf dem bloßen Leib zu tragen und zu gebrauchen, ausgenommen, wenn sie an einem hohen Festtag oder bei Krankheit durch Anweisung gezwungen wurde, davon abzulassen.“10

Außerdem lebte sie als strenge Vegetarierin.
Auf geistiger Ebene werden ihr neben großer Klugheit sogar prophetische Gaben zugesprochen, wie folgende Schilderung der Jutta­-Vita veranschaulicht:

„Als nämlich der fürsorgliche Vater Adalhun ins himmlische Jenseits abberufen worden war und auf einstimmigen Beschluss der Mönche hin die Wahl eines Nachfolgers verschoben worden war, bis Herr Erzbischof Adalbert (1110-1139), der lange abwesend war, kommen würde, brannte in ihr große Sorge und sie gab ihrem Geist keine Ruhe, sondern betete Tag und Nacht für die Leitung dieses Klosters. Und da sie mit unermüdlichen Bitten die Ohren des Allherrschers anrief, erkannte sie in einem göttlichen Gesicht, dass dem Kloster die ehrwürdigen Väter Folkhard (1128-1136) und Kuno (1136-1155) vorgesetzt werden würden. Wir wissen, dass dies noch zu ihren Lebzeiten eintraf.“11

Schließlich begann sie auch noch den Tag ihrer Abberrufung vorauszusehen, nachdem ihr bereits von einer alten Frau namens Trutwib vorausgesagt worden war, dass sie im 25. Jahr ihres Klosterlebens glücklich aus dieser Welt scheiden werde.12

„Im letzten Jahr der vorgenannten Anzahl erkannte sie, dass der Herr entschieden hatte, ihren ungeheuren Mühen ein Ende zu setzen, und dass sie dafür den ewigen Lohn erhalten werde. Es begannen ihr nämlich jegliche Körperkräfte zu fehlen, so dass sie mit dem Propheten aus dem Innersten des Herzens gewissermaßen rief ,Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann darf ich kommen und Gottes Antlitz schauen?‘ (Ps 42,3). Vollendet also in Nachtwachen und Fasten, in unzähligen Mühen, verlangte sie aufgelöst zu werden mit Christus, ,durch den ihr die Welt gekreuzigt war‘ (Gal 6,14).
Nachdem ein Monat ihres fünfundzwanzigsten Klosterjahres vergangen war, wurde sie von einer schweren Krankheit befallen, all ihre körperliche Kraft erschöpfte sich, und siehe, in der Morgenstunde des zweiten Dezembertages, als sie weder ganz schlafend noch ganz wachend da lag, sah sie neben sich einen Mann von vornehmer Gestalt und schönem Antlitz stehen. Als sie ihn sah, bekreuzigte sie sich und hörte, wie er zu ihr sagte: ,Fürchte dich nicht, denn ich bin Oswald, einstens König des Volks der Angeln. Ich komme nun zu dir, damit ich dir den Tag deines Ausgangs ankündige, den du heute bei Gott aufgrund deiner täglichen Bitten erhalten hast. Denn aus dieser Krankheit, die dich jetzt niederhält, erwächst dir das Ende des sterblichen Lebens.‘ Als er dies und noch anderes gesagt hatte, womit er ihren Todestag genau bestimmte, verschwand er. Der Beweis seiner Worte jedoch waren die nachfolgenden Ereignisse.
Nachdem sie aber zwanzig Tage in einem schweren Fieber gelegen hatte, tröstete sie ihre Schülerinnen, zehn an der Zahl, mit sanften Worten, da sie wusste, ,die Zeit meines Aufbruchs ist nahe‘ (Tim 4,6). Sie erbat die Wegzehrung und empfing sie, wie sie es fast jeden Tag gepflogen hatte, den sie krank darniederlag. Als sie spürte, die Stunde sei da, in der sie aus dem Leib herausgeführt würde, bat sie, ihr das Leiden des Herrn vorzulesen. Nachdem dies geschehen war, ermahnte sie die Anwesenden, zu beten und Psalmen zu singen, wobei sie zugleich ,betete ohne Unterlass‘ (1 Thess 5,17).
In der Dämmerung dieser Nacht verlangte sie zur Verwunderung aller Anwesenden, ihr den heiligen Schleier eilends zu bringen. Sie legte ihn auf ihr Haupt und befahl, ihr eine mit Asche bestreute Bettdecke überzulegen. Sie behauptete dabei wie schon früher nachdrücklich, dass alle, die dabeistanden, sie durch ihr Weinen daran hinderten, zu ihrem Schöpfer aufzubrechen. Nachdem auch eine Bettdecke an einem geeigneten Ort für den Besuch der Mönche aufgespannt worden war, bat sie, die Mönche mit Glockengeläut zu rufen, und als von ihnen die Litanei gesungen wurde, bekreuzte sie sich und gab die heilige Seele zurück. Sie ging aber aus dieser Welt im Jahr des Herrn 1136, am 22. Dezember“.13

All dies hat Hildegard, die als Sechzehnjährige in das Noviziat der Gemeinschaft eintrat und sich dann in der Profess ganz Gott und dem Benediktinerinnen­-Konvent weihte, miterlebt und mitgetragen, gehörte sie doch zu den vertrautesten Mitschwestern der seligen Jutta von Sponheim.

„Als sie heim ging, erinnerten sich drei ihrer Schülerinnen, nämlich Hildegard und zwei, die ihren eigenen Namen trugen, die fortgeschritten waren in der heiligen Lebensweise und in ihre Geheimnisse mehr eingeweiht als die übrigen, soweit sie diese nicht vor ihnen hatte verbergen können, ihrer Anweisung.“14

Aus diesen Ausführungen wird ersichtlich, welche Stellung Hildegard bei Jutta und in der Schwesterngemeinschaft einnahm.

Magistra

Es ist daher nicht verwunderlich, dass Hildegard nach dem Tod Juttas im Jahre 1136, mithin in ihrem 38. Lebensjahr, einstimmig zu deren Nachfolgerin gewählt wurde. Von da ab erreichte ihre Anziehungskraft und Ausstrahlung als Meisterin (magistra) ein nie gekanntes Ausmaß. Gleichzeitig erfuhr auch ihr visionäres Leben eine besondere Entfaltung, das, wie erwähnt, bereits in der Kindheit begonnen hatte.

„Bei meiner ersten Bildung, als Gott mich im Schoß meiner Mutter mit dem Hauch des Lebens erweckte, hat er diese Schau meiner Seele eingeprägt…. Und in meinem dritten Lebensjahr sah ich ein so großes Licht, dass meine Seele erzitterte, aber wegen meiner Kindlichkeit vormochte ich nichts davon vorzubringen.“15

Für Hildegard waren diese Erlebnisse Belastung, zumal sie außer Jutta wohl kaum jemand verstand.

„Eine adelige Frau aber, der ich zur Erziehung übergeben worden war, bemerkte dies alles und offenbarte es einem ihr bekannten Mönch.“16

So waren Schau und Belastung untrennbar miteinander verbunden, weil Hildegard sich ihres Zustandes schämte und nicht darüber zu sprechen wagte. Wenn sie zuweilen nicht anders konnte, als Künftiges vorherzusagen, weinte sie und wurde schamrot.

„Ich aber bin ständig von zitternder Furcht erfüllt. Denn keine Sicherheit irgendeines Könnens erkenne ich in mir. Doch strecke ich meine Hände zu Gott empor, dass ich von Ihm gehalten werde, wie eine Feder, die ohne jedes Gewicht von Kräften sich vom Wind dahinwehen läßt.“17

Dies blieb so während der Jahre als Reklusin wie auch in der ersten Zeit als Nonne auf dem Disibodenberg, was sie in die Bemerkung zusammenfasste:

„Nach ihrem Ende harrte ich schauend aus (ita permansi videns) bis zu meinem vierzigsten Lebensjahr.“18

„Schreibe!“

Im Jahre 1141 kam es jedoch zum großen Durchbruch ihrer „Schau“.

„Als ich zweiundvierzig Jahre und sieben Monate alt war, kam bei geöffnetem Himmel ein feuriges Licht von größtem Glanz, ergoss sich über mein ganzes Hirn und Herz, und wie eine Flamme, die zwar nicht brennt, aber wärmt, entflammte es meine Brust, so wie die Sonne das erwärmt, auf das sie ihre Strahlen fallen lässt. Und plötzlich erfasste ich den Sinn der Auslegung der Bücher, nämlich des Psalters, des Evangeliums und der übrigen katholischen Schriften sowohl des Alten wie des Neuen Testaments, aber ich beherrschte weder die wörtliche Übersetzung ihrer Texte noch die Silbeneinteilung, und ich besaß keine Kenntnis der Kasus und Tempora.19
Dann wurde ich in derselben Schau durch einen großen Ansturm von Schmerzen gezwungen, offen darzulegen, was ich gesehen und gehört hatte, aber ich fürchtete mich sehr und schämte mich, bekannt zu machen, was ich so lange verschwiegen hatte. Meine Adern aber und mein Mark waren damals erfüllt von den Kräften, an denen es mir von meiner Kindheit und Jugend an gefehlt hatte. Diese Dinge habe ich einem Mönch, meinem Lehrer, anvertraut, der einen guten Lebenswandel und sorgfältiges Streben besaß und wie ein Fremder der bäurischen Roheit‘ in den Sitten vieler Menschen fern stand und daher diese Wunder gerne anhörte. Voll Verwunderung trug er mir auf, sie im Verborgenen aufzuschreiben, damit er sähe, was und woher sie seien. Als er aber erkannte, daß sie von Gott seien, hat er dies seinem Abt anvertraut und von da an mit großer Sorgfalt mit mir daran gearbeitet.“20

Immer deutlicher wurde der innere Befehl: „Schreibe auf, was du siehst und sage was du hörst.“21
So erzählte sie schließlich ihrem Abt Kuno auf dem Disibodenberg von ihren Schauungen. Dieser riet ihr, einfach alles niederzuschreiben. Doch wenngleich diese Erlebnisse und der Rat des Abtes den offenen Befehl zum Schreiben enthielten, tauchten in ihr immer wieder Zweifel an der Echtheit ihrer Sendung auf, so dass sie 1147 den damals schon einflussreichen Abt Bernhard von Clairvaux um seine Meinung bat:

„Ich bin sehr bekümmert in dieser Schau, die sich mir im Geiste als ein Mysterium auftat. Niemals schaute ich sie mit den äußeren Augen des Fleisches…
Ich weiß nämlich im Text den Sinn der Auslegung des Psalters, des Evangeliums und der anderen Bücher, der mir durch diese Schau gezeigt wird. Wie eine verzehrende Flamme rührt sie mir an Herz und Seele und lehrt mich die Tiefen der Auslegung. Doch Schriften in deutscher Sprache lehrt sie mich nicht; die kenne ich nicht. Ich kann nur in Einfalt lesen, weiß aber nicht den Text zu zergliedern. So antworte mir: was dünkt dich von alledem? Ich bin ja ein Mensch, der durch keinerlei Schulwissen über äußere Dinge unterwiesen wurde. Nur innen in meiner Seele bin ich unterwiesen. Deshalb spreche ich wie im Zweifel. Aber da ich von deiner Weisheit und Vaterliebe höre, werde ich getröstet. Denn keinem Menschen wagte ich es zu sagen – weil es unter den Menschen, wie ich die Leute sagen höre, viele Spaltungen gibt –, nur einem Mönche [Volmar], den ich geprüft und in seinem klösterlichen Wandel erprobt gefunden habe. Ihm habe ich alle meine Geheimnisse geoffenbart, und er hat mich getröstet mit der Sicherheit: sie seien erhaben und schauererregend.
Um der Liebe Gottes willen begehre ich, Vater, dass du mich tröstest. Dann werde ich sicher sein.
Ich sah dich vor mehr als zwei Jahren in dieser Schau als einen Menschen, der in die Sonne blickt und sich nicht fürchtet, sondern sehr kühn ist. Und ich habe geweint, weil ich so sehr erröte und so zaghaft bin.
Gütiger Vater, mildester, ich bin in deine Seele hineingelegt, damit du mir durch dein Wort enthüllst, ob du willst, dass ich dies offen sagen oder Schweigen bewahren soll. Denn große Mühen habe ich in dieser Schau, inwieweit ich das, was ich gesehen und gehört habe, sagen darf.“22

Bernhard antwortete vorsichtig, war aber sichtlich beeindruckt, so dass er auf der historischen Synode zu Trier, Ende 1147 bis Anfang 1148, an der auch Papst Eugen III. (1145-1153) teilnahm, diesen dazu bewegen konnte, den Kardinälen und Priestern aus den Schriften Hildegards vorzulesen, nachdem er die Texte zuvor durch eine Kommission prüfen ließ. Der Papst forderte die Seherin nun auf, ihre Visionen aller Welt kundzutun. Zudem pries er in einem an Hildegard gerichteten Schreiben von 1152 deren „ehrenvollen Ruf “ und „ihr Glühen im Feuer der göttlichen Liebe“ und stellte fest, dass sie keines weiteren Ansporns mehr bedürfe:

„Eugen, Bischof, Knecht der Knechte Gottes, entbietet der in Christus geliebten Tochter, der Vorsteherin von Sankt Rupert, Gruß und apostolischen Segen.
Wir freuen uns, Tochter, und jubeln im Herrn, weil dein ehrenvoller Ruf die Weite und Breite ergießt, dass du für viele ein ,Wohlgeruch des Lebens‘ bist und die Schar der gläubigen Völker voll des Lobes über dich ausruft: ,Wer ist die, die da aus der Wüste gleich einer Rauchsäule aus Spezereien aufsteigt?‘ (Hld 3, 6, Red.). Wir sind daher der Überzeugung, deine Seele erglüht so sehr vom Feuer der göttlichen Liebe, dass du keines Anspornes zum Handeln bedarfst. Deshalb erachten wir es als überflüssig, dir noch mahnende Worte zu sagen und deinen Geist, der sich ja ganz auf die göttliche Kraft stützt, noch durch ermunternde Worte zu festigen.“23

Die Mitarbeiter

Dies war für Hildegard eine große Bestätigung, nahmen doch die Anfragen von außen und ihre inneren Verpflichtungen zu antworten immer mehr zu, wie ihr Briefwechsel mit hervorragenden Gelehrten und Herrschern ihrer Zeit hinreichend bezeugt. Dabei hatte sie das große Glück, dass ihr ständig Mitarbeiter zur Seite standen.
Als erster jahrelanger Gehilfe diente ihr von 1141 bis 1173 der Mönch Volmar, der ihr von dem schon in der Jutta­-Vita genannten Abt Kuno vom Disibodenberg als Mitarbeiter freigestellt worden war. Volmar brachte alles, was sie diktierte, in eine literarische Form, ohne je den Inhalt zu verändern. Ein treuer Diener seiner Herrin, die ihn nach seinem Tod – er war jünger als sie – als ihren einzigen und geliebten Sohn beklagte.24

Abb. 3: Hildegard mit Volmar und Richardis

Ein ähnliches Verhältnis pflegte sie mit der Sekretärin, der Nonne Richardis von Stade, bis diese 1169 Äbtissin des Klosters Bassum bei Bremen wurde (Abb. 3).
Als dritter Mitarbeiter ist der Mönch Wibert aus der Abtei Gembloux zu nennen, der 1177 auf den Rupertsberg kam, mit dem sie aber schon vorher in brieflicher Verbindung stand. So betont Hildegard in einem Brief von 1175 an Wibert, dass ihre visionären Zustände ihr Wahrnehmungsvermögen in keiner Weise beeinträchtigten und sie sich daher nicht in Ekstase befände. Diese erfährt sie jedoch im folgenden einmaligen Erlebnis:
„In der folgenden Zeit sah ich dann eine geheimnisvolle und wunderbare Schau, so daß mein ganzes Inneres er­schüttert und die Sinneswahrnehmung meines Körpers ausgelöscht wurde, weil mein Bewußtsein in einen anderen Zustand versetzt wurde, gleichsam als würde ich mich nicht kennen. Und aus der göttlichen Eingebung wurden gleichsam Tropfen süßen Regens in das Bewußtsein meiner Seele gegossen. Denn der Heilige Geist hat so auch den Evangelisten Johannes getränkt, als er die tiefste Offenba­rung aus der Brust Jesu sog, wo sein Sinn von der heiligen Gottheit so berührt wurde, daß er ihre verborgenen Ge­heimnisse und Werke offenbarte, als er sprach: ,Im Anfang war das Wort‘ (Joh 1,1) und so weiter.“25

Abfassung der Schriften

Diese Erfahrung, sagt Hildegard, wurde für sie zum Ausgangspunkt ihres neues Buches, des Liber Divinorum Operum, dessen Herzstück eine Exegese des Johannes­-Prologs ist. Dabei ging die Abfassung ihrer Schriften wohl folgendermaßen vor sich: Hildegard schrieb die Texte zunächst auf eine Wachstafel, woraufhin der Schreiber den Text, mit Streichungen und Zusätzen stilistisch purgiert, auf Pergament übertrug. Dann erst erfolgte die Reinschrift als Abschrift vom korrigierten Text, so wie er uns in zeitgenössischen Handschriften vorliegt:

Abb. 4: Lieder: 19 De Spiritu Sancto

1141 bis 1151 schrieb sie an Scivias Domini (Wisse die Wege).
Zwischen 1148 und 1163 entstand die zweite Visionschrift, Liber Vitae Meritorum (Buch der Lebensverdienste).
In die Jahre 1150 und 1158 fallen außerdem die natur-­ und heilkundlichen Lehrschriften Physika und Causae et Curae.
Die reifste Schrift ist wohl die Schau über Welt und Mensch, Liber Divinorum Operum, die zwischen 1163 und 1173 entstand.
Die Vita s. Disibodi wird als Schrift des Jahres 1170 ausgewiesen.
Die 390 Briefe entstanden in den Jahren 1146-1179.
Hinzu kommen – als Teil ihres breit angelegten künstlerischen Schaffens, das sich durch alle Texte hindurchzieht – Kompositionen, das Mysterienspiel Ordo Virtutum und die 77 Lieder (Abb. 4).
Trotz dieser Weite und Größe vermochte die mit dem späten Mittelalter einsetzende zunehmende Intellektualisierung Hildegards Welt der Schauungen nicht mehr zu würdigen. Die Humanisten mokierten sich über das schlechte Latein, das unmöglich dem Heiligen Geist entstammen könne, und so blieb Hildergards Werk, trotz der Übersetzungen und der Herausgabe vor allem durch den Otto Müller Verlag in Salzburg nach 1950, völlig verschollen und ohne entsprechende Resonanz, bis die Feier ihres 800. Todestages 1979 ungeahnt eine neue Hildegard-­„Renaissance“ auslöste.

„Prophetissa teutonica“

War schon der Ruf der Jutta von Sponheim Ausfluß einer vielseitigen Beziehung zur Außenwelt, so nahm dies bei Hildegard internationale Dimensionen an. Von den zahlreichen Begegnungen sei hier besonders jene mit dem gelehrten Bischof Siward von Uppsala erwähnt, der im Jahre 1138 auf dem Disibodenberg weilte und bei seinem Tod 1158 eine umfassende Bibliothek hinterließ, in der sich u.a. ein Kräuterbuch (Herbarium) und ein Steinbuch (Lapidarium), weiters die Enzyklopädie (Etymologie) des Isidor von Sevilla sowie sechs medizinische Bücher befanden.
In der Welt pries man Hildegard als „Edelstein Bingens“, als „rheinische Sibylle“, als „prophetissa teutonica“ (die deutsche Prophetin), und selbst Johannes von Salisbury (1115-1180), damals noch Sekretär des Erzbischofs von Canterbury, war erpicht auf ihre prophetischen Schriften. Hildegard selbst lehnte jede Art banaler Prophezeiung ab, zumal ihr künftige Geschicke der Menschen nicht geoffenbart würden. Sie verstand sich jedoch bewusst als Prophetin. Exemplarisch dafür sind ihre Begegnung mit Kaiser Friedrich Barbarossa und der anschließende keineswegs zimperliche Briefwechsel, der wohl auch zur Aussöhnung des Kaisers mit Papst Alexander III. 1177 in Venedig beitrug.
Zudem nahm sie das Glaubensleben in der eigenen Umgebung unter die Lupe. So predigte sie u.a. gegen die Katharer („die Reinen“), nicht nur weil sie Ehe, Priestertum und Eucharistie verneinten, sondern weil sie nach gnostischen Grundsätzen auch den Leib verachteten und die Sexualität ablehnten. Hildegard betont den konkret existierenden Menschen, der am Ende der Zeiten mit der verklärten Schöpfung als Seele und Leib in „einmütigem Wesen und einhelliger Vollendung“ leben werde.

Predigtreisen

Schließlich begab sich Hildegard zwischen dem 60. und 70. Lebensjahr auf oft recht beschwerliche Reisen, um der geistigen Verwirrung immer größerer Massen entgegenzutreten.
Eine erste Missionsreise führte sie 1160 nach Mainz, Würzburg, Ebrach und Bamberg, eine zweite über Trier und Metz nach Lothringen. 1161-1163 begab sie sich auf dem Weg über Boppard und Andernach nach Siegburg und Köln und weiter ins Ruhrgebiet. Um 1170 brach sie schließlich nach Maulbronn, Hirsau und Zwiefalten auf (Abb. 5).

Abb. 5: Predigtreisen

Bei ihren Predigten nahm sie sich kein Blatt vor den Mund. Vieles mutet dabei ganz aktuell an, wobei sie auch dem Klerus den Spiegel vorhielt: So heißt es beispielsweise an den Klerus von Köln:

„Ihr seid Nacht, die Finsternis atmet, ein halsstarriges Volk, das vor lauter Wohlstand nicht mehr im Lichte wandelt […] Ihr seht nur, was ihr produziert habt; ihr tut nur, laßt nur, was euch gerade gefällt.“26

So hatte bis dahin keine Frau je gesprochen. Trotz der herben Worte bewunderte man sie als einmaliges Phänomen, das Schauen und Wirken zu lebensbezogenem Handeln verschmolz.

Äbtissin

Als Äbtissin (1136-1179) hatte sich Hildegard jedoch nicht nur um den Inhalt ihrer Schauungen und um das Heil des Volkes zu kümmern, sondern vornehmlich für das Wohlergehen ihrer Mitschwestern Sorge zu tragen. Diese nahmen unter ihrer Regentschaft stark zu, so dass sie nach Neugründungen Ausschau halten musste. Dabei gab sie ihrem Leben selbst zwischen 1148 und 1150 eine ganz große Wende. Vielen Widerständen zum Trotz, vor allem auch gegen den Widerstand der Mönche auf dem Disibodenberg, die sie nicht ziehen lassen wollten, gelang ihr der Bau eines Frauenklosters auf dem Rupertsberg, an der Mündung von Nahe und Rhein bei Bingen (Abb. 6). Waren damals schon Klostergründungen im mittelrheinischen Raum eine Seltenheit, so war es mehr als neu, dass eine Ordensfrau dieses Werk durchführte.

Abb.6: Frauenkloster auf dem Rupertsberg

Neben dieser äußeren Tätigkeit trat auch in Hildegards geistiger Arbeit eine Wende ein. Sie öffnete sich neuen Themen mit naturkundlichen und medizinisch­-heilkundlichen Inhalten. Zudem gab sie mit der Übersiedlung auf den Rupertsberg die Abgeschiedenheit des Klosterlebens endgültig auf und rückte, wie oben bereits erwähnt, an das Zentrum der kirchlichen und weltlichen Macht heran, wobei sie neben dem Kaiser besonders auch dem Mainzer Erzbischof ihren Standpunkt kundtat.
Was nun konkret das Klosterleben unter der Regentschaft Hildegards am Rupertsberg betraf, so schreibt ihr schon genannter Mitarbeiter, der Mönch Wibert, in der zweiten Hälfte des Jahres 1177 an seinen Freund Bodo unter anderem:

„Man kann dort einen wunderbaren Wettstreit in den Tugenden beobachten. Die Mutter empfängt ihre Töchter mit so großer Liebe und die Töchter unterwerfen sich der Mutter mit so großer Ehrfurcht, daß man kaum unterscheiden kann, ob die Mutter die Töchter oder die Töchter die Mutter an Eifer übertreffen. Diese heiligen Dienerinnen wachen über sich selbst und erweisen sich derart gegenseitig Ehre und Gehorsam, daß das schwache Geschlecht mit der Hilfe Christi in einem erfreulichen Schauspiel über sich selber, die Welt und den Teufel zu triumphieren scheint. An den Feiertagen sitzen sie geziemend in der Klausur und widmen sich eifrig der Lesung und dem Erlernen des Gesangs. Und sie gehorchen dem Apostelwort: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen…
An den Werktagen beschäftigen sie sich in ihren entsprechenden Werkstätten oder mit dem Abschreiben von Büchern, mit der Anfertigung von liturgischen Gewändern und mit anderer Handarbeit. So strömt ihnen aus eifriger Lesung das Licht göttlicher Erkenntnis und die Gnade der Zerknirschung zu, indes die Verrichtung äußerer Arbeit die Trägheit, die Feindin der Seele, bannt und die Geschwätzigkeit, die in müßigem Beisammensein nur zu leicht viele Worte über die Lippen drängt, niederhält.“

Dieses Kloster, das beim Tode Juttas im Jahre 1136 zehn Schwestern zählte, entwickelte sich unter der Äbtissin Hildegard in einem solchen Ausmaß, dass sich in seinem stattlichen Gebäude, wie Wibert weiter berichtet, Platz und Unterhalt für fünfzig Nonnen sowie für Angestellte und Gäste bot. Dabei überrascht vor allem auch der Hinweis, dass in sämtliche Arbeitsräume Leitungen mit fließendem Wasser gelegt waren. Besonders erstaunt Wibert jedoch folgender Sachverhalt:

„Dieses Kloster ist nicht von einem Kaiser oder Bischof, einem Mächtigen oder Reichen dieser Erde gegründet worden, sondern von einer armen und zarten Frau.“

Diese Frau, die Äbtissin Hildegard, verstand es zudem, dem Kloster einen echten Geist christlicher Nächstenliebe einzuflößen:

„Die Mutter und Vorsteherin einer so großen Schar aber gibt sich allen in Liebe hin. Das Laster des Hochmuts, das meistens dem äußeren Ruhme entspringt, tritt sie mit dem großen Gewicht ihrer Demut nieder. Aus lauter Liebe ist sie auf diese Weise die Dienerin aller geworden: ständig sich ganz hingebend an die Forderungen des Augenblicks, die Forderungen des Alltags. Sie erteilt Ratschläge, löst schwierige Fragen, schreibt Bücher, unterweist ihre Schwestern, ermutigt die Sünder, die zu ihr kommen. Und so belastet sie auch ist durch Alter und Krankheit, so ist sie doch stark in der Ausübung aller Tugenden, so daß sie sich viele Apostelworte zu eigen machen könnte, so zum Beispiel: ,Allen bin ich alles geworden, um alle zu gewinnen‘ “.27

Hieraus darf man schließen, dass Hildegard auch als Oberin ihren Mitschwestern und Mitarbeitern in Liebe und Pflichtbewusstsein zugetan war.
Nachdem ihr Kloster am Rupertsberg zu klein wurde, gründete sie 1165 auf der gegenüberliegenden Rheinseite, in Eibingen, in einem leerstehenden ehemaligen Augustinerkloster ein zweites Kloster, das sie nach der Überlieferung zweimal in der Woche, mit einem Nachen den Rhein überquerend, besuchte, um auch mit den dortigen Nonnen das Gotteslob zu singen (Abb. 7)
So sehr sich Hildegard über das Aufblühen des Klosterlebens freute, so sehr schmerzte sie in ihren letzten Lebensjahren das vom Mainzer Prälaten gegen das Kloster Rupertsberg erlassene „Interdikt“, das einer Suspension der öffentlichen Gottesdienste gleichkam. Hildegard hatte nämlich einen Edelmann, der exkommuniziert war, sich mit der Kirche aber wieder versöhnt hatte und somit vom Kirchenbann befreit schien, auf dem Klosterfriedhof beisetzen lassen. Als die Mainzer Kirchenbehörde die Exhumierung verlangte, verwischte Hildegard mit ihrem Stab die Umrisse des Grabes und sandte dem Prälaten ein Protestschreiben. Nach langen Auseinandersetzungen wurde das Interdikt 1179 durch Erzbischof Christian von Mainz schließlich aufgehoben.
Inzwischen hatten sich jedoch auch die Willensstärke und Geisteskraft Hildegards erschöpft. So schreibt der Chronist:

„Nachdem die heilige Mutter viele mühsame Kämpfe mit Hingabe erfüllt hatte, empfand sie Überdruß am gegenwärtigen Leben und wünschte täglich, aufgelöst und bei Christus zu sein.“28

Abb. 7: Ostflügel des ehemaligen Klosters Eibingen

Am 17. September 1179 starb Hildegard in ihrem Kloster auf dem Rupertsberg. Ihre sterblichen Überreste ruhen in der Pfarrkirche von Eibingen.

WERK

Nach dieser kurzen Beschreibung des Lebens der hl. Hildegard von Bingen, gilt es einen Blick in ihr Werk zu werfen. Dabei sollen lediglich grobe Inhaltsangaben der einzelnen Werke nach ihrem chronologischen Erscheinen angeführt werden. Entstehungsform und Abfassungsfragen sowie textkritische Bemerkungen werden nur am Rande berührt. Hier muss auf die einschlägige Literatur der Hildegardforschung verwiesen werden.29 Die folgenden Ausführungen fußen ausschließlich auf den Übersetzungen der lateinischen Originaltexte durch M. Böckeler, A. Führkötter, P. Riehte, H. Schipperges und J. Schmidtgörg, herausgegeben vom Otto Müller Verlag, Salzburg.30 Die verwendete Sekundärliteratur diente vor allem der Abklärung des derzeitigen Kenntnisstandes der einzelnen Werke.
Wer immer sich mit den Werken der hl. Hildegard von Bingen befasst, wird gleich zu Beginn ihres ersten Werkes, dem Scivias (Wisse die Wege), mit Aussagen konfrontiert, die unweigerlich eine psychologische Einordnung erfordern. Hildegard leitet den Scivias nämlich mit folgenden Aussagen ein (Abb. 8):

Abb. 8: Die Seherin, Scivias, Tafel 1, Vorredner

„Und siehe! Im dreiundvierzigsten Jahre meines Lebenslaufes schaute ich ein himmlisches Gesicht. Zitternd und mit großer Furcht spannte sich ihm mein Geist entgegen.
Ich sah einen sehr großen Glanz. Eine himmlische Stimme erscholl daraus. Sie sprach zu mir: ,Gebrechlicher Mensch, Asche von Asche, Moder von Moder, sage und schreibe, was du siehst und hörst! Doch weil du schüchtern bist zum Reden, einfältig zur Auslegung und ungelehrt, das Geschaute zu beschreiben, sage und beschreibe es nicht nach der Redeweise der Menschen, nicht nach der Erkenntnis menschlicher Erfindung noch nach dem Willen menschlicher Abfassung, sondern aus der Gabe heraus, die dir in himmlischen Gesichten zuteil wird: wie du es in den Wundern Gottes siehst und hörst. So tu es kund wie der Zuhörer, der die Worte seines Meisters erlauscht und sie ganz, wie der Meister es meint und will, wie er es zeigt und vorschreibt, weitergibt. So tu auch du, o Mensch! Sage, was du siehst und hörst, und schreibe es, nicht wie es dir noch irgendeinem andern Menschen gefällt, sondern schreibe es nach dem Willen dessen, der alles weiß, alles sieht, alles ordnet in den verborgenen Tiefen seiner geheimen Ratschlüsse.‘
Und wieder hörte ich die Stimme vom Himmel zu mir sagen: ,So tue denn diese Wunder kund! Und schreibe sie, also belehrt, und sprich:‘
,Im Jahre 1141 der Menschwerdung Jesu Christi, des Gottessohnes, als ich zweiundvierzig Jahre und sieben Monate alt war, kam ein feuriges Licht mit Blitzesleuchten vom offenen Himmel hernieder. Es durchströmte mein Gehirn und durchglühte mir Herz und Brust gleich einer Flamme, die jedoch nicht brannte, sondern wärmte, wie die Sonne den Gegenstand erwärmt, auf den sie ihre Strahlen legt. Nun erschloß sich mir plötzlich der Sinn der Schriften, des Psalters, des Evangeliums und der übrigen katholischen Bücher des Alten und Neuen Testamentes. Doch den Wortsinn ihrer Texte, die Regeln der Silbenteilung und der [grammatischen] Fälle und Zeiten erlernte ich dadurch nicht.
Die Kraft und das Mysterium verborgener, wunderbarer Gesichte erfuhr ich geheimnisvoll in meinem Innern seit meinem Kindesalter, das heißt, seit meinem fünften Lebensjahre, so wie auch heute noch. Doch tat ich es keinem Menschen kund, außer einigen wenigen, die wie ich im Ordensstande lebten. Ich deckte alles mit Schweigen zu bis zu der Zeit, da Gott es durch seine Gnade offenbaren wollte.
Die Gesichte, die ich schaue, empfange ich nicht in traumhaften Zuständen, nicht im Schlafe oder in Geistesgestörtheit, nicht mit den Augen des Körpers oder den Ohren des äußeren Menschen und nicht an abgelegenen Orten, sondern wachend, besonnen und mit klarem Geiste, mit den Augen und Ohren des inneren Menschen, an allgemein zugänglichen Orten, so wie Gott es will. Wie das geschieht, ist für den mit Fleisch umkleideten Menschen schwer zu verstehen.‘ “31

Um dieses innere Empfinden, Schauen, Hören und Erkennen der Hildegard überhaupt verstehen zu können, müssen wir einen kurzen Blick auf die verschiedenen Bewusstseinsformen des Menschen werfen. Hierbei ist davon auszugehen, dass das Zusammenwirken von Physis (Natur), Bios (lebender Organismus), Psyche (Empfinden und Fühlen) und Pneuma (Geist) im Menschen zu Grundformen des Erlebens führt, die ereignisunabhängig die einzelnen Bewusstseinsformen mit Ausnahme der Pneumostase je nach Dominanz mitbestimmen, nämlich
1) die ozeanische Selbstentgrenzung oder die Erfahrung des Unendlichen und
2) die angstvolle Ich­-Auflösung oder die Erfahrung der Enge bzw. des Todes.
Dieser Kontrast kann vom Ich jeweils nur durch eine visionäre Umstrukturierung oder durch den Erlebnisvollzug der äußeren und inneren Harmonisierung bewältigt werden. Versucht man nun unter Einbezug der genannten Wirkformen eine Gliederung der verschiedenen Bewusstseinszustände zu erstellen, lassen sich ausgehend vom Wachzustand folgende Bereiche ausmachen: Wachzustand, Erhöhte Zustände, Hypnische Zustände und Lethargische Zustände, die den Ausgangspunkt von 12 Bewusstseinsformen mit ihren Übergängen (Transiten) bilden, auf die hier jedoch nur verwiesen werden kann (Tab. 1).

Tab. 1: Ganzheitspsychologie nach Resch

Der in den oben angeführten Aussagen Hildegards beschriebene Bewusstseinszustand deckt sich mit dem Wachzustand der Luzidität.
Die Luzidität ist nämlich gekennzeichnet durch psychische und geistige Klarheit sowie durch ein unmittelbares bildhaftes wie auch akustisches Erfassen von Inhalten und Ereignissen, die auf dem normalen Erkenntnisweg nicht wahrnehmbar sind.
Im Unterschied zu den in der Tabelle angeführten Bewusstseinszuständen Protobewusstsein und Vigilanz sind Ich und Selbst im Zustand der Luzidität in erster Linie passive Empfänger. Die Bewusstseinsinhalte stellen sich im somatischen, psychischen wie geistigen Bereich mit überzeugender Klarheit völlig von selbst ein. Die wahrnehmende Person, die von der Luzidität bzw. von der Klarheit einer plötzlichen und der Sinneswahrnehmung völlig fremden Wahrnehmung erfasst wird, bleibt dabei jedoch im Vollbesitz des Bewusstseins und der persönlichen Freiheit. Dieser Zustand der Luzidität ist meist nur von kurzer Dauer und geht nicht selten in den Zustand der Vigilanz, Ekstase, Psychostase oder Pneumostase über. Da Hildegard nach ihren Angaben nur einmal in den Zustand der Ekstase verfiel, wie oben angeführt wurde, soll hier auf die Eigenart der Ekstase nicht näher eingegangen werden.32

Wisse die Wege

Das oben schon genannte erste Werk der hl. Hildegard, Wisse die Wege (Scivias), das zwischen 1141 und 1151 entstanden und in 12 Handschriften überliefert ist, wovon nur zwei mit Illustrationen versehen sind, wurde wie der Liber vitae virtutum und der Liber divinorum operum als luzide Erfahrung vor allem in Form von Auditionen und Visionen niedergeschrieben. Dies schlägt sich eindeutig auch in der Formulierung nieder, die sich von der logischen Konstruktion des linearen Denkens klar abhebt.
In Wisse die Wege beschreibt Hildegard in 26 auf drei Bücher aufgeteilten Visionen und Auditionen die enge Verknüpfung von Mensch und Welt mit Gott.

Abb. 9: Der Leuchtende, Scivias, Tafel 2, 1. Buch, 1. Schau

Unter dem Fluch der Sünde (1. Buch)

Im ersten Buch befasst sich Hildegard mit der Liebe des himmlischen Vaters, der Macht des Bösen, der Freiheit, dem Ungehorsam und der Gottbezogenheit des Menschen sowie dem Schutz der Engel. Die Menschen erkannten Gottes Wege nicht.
„Ich schaute – und sah etwas wie einen großen, eisenfarbigen Berg. Darauf thronte ein so Lichtherrlicher, daß seine Herrlichkeit meine Augen blendete. Von beiden Schultern des Herrschers ging, Flügeln von wunderbarer Breite und Länge gleich, ein matter Schatten aus. Vor Ihm, zu Füßen des Berges, stand ein Wesen, das über und über mit Augen bedeckt war – so sehr, daß ich wegen der Augen nicht einmal die menschlichen Umrisse erkennen konnte. Vor diesem Wesen stand ein anderes, im Kindesalter, mit mattfarbenem Gewand und weißen Schuhen. über sein Haupt ergoß sich von dem, der auf dem Berge saß, solchen Lichtes Fülle, daß ich des Mägdleins Antlitz nicht zu schauen vermochte. Auch gingen von dem, der auf dem Berge saß, viele lebendige Funken aus, die die Gestalten mit sanftem Glühen lieblich umflogen. Der Berg selbst hatte sehr viele kleine Fenster, in denen Menschenhäupter, teils bleich, teils weiß, erschienen.“33 (Abb. 9)

Der geschaffene Geist kann sich nur im Bekenntnis der eigenen Unzulänglichkeit, in Demut und heiliger Furcht für dieses flutende Licht des Überlebendigen öffnen und zum Gefäß des mitteilenden Gottes werden. In dem Augenblick, als der Mensch dem Schöpfer des Alls den Gehorsam verweigerte, verlor er die Herrschaft über den Kosmos. Dieser Riss zwischen Gott und dem Menschen wird zum Riss zwischen Mensch und Kosmos. Gott lässt den Menschen gehen, aber er liebt ihn. Die Elemente, deren er sich bedienen will, vergewaltigen ihn. Dies bekommt auch die Seele zu spüren.

„Die Seele ist die Herrin, das Fleisch ist die Magd, denn dadurch, daß die Seele dem Leibe das Leben mitteilt, hat sie ihn in ihrer Gewalt, und der Leib gibt sich im Empfangen des Lebens der Herrschaft der Seele hin. Ohne die Belebung durch die Seele würde er sich ja auflösen und zerfallen. Tut aber der Mensch mit bewußter Seele Böses, so ist dieses so bitter für die Seele, wie wenn der Leib wissentlich Gift nimmt. Doch über ein gutes Werk freut sich die Seele, wie der Leib sich an einer süßen Speise ergötzt.“34

Am Ende der Darstellung dieser kosmischen Katastrophe unter dem Fluch der Sünde im ersten Buch steht die von Licht überflutete Schau der Engel (Abb. 10):

„Alsdann sah ich in der Höhe himmlischer Geheimnisse zwei Reihen erhabener, in großer Herrlichkeit leuchtender Geister. Die der ersten Reihe waren an der Brust beflügelt und hatten Antlitze wie Menschen, in denen wie in einem ungetrübten Wasserspiegel Menschengesichter erschienen. Die der zweiten Reihe hatten ebenfalls Flügel an der Brust und Antlitze wie Menschen. In ihnen leuchtete wie in einem Spiegel das Bild des Menschensohnes auf. Weiter konnte ich, weder bei ihnen noch bei den ersten, die Gestalt nicht unterscheiden.

Abb. 10: Die Chöre der Engel, Scivias, Tafel 9, 1. Buch, 6. Schau, S. 141-142

Diese [beiden] Reihen schlossen sich in Kranzesform um fünf andere Reihen. Von ihnen hatten die Geister der ersten Reihe wieder Antlitze wie Menschen, und von der Schulter an abwärts blitzten sie in hellem Glanz. Die der zweiten Reihe standen da in so lichter Klarheit, daß ich sie nicht anzuschauen vermochte. Weißem Marmor gleich erschienen die Geister der dritten Reihe. Sie hatten Häupter wie Menschen, und über ihnen sah ich Feuerflammen. Eine eisenfarbige Wolke umhüllte von der Schulter an abwärts ihre Gestalt. Die Geister der vierten Reihe hatten Antlitze wie Menschengesichter und Füße wie Menschenfüße. Auf ihrem Haupt trugen sie einen Helm und waren mit marmorgleichen Tuniken bekleidet. Die der fünften Reihe endlich hatten gar nichts Menschenähnliches, sondern erglühten wie das Morgenrot. Weiter konnte ich von ihrer Gestalt nichts erkennen.

Die Geister der ersten Reihe sind an der Brust beflügelt und haben Antlitze wie Menschen, in denen wie in einem ungetrübten Wasserspiegel Menschengesichter erscheinen. Das sind die Engel. Flügeln gleich spannen sie das Verlangen, das sich aus der Tiefe ihrer Erkenntnis ringt. Nicht als ob sie Flügel hätten wie die Vögel, sondern schnell, wie der Gedanke des Menschen dahinfliegt, drängt ihre Sehnsucht sie, den Willen Gottes zu erfüllen. Daß sie Antlitze haben, deutet auf die Schönheit ihres vernünftigen Geistes, in dem Gottes alldurchforschender Blick zugleich die Werke der Menschen erschaut. Denn wie der Knecht, kaum daß er den Befehl seines Herrn vernimmt, ihm nachkommt, so haben die Engel auf die Erfüllung des göttlichen Willens in den Menschen acht und stellen deren Handlungen in sich selber Gott dar.“35

Das Feuerwerk der Erlösung (2. Buch)

Erlösen können die Engel den Menschen jedoch nicht. Dies kann nur der Dreifaltige Gott. Er ist der Weg (Abb. 11).

„Alsdann sah ich ein überhelles Licht und darin eine saphirblaue Menschengestalt, die durch und durch im sanften Rot funkelnder Lohe brannte. Das helle Licht durchflutete ganz die funkelnde Lohe und die funkelnde Lohe ganz das helle Licht. Und [beide,] das helle Licht und die funkelnde Lohe durchfluteten ganz die Menschengestalt, [alle drei] als ein Licht wesend in einer Kraft und Macht.
Daß aber das helle Licht ganz die funkelnde Lohe und die funkelnde Lohe ganz das helle Licht, und daß (beide) das helle Licht und die funkelnde Lohe ganz die Menschengestalt durchfluten, [alle drei] als ein Licht wesend in einer Kraft und Macht, das bedeutet, daß der Vater, die gerechteste Gerechtigkeit nicht ohne den Sohn und den Heiligen Geist, daß der Heilige Geist, der Herzensentzünder, nicht ohne den Vater und den Sohn, und daß der Sohn, die Fülle aller Fruchtbarkeit, nicht ohne den Vater und den Heiligen Geist ist. Untrennbar sind Sie in der Majestät der Gottheit, denn der Vater ist nicht ohne den Sohn, noch der Sohn ohne den Vater, noch Vater und Sohn ohne den Heiligen Geist, noch der Heilige Geist ohne den Vater und Sohn. Und diese drei Personen sind Ein Gott in der einen und ungeteilten hochherrlichen Gottheit.“36

So wird bei Hildegard von Bingen die geistige Struktur der Welt erst in der Deutung des Geheimnisses des Dreifaltigen Gottes zur lebendigen Gestalt. Durch den Sohn wird die Welt erlöst, durch den Geist wird der Mensch in die Kirche eingegliedert.

„Und ich hörte, wie die Stimme vom Himmel zu Ihm sprach: Diese, mein Sohn, sei Dir Braut zur Wiederherstellung meines Volkes! Sie soll ihm Mutter sein. Den Seelen schenke sie das Leben durch die erlösende Wiedergeburt aus dem Geiste und dem Wasser.“37

Der Kirche als Leib und Braut Christi stellt sich jedoch der Widersacher entgegen.

„Wiederum hörte ich nun die Stimme vom Himmel. Sie sprach:
Gott, der alles gerecht und weise lenkt, ruft die gläubigen Völker zur Herrlichkeit des ewigen Erbes. Aber der alte Betrüger lauert im Hinterhalt. Alle Mittel seiner gottlosen Künste bietet er auf, sie abzuhalten. Doch sie siegen über ihn, und er wird zuschanden in seiner Frechheit. Denn die Auserwählten nehmen das himmlische Vaterland in Besitz, während er in die Schrecken der Hölle versinkt.“38

Abb. 11 : Die wahre Dreiheit in der wahren Einheit, Scivias, Taf. 11, 2. Buch, 1. Schau, S. 192

Mit dieser Schau des Vernichtungswillens des alten Betrügers schließt das zweite Buch des Scivias.

 Die reifende Fülle der Zeiten (3. Buch)

Im dritten Buch wendet sich Hildegard der Heilsgeschichte zu und beschreibt die fortschreitende Verwirklichung des ewigen Heilsplanes Gottes in der Zeit, denn alle Wege des Herrn sind Erbarmen und Treue. So wird dieses Buch mit seinen dreizehn Gesichten zu einer einzigen Schau, in der im stufenweisen Entstehen des Gebäudes, als „Werk Gottes“ oder „Gnadenwerk des Vaters“ bezeichnet, die Güte des Vaters das zur Reife bringt, was das innerste Wesen der Kirche ausmacht, nämlich das die Jahrhunderte hindurch sich vollendende Heranwachsen des Leibes Christi, bis dass der Sohn Gottes das Urteil über Gerechte und Ungerechte fällt und der neue Himmel und die neue Erde entstehen.

„Wenn so das Gericht vollendet ist, hört das schreckliche Wüten der Elemente, der Blitze, Donner und Stürme auf. Alles, was hinfällig und vergänglich ist, verrinnt. Es wird fürder nicht mehr erscheinen, wie der Schnee zu sein aufhört, wenn er von der Glut der Sonne aufgelöst ist. Durch göttliche Verfügung tritt vollkommene Ruhe und Stille ein.“39

Damit bricht für den „erlösten Menschen“ ein neues Zeitalter in völlig neuer Gestalt an.

„Das neue Dasein bedarf des von Menschen entzündeten Lichtes nicht, noch ist es von der Veränderlichkeit der Sonne umschlossen, die jetzt die Zeiten des Dunkels zum Gefolge hat. Tag wird es sein ohne Wandel, denn der Beherrscher aller Dinge wird mit der Klarheit seiner Gottheit, die nie durch eine Änderung verdüstert wird, alle erleuchten, die in der Welt durch seine Gnade der Finsternis entronnen sind.“40

Daher klingt in der abschließenden Schau des Scivias der Jubel über die Macht und Wunder der alles vermögenden Gnade Christi auf.

„Alsdann sah ich eine von Licht ganz durchglänzte Luft. Aus ihr tönten mir wundersam, gemäß all den Sinnbildern, die ich bisher geschaut hatte, mannigfaltige Klänge entgegen.“41

Aus diesen Klängen ertönte unter anderem auch folgender Lobgesang der Kräfte:

„Allmächtiger Vater,
Aus Dir ergießt sich wie Feuerlohe der Liebe Quell.
Führe Du das Steuer deiner Kinder,
Laß rechten Wind die Segel schwellen.
Nur dann vermögen auch wir,
Sie heimzugeleiten
Ins himmlische Jerusalem.“42

Naturkundliche Werke

Ab 1150, also nach der Übersiedlung auf den Rupertsberg, befasste sich Hildegard mit naturkundlichen und medizinisch­-heilkundlichen Themen. Wenn sie daher heute auch als Ärztin und Naturforscherin gerühmt wird, so stützen sich diese Aussagen auf die unter ihrem Namen überlieferten Schriften Physica oder Liber subtilis medicinae und Cause et curae oder Liber compositae medicinae. Diese Schriften gehen vermutlich auf eine einzige Schrift, den Liber subtilitatum diversarum naturarum creaturarum (Das Buch von dem inneren Wesen der verschiedenen Naturen der Geschöpfe) zurück, doch nimmt bereits das Kanonisationsprotokoll von 1223 eine Unterscheidung nach Liber subtilis medicinae und Liber compositae medicinae vor 43. Ob diese Unterscheidung noch von Hildegard selbst gemacht wurde, lässt sich nicht mehr sagen.
Auf jeden Fall handelt es sich bei den naturkundlichen Werken, wie Hildegard selbst in der weiter unten angeführten Einleitung zum Liber vitae meritorum indirekt zum Ausdruck bringt, um keine luziden Eingebungen, sondern um Darlegungen aus Erfahrung und allgemeiner Erkenntnis, weshalb die Ausführungen einen linearen gedanklichen Duktus und einen zielbezogenen Inhalt aufweisen, allerdings getragen von der Kongenialität einer Hildegard. Dies dürfte auch der Grund gewesen sein, dass die Texte nicht in den Riesenkodex aufgenommen wurden, was wahrscheinlich sogar noch zu Lebzeiten Hildegards entschieden wurde.

Naturkunde

Der Liber subtilis medicinae, die Physica, die Naturkunde, die in mehreren Kodizes vorliegt, eine für den Volksgebrauch bestimmte Naturheilkunde und Heilmittellehre, beschreibt in einer einfachen Sprache die Heilkräfte, die Pflanzen, Elementen, Bäumen, Steinen, Tieren und Metallen innewohnen. Dabei steht Hildegard auf dem Boden der Temperamentelehre und der Humoralpathologie. Die Krankheiten entstehen aus einem Überschuss oder einer Verderbnis der Körpersäfte, wie im Liber medicinae compositae noch näher zu zeigen sein wird, mit dem ganze Stellen der Physica wörtlich übereinstimmen. Zur Verdeutlichung des Gesagten sei hier die Beschreibung des Kümmels angeführt:

De Kümel. Der Kümmel ist von massiger Wärme und trocken und heilsam gegen Dämpfigkeit. Gesunden ist sein Genuß zu raten, er stärkt den Verstand, Schwachen dagegen ist er schädlich.
Auf gekochten oder gebratenen Käse soll Kümmel gestreut werden. Gegen Übelkeit nehme man Kümmel und dazu den dritten Teil Pfeffer und Bibernelle und den vierten Teil von Kümmel. Man pulvere dieses und gebe reines Weizenmehl hinzu, mache daraus mit Eigelb Brötchen, welche im heißen Ofen oder in heißer Asche getrocknet werden.“44

Auf besondere Resonanz stoßen heute vor allem die im vierten Buch behandelten Steine. Es behandelt Minerale und Gesteine, vornehmlich „edel Gesteine“, seit dem 14. Jahrhundert auch in einem Wort geschrieben: edelstein. In den Mittelpunkt der Edelsteineigenschaften rückt Hildegard den Entstehungsprozess und die medizinisch-­magische Wirkung des einzelnen Steines, während die allegorische Deutung im Hintergrund bleibt. So schreibt sie z.B. über den Diamant:

De Adamante. Wie der Amethyst wirkt der Diamant gegen Spinnen­ und Schlangengift, gegen Fallsucht und Mondsüchtigkeit, bewahrt das Haus vor Dieben und schenkt seinem Träger Tüchtigkeit, Verstand und Weisheit in der Rede.“45

Heilkunde

Während in Physica, wie angeführt, die Heilkräfte beschrieben werden, verbindet der Liber compositae medicinae oder Causae et Curae, die Heilkunde, die antike Kosmologie und Humoralpathologie mit der christlichen Schöpfungs-­ und Erlösungslehre. Als Grundlage der von Heinrich Schipperges besorgten Übersetzung diente die einzige zur Verfügung stehende Handschrift, die unter dem Titel Causae et Curae als Codex Hafiensis 90b in der Königlichen Bibliothek zu Kopenhagen als Abschrift aus dem 13. Jahrhundert aufbewahrt wird. Zur Textergänzung diente Schipperges das Berliner Fragment des Codex Berolinensis Lat. Qu. 674.
Da derzeit geradezu eine Mystifizierung der heilkundlichen Schriften Hildegards erfolgt, muss den folgenden Ausführungen ein klärendes Wort vorausgeschickt werden, das niemand besser formulieren könnte als der schon genannte Geschichtsmediziner und Hildegard-­Experte Heinrich Schipperges:

„Angesichts der zunehmenden Aktivitäten einer sogenannten ,Hildegard­-Medizin‘ haben wir festzuhalten, dass die naturkundlichen Schriften natürlichen Erfahrungen entstammen und dem Wissensstand der Zeit entsprechen. Die damaligen Krankheitsbezeichnungen sind ebenso wenig zu identifizieren wie die angegebenen Pflanzen und Heilmittel. Die Versuche, eine durchaus berechtigte Naturheilkunde als „Hildegard­-Medizin“ in die ärztliche Praxis und in den Bereich der Apotheke zu bringen, entbehren jeder wissenschaftlichen Grundlage. Den Geist der mittelalterlichen Medizin scheint mir – bei allen für die Heilkunde bewundernswerten Leistungen ihrer Zeitgenossen – die Frau Hildegardis am reinsten verkörpert zu haben. Alle Merkmale einer organisch gewachsenen Tradition sind hier noch nachzuweisen: antike Überlieferungen und volkskundliche Elemente, scholastische Disziplinierung wie auch die Erfahrungen der Klostermedizin. Hildegard selbst verbirgt sich dabei hinter der Gestalt eines einfachen Menschen (simplex homo), der sich nicht vermessen wollte, mit den berühmten Meistern der Schulen von Salerno und Toledo, von Chartres oder Paris zu konkurrieren, obwohl Hildegard diese doch alle an Geistigkeit und innerer Strahlkraft weit überragt.“46

Das hier von Schipperges betonte Fehlen jedweder wissenschaftlichen Grundlage bezieht sich allerdings nur auf das Fehlen empirischer Experimente, nicht aber auf die Erfahrungswerte. Dazu hat vor allem Dr. Gottfried Franz Hertzka Stellung genommen. Er wurde zwar schwer angegriffen, die Erfolge mit seiner Hildegard-Medizin konnten jedoch nicht geleugnet werden.47
Zudem ist zu sagen, dass die mittelalterliche Medizin wesentlich von der antiken Elemente-­ und Säftelehre geprägt ist, wie sie von Hippokrates und Galen formuliert wurde. Es handelt sich hierbei um ein geschlossenes Konzept der vier Elemente (Wasser, Feuer, Luft und Erde), der vier Säfte (Blut, Galle, Schwarzgalle und Schleim), der vier Kräfte und Qualitäten sowie der vier Temperamente, die das Leben des gesunden und kranken Menschen bestimmen.
Es darf dabei jedoch nicht übersehen werden, dass die gesamte Heilkunde der Hildegard von ihrem Welt-, Lebens-, und Glaubensbild getragen wird, weshalb auch nicht von einer reinen Erfahrungssammlung die Rede sein kann, wie die folgenden Darlegungen anschaulich zeigen.

1) Erschaffung der Welt

Den Ausgangspunkt der Heilkunde Hildegards bilden die Beschreibung der Erschaffung der Welt, die besondere Stellung des Menschen im Kosmos und seine Heilsbestimmung:

„Gott ist vor der Erschaffung der Welt gewesen, ohne Anfang; denn ER IST. Er ist das Licht und alle Herrlichkeit gewesen und ist es immerdar. Immer ist ER das Leben gewesen. Als dann Gott die Welt zu erschaffen gedachte, brauchte Er nichts weiteres dazu; denn schon in Seinem Wollen war der ganze Weltstoff vorhanden. Als nämlich Gottes Wille aus sich herausging, um die ganze Wirklichkeit zu erschaffen, da trat aus dem Wollen selbst und wie Gott es wollte, der Stoff der Welt heraus, noch ungeformt und wie ein dunkler Klumpen. Und das Wort des Vaters erscholl: Es werde Licht! – da war alles Licht und die Welt voll leuchtender Wesen.“48

Durch die Abkehr des Menschen von Gott beginnt die Nacht ihre Herrschaft und alle Materie wird in Dunkelheit gehüllt. Auch der Mensch ist in seiner Existenz verfremdet, doch Gott lässt ihn in dieser Situation nicht allein. So wird die Krankheitslehre zur Ganzheits- und Heilskunde, denn Luzifer, der den Menschen ins Nichts geführt hat, kennt die Ganzheit nicht, die im Menschen grundgelegt ist, so dass der Mensch trotz der Beschwerung durch die Leiblichkeit in seinem Innern Gott sucht.

„O Mensch, schau dir doch daraufhin den Menschen richtig an: der Mensch hat ja Himmel und Erde und die ganze übrige Kreatur schon in sich selber und ist doch eine ganze Gestalt (forma una), und in ihm ist alles schon verborgen vorhanden (in ipso omnia latent).“49

Gott schuf jedoch nicht nur den Menschen, sondern auch die Elemente der Welt, wobei alle Elemente sich im Menschen befinden und der Mensch wirkt mit ihnen. Hinzu kommen Sonne, Mond und Sterne sowie die vier Hauptwinde.

„Die Elemente trinken alles, was zur Natur des Menschen gehört, wie ja auch der Mensch die Elemente in sich hineinnimmt; denn der Mensch lebt mit ihnen und sie mit dem Menschen, und dementsprechend strömt auch das Blut des Menschen. Daher steht geschrieben: ,Himmel und Erde klagen über den Menschen‘; dessen ruhelose Zwistigkeiten in seinen Werken sind es ja, welche die Elemente so oft in Verwirrung bringen. Das ist so, wie wenn ein Mensch ein Netz in seiner Hand hält und dieses bewegt. Auf gleiche Weise setzt auch der Mensch die Elemente in Bewegung, so daß sie seinen Handlungen entsprechend ihre Atmosphäre aussenden.“50

2) Gesundheit und Krankheit

Vom Feuer bezieht der Mensch sein Empfindungsvermögen und seine Sehnsucht, „von der Luft empfängt er seine Gedankenwelt und deren Unbeständigkeit, vom Wasser seine Erkenntnis und seine Bewegungsfähigkeit.“51 Das harmonische oder disharmonische Zusammenspiel der Elemente bedingt daher auch die Gesundheit bzw. Krankheit des Menschen:

„So verhält es sich, wenn die Elemente die rechte Ordnung in der menschlichen Organisation verwirklichen: sie sind dann der Garant seiner Erhaltung und seiner Gesundheit. Sobald sie aber von dieser Funktionsordnung abgehen (discordant), machen sie ihn krank und bringen ihn zu Tode. Solange nämlich die Gerinnungen (coagulationes) der Säfte, die abhängig sind von Wärme, Feuchtigkeit, Blut und vom Gesamtgewebe (caro) und die sich in entsprechender Form vorfinden, in ausgeglichener Ruhe und unter einer anpassungsfähigen Steuerung in ihm wirken, hat der Mensch seine Gesundheit; sobald sie ihn aber alle zugleich und unvorsichtig (indiscrete) anrühren und im Übermaß über ihn herfallen, machen sie ihn krank und bringen ihn zu Tode.“52

Wie die Elemente über Leben und Tod entscheiden, so bedingen sie auch den Bestand des Menschen:

„Der Mensch hat seinen geschaffenen Bestand aus den vier Elementen: zwei von ihnen sind geistlicher Natur, zwei fleischlicher Art. Feuer und Luft sind geistlich, Wasser und Erde fleischlich. Diese vier gehen im Menschen eine einheitliche Verbindung ein und kochen ihn durch, daß er bluthaft und fleischlich in all seinen Organen werden kann. Feuer aber und Wasser stehen in einem Gegensatz zueinander und können nicht zusammen wohnen; infolgedessen ist es nötig, daß jeder der beiden seinen Meister finde. Wasser wirkt dem Feuer entgegen, damit es nicht über Gebühr weiterbrenne, und das Feuer bändigt das Wasser, damit es sich nicht zu weit über die Austrocknungskraft hinwegsetze; so regeln diese beiden Grundkräfte, Feuer und Wasser, die ganze Erde mit der Luft und den Wolken, auf daß sie Bestand haben und nicht verfallen. Genau so ist es im Bluthaushalt des Menschen: das Blut ist durch die Wärme rot und durch das Wasser wässerig; wäre es in seiner Wärme nicht zugleich auch wässerig, so könnte es nicht fließen, sondern würde ausdörren und wie eine Schuppe abfallen. Und wenn die Erde nicht wasserreich wäre, würde sie wie Spreu zerstäuben; sie könnte niemals diese eine ganzheitliche Schöpfung sein (una integra creatura). Daher hängt von diesen beiden Grundkräften die ganze übrige Schöpfung mit ab: ohne sie könnte keine Formation durchgestaltet werden; wenn diese beiden nicht auf eine solche Weise ihre Verbindung zur Ganzheit eingehen würden, könnten auch die übrigen Gebilde nicht bestehen.“53

Der Plan der Entstehung des einzelnen Menschen liegt hingegen von Ewigkeit an in Gott verborgen, „so verborgen, wie die Seele unsichtbar im Körper liegt. Die Seele nun vermag ohne Körper zu leben; nach dem jüngsten Tag aber wird sie ihr Gewand von Gott zurückverlangen, um es wieder anzuziehen.“54

3) Mann und Frau

Nach diesen Ausführungen über Schöpfung, Natur, Gesundheit und Krankheit sowie die Entstehung des Menschen geht Hildegard kurz auf das geschlechtliche Verhalten von Mann und Frau und die Zeugung des Menschen ein, um dann die biologischen Rhythmen der Natur sowie von Schlaf und Wachen zu beschreiben. Nach diesen grundsätzlichen Ausführungen werden Krankheiten vom Kopf bis zum Fuß, die Zustände und Umstände der Frau und das Geschlechtsleben behandelt:

„Als Gott den Adam schuf, hatte Adam eine große Liebe in seinem Schlafe, den Gott über ihn sandte. Und Gott gab der Liebe des Mannes Gestalt, und so ist die Frau die Liebe des Mannes. Sowie nun die Frau gebildet ward, gab Gott dem Manne jene Schöpferkraft, daß er aus seiner Liebe, welche die Frau ist, Kinder erzeugen könne. Als nämlich Adam Eva zum erstenmal erblickte, war er ganz von Weisheit erfüllt, da er in ihr die Mutter seiner Kinder erkannte. Als aber Eva Adam ansah, schaute sie ihn so an, als blickte sie in den Himmel hinein und als richtete sie ihre Seele empor, die den Himmel ersehnt: war doch ihre Hoffnung auf den Mann gerichtet. Und darum wird eine einzige Liebe sein, und nur so sollte es sein in der Liebe zwischen Mann und Frau und nicht anders.“55

4) Gemüt und Nahrung

Diese Symbolsprache findet sich auch in den weiteren Kapiteln. So sagt Hildegard in der Beschreibung der Gemütsbewegungen:

„Menschen von fettreicher Konstitution haben auch fetthaltige Gefäße und ein weiches Herz; sie weinen leicht und lachen schnell. Die aber eine trockene Natur besitzen, haben ein hartes Herz wie einen Kalk, das härter ist als das übrige Gewebe; deshalb weinen sie auch schwer und selten und haben ein sprödes Gemüt“56.

In diesem Zusammenhang ist auch die Abstimmung der Nahrung auf die eigene Konstitution von besonderer Wichtigkeit:

„Der Mensch ist nämlich in dieser Hinsicht wie die Erde. Hat die Erde zuviel Feuchtigkeit bekommen, wird sie dadurch Schaden nehmen; ist sie dagegen nur von wenig oder gar keiner Feuchte berührt worden, ist es gleichfalls für ihre Fruchtbarkeit nicht zuträglich. Hat sie aber die angemessene Feuchtigkeit erhalten, dann bekommt ihr das gut. Genau so ist es beim Menschen. Hat der Mensch an vieler und reichlicher und zu flüssiger Feuchtigkeit zu leiden, sei es in den Augen, Ohren, an Nase, Mund, so wird er dadurch mehr krank wie gesund. Wenn er aber mäßige oder gar keine strömende Feuchtigkeit an diesen Organen bekommt, so ist dies für ihn gefährlich. Hat er aber in angemessener Weise seine Feuchtigkeit, so dient es ihm zur Gesundheit.“57

Schließlich befasst sich Hildegard auch noch mit der Frage der Arzneimittel, mit den Zeichen des Lebens sowie der gesunden Lebensführung, um dann noch auf die ärztliche Fürsorge und die Tugenden des Arztes einzugehen, ohne dabei eine ausgesprochene ärztliche Standeslehre zu geben. Mit einem Loblied auf das Leben, auf die viriditas (Grünheit), das edle Grün, schließen die Ausführungen:

„O edelstes Grün,
das wurzelt in der Sonne
und leuchtet in klarer Heiterkeit,
im Rund eines kreisenden Rades,
das die Herrlichkeit des Irdischen nicht faßt:
umarmt von der Herzkraft himmlischer Geheimnisse
rötest du wie das Morgenlicht
und flammst wie der Sonne Glut.
Du Grün
bist umschlossen von Liebe.“58

Der Mensch in der Verantwortung

Nach Abfassung der naturwissenschaftlichen und einiger anderer Schriften bekam Hildegard 1158 neuerlich die Weisung, niederzuschreiben, was sie gehört hatte. Dabei zählt sie einleitend auf, was sie in den Jahren von 1150 bis 1159 niederschrieb:

1. Die Naturschriften, deren ursprüngliche Handschrift unter dem Titel Subtilitates diversarum naturarum creaturarum verfasst wurde, uns aber nur aus mehreren Kodizes als Physica (Naturkunde) sowie aus der einzigen Kopenhagener Handschrift als Causae et curae (Heilkunde) überliefert sind.
2. Antworten und Ermahnungen (Responsa et admonitiones), also Hildegards Briefe und einzelne Sendschreiben. Dieser auch anderweitig dokumentierte Liber epistolarum ist verloren gegangen.
3. Sinfonie der Harmonie himmlischer Offenbarungen, in der Hauptsache Hildegards Carmina wie auch das Singspiel vom Spiel der Kräfte (Ordo virtutum).
4. Hildegards Unbekannte Sprache (Lingua ignota), die 900 Wortneubildungen zu den verschiedenen Bereichen bietet und wie das Unbekannte Alphabet (Litterae ignotae) noch nicht entschlüsselt ist.
5. Weitere Briefe und Sendschreiben (Litterae cum expositionibus). Unter Letzteren sind vor allem die Regelkommentare (Explanatio Regulae S. Benedicti) zu verstehen, ferner die Explanatio Symboli S. Athanasii sowie die Vita S. Disibodi.59

Nach dieser knappen, biografisch aber sehr bedeutsamen Einführung beginnt Hildegard ganz unmittelbar mit ihrer visionären Betrachtung der Verantwortung:

„Zu Beginn meines einundsechzigsten Lebensjahres also, im Jahre 1158 nach der Menschwerdung des Herrn, da der Apostolische Stuhl bedrängt war und Kaiser Friedrich das Römische Reich regierte, da hörte ich eine Stimme vom Himmel zu mir sprechen:
,Du, der du von deiner Kindheit an durch den Geist des Herrn nicht auf leibliche Weise, sondern geistig in der wahren Schau unterwiesen wurdest, verkünde nun das, was du jetzt siehst und hörst. Denn von Beginn deiner Schau an wurden dir einige Erscheinungen gleichsam wie flüssige Milch gezeigt; andere wieder wurden dir gleich einer erquickenden, leichten Speise angeboten; noch andere wurden dir wie feste und vollkommene Nahrung angewiesen. So rede denn auch jetzt wiederum nach Mir und nicht nach dir, und schreibe Mir nach und nicht dir nach!‘
Und ich legte Hand ans Schreiben, wie jener Mann bezeugen kann, den ich, wie in früheren Visionen erwähnt, im geheimen gesucht und gefunden hatte, und wie auch ein bestimmtes Mädchen bezeugt, das mir behilflich war.
Und wiederum hörte ich die Stimme vom Himmel, die zu mir sprach und mich folgendermaßen belehrte: Ich sah einen Mann von solch hohem Wuchs, daß er von der obersten Höhe der Himmelwolken bis hinunter in die Abgründe reichte.“60

Dieser Mann ist Gott in der Gestalt des Kosmos. Vor ihm erscheinen Sonne und Mond, in einer Sturmwolke die Schar der Seligen, in einer Feuerwolke der Chor der Feuergeister, der dem lasterhaften Treiben der Welt die himmlische Antwort gibt. Damit ist das Rede-­ und Antwortspiel bereits angedeutet.
Hildegard erblickt zunächst die verschiedenen irdischen Laster in leibhaftiger Gestaltung und hört sie in einer derben irdischen Diktion daherreden. Dann gibt eine Stimme von oben die Erklärung der Figuren, die Laster werden noch einmal nachgezeichnet, wobei das Wesen des Lasters, die jenseitigen Läuterungsmittel und die diesseitigen Bußdisziplinen im Mittelpunkt stehen. Nach Darstellung des Lasters antwortet die entsprechende Tugend. Folgende Laster und Tugenden werden gegenübergestellt (Tab.).

1. Weltliebe
2. Ausgelassenheit
3. Vergnügungssucht
4. Herzenshärte
5. Feigheit
6. Zorn
7. Ausschweifung
8. Schlemmerei
9. Engherzigkeit
10. Gottlosigkeit
11. Lüge
12. Streitsucht
13. Schwermut
14. Maßlosigkeit
15. Verstocktheit
16. Hochmut
17. Mißgunst
18. Ruhmsucht
19. Ungehorsam
20. Unglaube
21. Verzweiflung
22. Wollust
23. Ungerechtigkeit
24. Stumpfsinn
25. Gottvergessenheit
26. Unbeständigkeit
27. Sorge für das Irdische
28. Verschlossenheit
29. Habsucht
30. Zwietracht
31. Spottsucht
32. Umherschweifen
33. Magische Kunst
34. Geiz
35. Weltschmerz
Liebe zum Himmlischen
Zucht
Schamhaftigkeit
Barmherzigkeit
Gottes Sieg
Geduld
Sehnsucht nach Gott
Enthaltsamkeit
Freigebigkeit
Frömmigkeit
Wahrheit
Friede
Seligkeit
Maß
Seelenheil
Demut
Liebe
Gottesfurcht
Gehorsam
Glaube
Hoffnung
Keuschheit
Gerechtigkeit
Tapferkeit
Heiligkeit
Beständigkeit
Sehnsucht nach Himmlischem
Zerknirschung
Weltverachtung
Eintracht
Ehrfurcht
Stetigkeit
Gottes Dienst
Genügsamkeit
Himmlische Freude
Tab.: Katalog der Laster und Tugenden

Als Beispiel dieser Form von Rede und Antwort sei die Darstellung der Gestalt von Missgunst und Liebe mit ihren Aussagen angeführt:

Die zweite Gestalt
Ich sah eine weitere Erscheinung, ganz scheußlich im Aussehen. Kopf und Schultergürtel samt den Armen glichen einem Menschen; anstatt der Hände aber trug sie die Klauen eines Bären. Brust, Bauch und Rücken hatten in ihrer Unförmigkeit nichts mehr mit einem Menschen zu tun. Von den Hüften abwärts glich sie wieder einem Menschen, nur daß sie hölzerne Füße hatte. Ihr Kopf war feuerrot, und sie stieß eine Flammenlohe aus ihrem Mund. Besondere Kleider trug sie nicht; sie hüllte sich vielmehr ganz in die erwähnte Dunkelheit. Nur das rechte Schulterblatt ragte daraus hervor. Und die Gestalt sprach:

Die Mißgunst spricht
,Der Hirt und Hüter jeden Unmaßes bin ich. Alle Grünkraft des Mannes (virilis viriditas) treibe ich aus, so weit ich nur kann. Für angemessene Worte habe ich keinen Sinn. Und seien sie in ihrer Zahl wie der Sand am Meere und so klug wie Schlangen, ich zernage sie doch, und mir können sie keinen Widerstand leisten. Denn ich werde die Hölle genannt. Und so ziehe ich die Massen an mich und beschmutze all das, was Gott gewirkt hat. Wenn ich das Schöne und Strahlende schon nicht selbst besitzen kann, dann will ich es wenigstens in den Dreck ziehen. Und wenn mich auch alle als Nacht beschimpfen und mich mit ihren Wassern besprengen, so bin ich doch bald schon wieder trocken. Meine Redensarten entsende ich wie Pfeile im Dunkeln, und alle, die sich treuherzige Menschen nennen, verletze ich. Meine Kräfte sind wie der Nordwind. Alles, was ich besitze, werde ich dem Haß überliefern; denn dieser stammt von mir ab, und er ist noch geringer als ich.‘

Der Liebe Antwort
,Und abermals hörte ich aus der erwähnten Sturmwolke eine Stimme dieser Gestalt antworten: O du schmutziger Scharfmacher! Wie eine Schlange bist du, die sich selber den Tod gibt. Denn alles das, was in Festigkeit und Ehre Bestand hat, das kannst du nicht ertragen. Du bist jenes Götzenbild, das gegen Gott aufsteht und das die 136 Völker durch Treulosigkeit tötet. Daher nennst du dich mit Recht eine Hölle, da auch diese gegen jedes rechte Maß ihre Vermessenheit setzt. Will sie doch alles, was der Weisheit entstammt, vernichten, und sie mag nicht einmal leben mit diesen schönen und strahlenden Dingen.
Ich aber bin jener Lufthauch, der alles Grüne nährt und die Blüten sprießen läßt mit ihren reifenden Früchten. Mit jedwedem Hauch des Heiligen Geistes werde ich belehrt, so daß ich die lautersten Bäche ergießen kann. Mit dem Seufzen zum Guten rufe ich Tränen hervor und aus den Zähren den Wohlgeruch heiliger Werke. Auch bin ich jener Regen, der aus dem Tau herweht, durch den alle Kräuter mich anlachen zu fröhlichem Leben (laeta vita).
Du aber, ein gar böses und schlechtes Gift, du nagst an allem Wertvollen mit deiner Pein, ohne doch all diese Pracht vernichten zu können. Je mehr du wütest, um so mehr wächst alles das. Und wo du als Tod auftrittst, da leben jene Kräfte auf, und in Gottes Macht erscheinen die Blüten der Weinberge. Auch bist du ein ruchloses und nächtiges Scheusal und das Zischen des Satans, und nichts anderes ist dein Sehnen. Im Hochmut deines Geistes behauptest du: Ich will mehr Völker an Zahl als Sand am Meere an mich ziehen. Und doch gehst du zugrunde.
Ich hingegen, ich wirke bei Tag und bei Nacht die Tugend des Gleichmuts und der guten Tat. Ich breite Tag und Nacht meinen Mantel aus. Alle guten Werke wirke ich am Tage, und ich salbe bei Nacht alle Schmerzen, und so kann keiner mir auch nur das geringste vorwerfen. Ich bin die liebenswürdige Freundin am Throne Gottes, und Gott verbirgt mir keine Entscheidung. Das königliche Brautgemach, es ist mein, und alles, was Gott gehört, gehört auch mir. Und wo der Sohn Gottes der Menschen Sünden mit Seinem Gewande tilgt, da verbinde ich die Wunden mit mildestem Linnen. Du aber solltest dich schämen, da du den besseren Teil nicht gefunden hast.‘ “61

Das letzte Buch weist schließlich auf die Orte der Verdammnis und der endgültigen Seligkeit hin. Diese Seligkeit übersteigt jedoch die irdische Fassungskraft des Menschen:

„In dieser so oft schon erwähnten Herrlichkeit nahm ich nun eine noch viel größere, unermeßliche Herrlichkeit wahr. Wie ich darauf achten wollte, wurde mir klar, daß der Glanz ihres Strahlens eine solche Schönheit in allem Schmuck, eine solche Lieblichkeit aller Lieblichkeiten und Wonne über Wonne an Glückseligkeit in sich trug, daß kein Auge es sehen, kein Ohr es hören, noch je es im Herzen eines Menschen aufsteigen könnte, solange er im gebrechlichen und vergänglichen Leibe weilt. Daher wurde mir auch eine Art von Siegel vorgesetzt, durch das mir weitere Erscheinungen und noch mehr Wonnen solcher Art verborgen wurden, als ich sie schon zuvor gesehen. Lediglich so, wie ich dies sah, wurde es in mir zurückgeworfen und ich sah dies und verstand es durch den lebendigen Geist.“62

Welt und Mensch

Die reifste Schrift Hildegards ist wohl der Liber divinorum operum, die Schau über Welt und Mensch, die in mehreren Fassungen vorliegt. Dabei ist noch erwähnenswert, dass sie in der Genter Fassung, auf der die hier angeführte Übersetzung von H. Schipperges fußt, den Titel De operatione Dei trägt, während die späteren Manuskripte sie als Liber divinorum operum bezeichnen. Die Entstehung des Werkes wird auf die Zeit zwischen 1163 und 1173 datiert. Die angeführten Bilder sind einer letzten Handschrift, dem Kodex 1942 von Lucca, entnommen.
Den Beginn der Visionen, die in diesem Buch beschrieben werden, datiert Hildegard in ihrem Vorwort auf das Jahr 1163:

„Es war im Jahre 1163 der Menschwerdung des Herrn, als die Unterdrückung des römischen Stuhls sich noch nicht gelegt hatte, unter Friedrich dem römischen Kaiser. Da erscholl eine Stimme vom Himmel und sprach zu mir:
,Armes Wesen, du Tochter vielfacher Mühsal, die du von so zahlreichen und schweren körperlichen Leiden gleichsam durchgekocht bist: Dich hat trotz allem die Tiefe der Geheimnisse Gottes durchströmt! Übermittle du zum Nutzen der Menschen mit festhaltender Schrift, was du mit inneren Augen siehst und mit den inneren Ohre n deiner Seele vernimmst.‘ “63

Und so beschreibt sie in 10 Kosmosvisionen den Menschen als Geschöpf Gottes, der selbst Schöpfer einer Welt ist. Sein schöpferisches Wirken lebt aus Christus, der in der Fülle der Zeit Mensch wurde, um Mensch und Welt in der göttlichen Liebe zum Vollbild zu gestalten:

„Ich, die höchste und feurige Kraft, habe jedweden Funken von Leben entzündet, und nichts Tödliches sprühe ich aus. Ich entscheide über alle Wirklichkeit. Mit meinen höheren Flügeln umfliege ich den Erdkreis: mit Weisheit habe ich das All recht geordnet. Ich, das feurige Leben göttlicher Wesenheit, zünde hin über die Schönheiten der Fluren, ich leuchte in den Gewässern und brenne in Sonne, Mond und Sternen. Mit jedem Lufthauch, wie mit unsichtbarem Leben, das alles erhält, erwecke ich alles zum Leben.“64

Dieses Leben ist die Liebe, die letztlich nur der Glaube erfassen kann:

„Nur der Glaube erfaßt in tiefster Ehrfurcht das alles Begreifen übersteigende Übermaß dieser Liebe: daß Gott durch die Menschwerdung Seines Sohnes den Menschen erlöste und ihn durch die Eingießung des Heiligen Geistes festigte. So wird der Eine Gott in Seiner Dreifaltigkeit erkannt, Er, der ohne zeitlichen Anfang in Ewigkeit Gott war in Seiner Gottheit. In diesem Kreisbild oberhalb dieses Hauptes erblickst du noch einen anderen Kopf wie den eines älteren Mannes. Das bedeutet: die überwältigende Güte der Gottheit, die ohne Ursprung und Ende ist, eilt den Gläubigen zu Hilfe. Kinn und Bart berühren den Scheitel des ersten Gesichtes: im gesamten Planen und Vorherwissen Gottes war das der Gipfel der höchsten Liebe, daß der Sohn Gottes in Seiner Menschheit die verlorenen Menschen heimführte in das himmlische Reich.“65

Der Kosmosmensch

Eingeflochten in das gewaltige Schöpfungsrad hält der Mensch in seinem schöpferischen Auftrag das Weltennetz in der Hand, denn seine Existenz ist eingebettet in den Kreuzungspunkt (quadruvium) der weltlichen Sorgen wie dies in der Abbildung des Kosmosmenschen so eindrucksvoll dargestellt ist (Abb. 12).

Abb. 12: Der Kosmosmensch, Liber divinorum operum, Kodex 1942 der Biblioteca Governativa in Lucca, Italien

„Daß aber inmitten dieses Rades die Gestalt eines Menschen erscheint, dessen Scheitel sich nach oben, die Füße aber nach unten gegen den erwähnten Kreis der starken weißen Klarluft erstrecken, während rechts die Fingerspitzen der rechten Hand, links die der linken gegen diese Luftschicht beiderseits gerichtet sind, als habe die Gestalt weit ihre Arme ausgebreitet, das soll folgendes besagen:
Mitten im Weltenbau steht der Mensch. Denn er ist bedeutender als alle übrigen Geschöpfe, die abhängig von jener Weltstruktur bleiben. An Statur ist er zwar klein, an Kraft seiner Seele jedoch gewaltig. Sein Haupt nach aufwärts gerichtet, die Füße auf festem Grund, vermag er sowohl die oberen als auch die unteren Dinge in Bewegung zu versetzen. Was er mit seinem Werk in rechter oder linker Hand bewirkt, das durchdringt das All, weil er in der Kraft seines inneren Menschen die Möglichkeit hat, solches ins Werk zu setzen. Wie nämlich der Leib des Menschen das Herz an Größe übertrifft, so sind auch die Kräfte der Seele gewaltiger als die des Körpers, und wie das Herz des Menschen im Körper verborgen ruht, so ist auch der Körper von den Kräften der Seele umgeben, da diese sich über den gesamten Erdkreis hin erstrecken. So hat der gläubige Mensch sein Dasein im Wissen aus Gott und strebt in seinen geistlichen wie weltlichen Bedürfnissen zu Gott. Geht es mit seinen Unternehmungen gut vorwärts oder glücken sie auch nicht: immer richtet sich sein Trachten auf Gott, da er Ihm in beidem seine Ehrfurcht ununterbrochen zum Ausdruck bringt. Denn wie der Mensch mit den leiblichen Augen allenthalben die Geschöpfe sieht, so schaut er im Glauben überall den Herrn. Gott ist es, den der Mensch in jedem Geschöpf erkennt. Weiß er doch, daß Er der Schöpfer aller Welt ist.“66

„Gegen die vier Regionen hin erscheinen die vier Köpfe, ein Leopard, ein Wolf, ein Löwe und ein Bär, so, wie sich auch an den vier Seiten des Alls die vier Weltwinde befinden. Diese vier Winde haben keineswegs die genannten Gestalten, sie gleichen nur in ihren Kräften der Natur der angeführten Tiere.
Der Mensch hat seine Existenz gewissermaßen am Kreuzweg (quadruvium) der weltlichen Sorgen. Er wird darin von unzähligen Versuchungen getrieben. Beim Leopardenkopf erinnert er sich an die Furcht des Herrn, beim Wolf an die Höllenstrafen, beim Löwen fürchtet er sich vor dem Gerichte Gottes, und unter dem Bären wird er bei den Heimsuchungen des Körpers von einer Unzahl anstürmender Bedrängnisse erschüttert.
Von den Tierköpfen gehen nunmehr in genau beschriebener Gesetzmäßigkeit die Aushauchungen aus, die durch das ganze Weltenrad ein geordnetes kosmisches Netz spinnen und ein dementsprechendes moralisches Bezugssystem schaffen.“67

Verherrlichung

Nachdem so der einzelne Mensch in Wahrung des Glaubens die vielfältigsten Kämpfe ausgefochten hat, darf er als Krönung seines Lebens die Herrlichkeit Gottes erwarten, wie Hildegard in ihrem Nachwort bekräftigt:

„Und wiederum hörte ich eine Stimme vom Himmel, die mich diese Worte lehrte:
Nun sei Gott Lob in Seinem Werke, dem Menschen! Um seiner Erlösung willen hat Er die gewaltigsten Kämpfe auf Erden gefochten. Er würdigte sich, ihn über die Himmel zu erheben. Zusammen mit den Engeln sollte er Sein Antlitz in jener Einheit loben, in der Er wahrer Gott und wahrer Mensch ist.“68

Lieder

Als Abschluss und Krönung des Gesamtwerkes der hl. Hildegard von Bingen ist schließlich noch ihr musikalisches Werk zu nennen. Außer den 77 noch erhaltenen Liedern hat Hildegard ein geistliches Spiel hinterlassen, den Ordo virtutum, der schon durch seinen Stoff ganz aus dem Rahmen der mittelalterlichen Mysterienspiele fällt: Es geht um das Schicksal der Einzelseele, um ihre reuige Rückkehr zu den Tugenden.

Abb. 13: O virtus Sapientiae (Lieder, S. 131-132)

Musik vertieft nach Hildegard das Verständnis der Worte und fördert das persönliche Gleichgewicht. Gott singend zu loben, gehört zur Berufung des Menschen. Dadurch wird er zum Gefährten der Engel und hält die Verbindung zum ganz heilen Ursprung lebendig.69
Ihre Kompositionen stehen in der Tradition des Gregorianischen Chorals, doch geht der Umfang der Gesänge in der Regel weit über das in der Gregorianik Gewohnte hinaus. Alles ist getragen von ihrem Verständnis von Mensch und Kosmos auf dem Weg zu Gott, wie unter anderem das Lied der Weisheit, das 59. Lied, bekundet (Abb. 13)70:

„O Kraft der Weisheit, umkreisend die Bahn,
die eine des Lebens,
ziehst um das All du die Kreise,
alles umfangend!
Drei Flügel hast du:
In die Höhe empor schwingt der eine,
auf der Erde müht sich der zweite,
und allüberall schwingt der dritte.
Lob sei dir, Weisheit, würdig des Lobes!“71

Z.T. aus GW 47 (1998) 2, 99-118
Literatur:
Christianorum. Continuatio Mediaevalis. XLIII. Turnholti 1978.
Hildegardis Liber Vitae Meritorum. Edidit Angela Carlevaris O.S.B, in: Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis XV. Turnholti 1995.
Hildegardis Bingensis Liber Divinorum Operum. Cura et studio A. Derolez et P. Dronke, in: Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis XCII. Turnholti 1996.
Deutsche Ausgabe
Wisse die Wege. Der heiligen Hildegard von Bingen Wisse die Wege. Scivias. Nach dem Urtext des Wiesbadener kleinen Hildegard-Kodex ins Deutsche übertragen und bearbeitet von Maura Böckeler. Salzburg: Otto Müller, 61976.
Heilkunde. Das Buch von dem Grund und der Heilung der Krankheiten. Nach den Quel­len übersetzt und erläutert von Heinrich Schipperges. Salzburg: Otto Müller, 41981.
Naturkunde. Das Buch von dem innersten Wesen der verschiedenen Naturen in der Schöpfung. Nach den Quellen übersetzt und erläutert von Peter Riethe. Salzburg: Otto Müller, 1959.
Welt und Mensch. Das Buch „De operatione Dei“. Aus dem Genter Kodex übersetzt und erläutert von Heinrich Schipperges. Salzburg: Otto Müller, 1965.
Lieder. Nach den Handschriften herausgegeben von Pudentiana Barth, M. Immaculata Ritscher und Joseph Schmidt-Görg. Salzburg: Otto Müller, 1969.
Briefwechsel. Nach den ältesten Handschriften übersetzt und nach den Quellen erläutert von Adelgundis Führkötter. Salzburg: Otto Müller, 1965.
Hildegardis <Bingensis>: Heilige Inspiration. Neu übers. und hrsg. von Matthias Hackemann. Köln: Anaconda, 2007.
Der Mensch in der Verantwortung. Das Buch der Lebensverdienste (Liber Vitae Meri­torum). Nach den Quellen übersetzt und erläutert von Heinrich Schipperges. Salzburg: Otto Müller, 1972.
Das Buch von den Steinen. Nach den Quellen übersetzt und erläutert von Peter Riethe. Salzburg: Otto Müller, 1979.
Sekundärliteratur:
FORSTER, Edeltraud (Hg.): Hildegard von Bingen: Prophetin durch die Zeiten. Zum 900. Geburtstag. Freiburg: Herder, 1997.
FÜHRKÖTTER, A.: Hildegard von Bingen. Salzburg: Otto Müller, 1972.
FÜHRKÖTTER, Adelgundis: Das Leben der Heiligen Hildegard von Bingen. Salzburg: Otto Müller, 31980.
GOUGUENHEIM, Sylvain: La Sybille du Rhin. Hildegarde de Bingen, abbesse et prophétesse rhénane. Paris: Sorbonne, 1966 (Serie Histoire ancienne medievale; 38).
Hildegard von Bingen: Briefwechsel. Nach den ältesten Handschriften übersetzt und nach den Quellen erläutert von Adelgundis Führkötter. Salzburg: Otto Müller, 1965.
KLAES, Monika ( Hg.): Vita Sanctae Hildegardis CC CM, 126, Tournhout, 1993.
LAUTER, Werner: Hildegard-Bibliographie: Wegweiser zur Hildegard Literatur, 2 Bde. Alzey: Verl. der Rheinhess. Druckwerkstätte, 1970/1984.
NEWMAN, Barbara: Seherin – Prophetin – Mysterikerin, in: Edeltraud Forster (Hg.): Hildegard von Bingen: Prophetin durch die Zeiten. Zum 900. Geburtstag. Freiburg: Herder, 1997, S. 126-152.
RIEDEL, Ingrid: Hildegard von Bingen: Prophetin der kosmischen Weisheit. Stuttgart: Kreuz, 1994.
SCHIPPERGES, H.: Hildegard von Bingen. München: Beck, 1995.
SCHIPPERGES, Heinrich: Die Welt der Hildegard von Bingen. Freiburg: Herder, 1997.
STAAB, Franz: Reform und Reformgruppen im Erzbistum Mainz: Vom „Libellus de Willigisi consuetudinibus“ zur „Vita domnae Juttae inclusae“, in: Reformidee und Reformpolitik im spätsalisch­frühstaufischen Reich, hrsg. von Stephan Weinfurter unter Mitarbeit von Hubertus Seibert. Mainz: Ges. für Mittelrheinische Kirchengeschichte, 1992, S. 174-187 (Anhang II).
STAAB, F.: Aus Kindheit und Lehrzeit Hildegards: Mit einer Übersetzung der Vita ihrer Lehrerin, der Jutta von Sponheim. Anhang: Leben der Jutta, Inkluse, in: Edeltraud Forster (Hg.): Hildegard von Bingen: Prophetin durch die Zeiten. Zum 900. Geburtstag. Freiburg: Herder, 1997, S. 58-86.
Vita Sanctae Hildegardis auctoritate Godefrido et Theodorico monachis, in: Patrologia Latina 197, col. 115­130.
Vita Sanctae Hildegardis = Leben der heiligen Hildegard von Bingen. Canonizatio Sanctae Hildegardis. Kanonisation der Heiligen Hildegard. Übers. u. eingel. von Monika Klaes. Freiburg: Herder, 1998 (Fontes Christiani; 29).
Anmerkungen:
1 Franz STAAB: Reform und Reformgruppen im Erzbistum Mainz: Vom „Libellus de Willigisi consuetudinibus“ zur „Vita domnae Juttae inclusae“ (1992).
2 Vita Sanctae Hildegardis. Leben der Heilige Hildegard von Bingen. Canonizatio Sanctae Hildegardis. Kanonisation der Heiligen Hildegard. Monika KLAES (Hg.): Freiburg: Herder, 1998 (Fontes Christiani, Bd. 29), S. 30-35.
3 Ebd., S. 36-63.
4 Ebd., 27-30.
5 Nach Heinrich SCHIPPERGES: Die Welt der Hildegard von Bingen (1997), S. 39; vgl. Vita Sanctae Hildegardis auctoritate Godefrido et Theodorico monachis, in: Patrologia Latina 197, col. 115-­130 (II, 16).
6 F. STAAB: Aus Kindheit und Lehrzeit Hildegards. Mit einer Übersetzung der Vita ihrer Lehrerin Jutta von Sponheim, in: Hildegard von Bingen. Prophetin durch die Zeiten. Zum 900. Geburtstag, hrsg. von Äbtissin Edeltraud Forster. Freiburg: Herder, S. 70.
7 Ders., ebd., S. 70-71.
8 Sylvain GOUGUENHEIM: La Sybille du Rhin. Hildegarde de Bingen, abbesse et prophétesse rhénane (1966), S. 54-63.
9 F. STAAB: Aus Kindheit und Lehrzeit Hildegards, S. 71.
10 Ders., ebd.
11 Ebd., S. 74-75.
12 Ebd., S. 76.
13 Ebd., S. 77-78.
14 Ebd., S. 78.
15 Vita, S. 125.
16 Ebd., S. 127.
17 Hildegard von Bingen: Briefwechsel (1965), S. 226.
18 Vita, S. 127.
19 Vita, S. 89.
20 Vita, S. 127-128.
21 H. SCHIPPERGES: Die Welt der Hildegard von Bingen, S. 39.
22 Hildegard von Bingen: Briefwechsel (1965), S. 26.
23 Ebd., S. 33.
24 Ebd., S. 163-165.
25 Vita, S. 173.
26 Nach H. SCHIPPERGES: Die Welt der Hildegard von Bingen, S. 61.
27 Ebd., S. 35.
28 Vita, S. 231.
29 E. FORSTER (Hg.): Hildegard von Bingen (1997). Die folgenden Ausführungen fußen ausschließlich auf den Übersetzungen der lateinischen Originaltexte durch M. BÖCKELER, A. FÜHRKÖTTER, P. RIEHTE, H. SCHIPPERGES und J. SCHMIDT­GÖRG, herausgegeben vom Otto Müller Verlag, Salzburg. Sämtliche Werke können dort noch bezogen werden. Die verwendete Sekundärliteratur diente vor allem der Abklärung des derzeitigen Kenntnisstandes der einzelnen Werke.
30 HILDEGARD v. Bingen: Wisse die Wege (1981); Naturkunde (1989); Das Buch von den Steinen (1997); Heilkunde (1957); Der Mensch in der Verantwortung (1972); Welt und Mensch (1965); Briefwechsel (1965); Lieder (1969).
31 HILDEGARD von Bingen: Wisse die Wege, S. 89.
32 A. RESCH: Bewusstseinsformen religiöser Erfahrung (1997), S. 379-418; ders.: Veränderte Bewusstseinszustände (1990).
33 HILDEGARD von Bingen: Wisse die Wege, S. 95.
34 Ebd., S. 132.
35 Ebd., ebd., S. 141-142.
36 Ebd., ebd., S. 156.
37 Dies., ebd., S. 192.
38 Dies., ebd., S. 206.
39 Dies., ebd., S. 349.
40 Dies., ebd., S. 350.
41 Dies., ebd., S. 351.
42 Dies., ebd., S. 365.
43 Vita, S. 268.
44 HILDEGARD von Bingen: Naturkunde, S. 21.
45 Ebd., S. 86; Das Buch von den Steinen (1979).
46 Heinrich SCHIPPERGES: Hildegard von Bingen (1995).
47 G.F. Hertzka: So heilt Gott: die Medizin der heiligen Hildegard von Bingen als neues Naturheilverfahren. Stein (am Rhein): Christiana-Verlag, 1973; Grosse Hildegard-Apotheke. Freiburg i.Br.: Bauer, 1989; Rheuma-, Kur- und Bäderbuch: Hydro-, Physio-, Thermo- und Rheuma-Therapie aus den Medizinbüchern der hl. Hildegard von Bingen. Schienen: Verl. St. Hildegardis, 1997.
48 HILDEGARD von Bingen: Heilkunde, S. 49.
49 Dies., ebd., S. 50.
50 Dies., ebd., S. 69.
51 Dies., ebd., S. 102.
52 Dies., ebd., S. 112-113.
53 Dies., ebd., S. 128-129.
54 Dies., ebd., S. 129.
55 Dies., ebd., S. 204.
56 Dies., ebd., S. 224.
57 Dies., ebd., S. 246.
58 Dies., ebd., S. 310.
59 HILDEGARD von Bingen: Der Mensch in der Verantwortung, S. 27.
60 Dies., ebd., S. S. 27-28.
61 Dies., ebd., S. 135-136.
62 Dies., ebd., S. 285-286.
63 HILDEGARD von Bingen: Welt und Mensch, S. 21.
64 Dies., ebd., S. 25.
65 Dies., ebd., S. 27.
66 Dies., ebd., S. 44-45.
67 Dies., ebd., S. 45.
68 Dies., ebd., S. 317.
69 HILDEGARD von Bingen: Briefwechsel, S. 238.
70 HILDEGARD von Bingen: Lieder, S. 131-132.
71 Dies., ebd., S. 277-278.