In dem zweibändigen Werk Das Unsterblichkeitsproblem1, das als Doktorarbeit angenommen wurde, fasst Gerda Lier die Argumente für und gegen die Unsterblichkeit des Menschen, angefangen von der Physik bis hin zur Mystik, zusammen. Die Autorin hat dafür Jahre hindurch Aussagen aus Wissenschaft, Forschung und Lebenserfahrung gesammelt und zum umfassendsten Werk zusammengefügt, das zu diesem Thema zurzeit auf dem Markt ist. Von schwerer Krankheit getroffen, konnte sie mit letzter Kraft ihre Arbeit noch verteidigen, deren Veröffentlichung aber nicht mehr erleben. Gerda Lier starb am 19. November 2009. Da sie ihre Arbeit nicht mehr persönlich vorstellen kann, möchte ich in diesem Beitrag, in Würdigung ihrer außerordentlichen Sichtung der verschiedenen Standpunkte für und gegen die Unsterblichkeit des Menschen, die wesentlichsten Aussagen der einzelnen Theorien zusammenfassen.
Der Mensch nur Materie oder auch Geist?
Ist das Wesen des Menschen nicht-physikalischer Natur und unterliegt daher nicht dem Verfall oder ist der Mensch ein rein biologisches Wesen und somit vergänglich wie alles Materielle?
Als historische Befürworter der nicht-physikalischen Natur des Menschen nennt Lier den Philosophen Platon (427-347 v. Chr.), den Begründer der griechischen Philosophie, und Plotin (204-270 n. Chr.), den Hauptvertreter des Neuplatonismus.2
Für Platon ist das eigentliche und wahre Wesen des Menschen, seine Seele, nicht in der sinnlich wahrnehmbaren physischen Welt beheimatet, sondern in der transzendenten Welt der Ideen, von der die gesamte physische Welt abhängt. Die Seele ist ein nicht zusammengesetztes und einfaches, unsichtbares, unsterbliches Wesen, das über den Leib herrscht und in das Reich des mit ihr gleichartigen Unsichtbaren, des Göttlichen und Unsterblichen eingeht, wenn es sich in reinem Zustand vom Körper trennt.
Nach Plotin ist die Seele „der Urbeginn der Bewegung und verleiht erst allem anderen Bewegung, während sie selbst sich aus sich selber bewegt; sie gibt dem beseelten Leib erst das Leben, welches sie selbst von sich aus hat und niemals verliert, da sie’s von sich selber hat. Denn nicht alles kann ein nachträglich hinzutretendes Leben haben, sonst geht die Reihe ins Unendliche“. Daher muss es „eine Wesenheit geben, die ursprünglich lebt, welche mit Notwendigkeit unvergänglich, unsterblich sein muss, da sie für die andern der Urgrund des Lebens ist“3.
Diese Ansicht ist in letzter Zeit unter bedeutenden Physikern, wie die weiteren Darlegungen zeigen, wiederum zunehmend auf Interesse gestoßen. Bekanntlich wurde die Vorstellung einer nicht materiellen Steuerung von den Naturwissenschaften in den letzten Jahrhunderten als überholt angesehen, zumal bis in die Gegenwart folgende fünf Grundwahrheiten dominierten:
– Es existiert nur die uns bekannte raumzeitliche Welt; Hinweise auf bzw. Belege für andere Dimensionen und Realitätsebenen sind nicht vorhanden.
– Die Faktizität des Evolutionsprozesses befürwortet den Schluss, dass die Lebewesen ohne Absicht und Plan ausschließlich durch rein mechanistisch-materialistische Prozesse entstanden sind.
– Für die Existenz eines transzendenten Urgrundes der Welt und transzendenter Entitäten gibt es keine vernünftigen Argumente.
– Das Bewusstsein ist ein Produkt des Gehirns und es gibt keine Belege dafür, dass es wie ein Transmitter für ein eigenständiges Bewusstsein wirke. Ebenso wenig gibt es Belege für eine Trennbarkeit des Bewusstseins vom physischen Körper und für eine postmortale Kontinuität des Bewusstseins.
– Schließlich hat die Aufklärung gezeigt, dass die Annahme einer unsterblichen Seele irrational ist.4
Diese Zurückweisung der Unsterblichkeitshypothese lässt sich darauf zurückführen, dass die genannten Grundannahmen im Verlauf des 20. Jahrhunderts allgemein akzeptiert wurden. Die Entwicklung dieser Annahmen begann mit dem spezifischen Gedanken eines René Descartes (1596-1650), dass die physischen Körper der Lebewesen für sich und aus sich selbst heraus zu existieren vermögen und somit keines Lebens-, Organisations-, Wahrnehmungs- und Bewegungsprinzips bedürften. Sie sollten also fähig sein, ohne Seelen zu existieren, auch die menschlichen Körper. Die geistige Substanz, die Seele, könne keineswegs aus den bewegenden Kräften der Materie abgeleitet werden. Sie sei daher vollkommen unabhängig vom Leib und somit unzerstörbar.5
Diese These beurteilte der Staats- und Sozialphilosoph Thomas Hobbes (1588-1679) als selbstwidersprüchlich und so entwickelte er, unter Bezugnahme auf Descartes, das erste in sich geschlossene neuzeitliche materialistische System, beschränkt auf den dreidimensionalen Raum. Der Glaube an ein Weiterleben der Seele nach dem Tode sei nichts anderes als ein heidnisches Relikt. Dennoch hielt Hobbes an der Lehre der Kirche fest, nach der Gott die Gläubigen beim Jüngsten Gericht als strahlende Geist-Körper auferstehen lasse, denn:
„Kann nicht Gott, der durch sein Wort den unbeseelten Staub und Lehm als lebendiges Wesen aufstehen ließ, ebenso leicht einen toten Kadaver aufs Neue zum Leben erwecken?“6
Diesen Widerspruch sieht Lier darin begründet, dass bis zum Ende des 18. Jahrhunderts viele philosophische Werke nur anonym oder postum veröffentlich werden konnten. Schließlich wurde das 1559 eingeführte Bücherverbot erst 1965 bzw. 1966 von Paul VI. abgeschafft. Dieses Verbot betraf auch die Werke von Baruch de Spinoza (1632-1677), für den der Staat vor allem die Freiheit zu schützen habe. Auch für ihn gibt es nur eine Substanz, allerdings nicht die wahrnehmbare Materie der physischen Körper, sondern die unteilbare, ewige und unbeschränkte Substanz. Sie setzt er mit Gott und der hervorbringenden Natur, nicht aber mit der hervorgebrachten Natur gleich:
„In Gott gibt es notwendig eine Idee, die die Wesenheit dieses und jenes menschlichen Körpers unter einer Art Ewigkeit ausdrückt.“7
Zu dieser Auffassung kam er aus eigener Erfahrung, zumal „wir empfinden und erfahren“ können, dass wir ewig sind, und zwar durch die „Liebe zu Gott“8.
Für Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) liegt das eigentliche Wesen der Körper nicht in der Ausdehnung, Größe, Bewegung und Gestalt, sondern in der Kraft, welche die innerste Natur der Körper konstituiert, in individuellen seelenartigen Substanzen, die er Monaden nennt. Dabei ist für Leibniz eine Substanz ein Sein, das der Handlung fähig ist:
„Daher nehme ich an, dass die Seelen, die von Anbeginn der Dinge an in den Samentierchen verborgen liegen, nicht vernünftig sind, bis sie durch die Empfängnis zum menschlichen Leben bestimmt werden. Sind sie aber einmal vernünftig gemacht und des Bewusstseins und der Gemeinschaft mit Gott fähig geworden, so legen sie meiner Meinung nach nie den Charakter eines Bürgers des Staates Gottes ab, und da dieser Staat auf die schönste und gerechteste Weise regiert wird, so ist es nur vernunftgemäß, dass die Seele wegen des Parallelismus zwischen den Reichen der Natur und der Gnade durch die Naturgesetze selbst kraft ihrer eigenen Handlungen zur Belohnung und Züchtigung passender gemacht wird. Und in diesem Sinne kann man allerdings sagen, dass die Tugend ihren Lohn, das Laster seine Strafe in sich trage, weil durch eine gewisse Folge sich für den letzten natürlichen Zustand der Seele, je nachdem dieselbe entsühnt oder nicht entsühnt abscheidet, eine Art Scheidewand erhebt, die von Gott im voraus in der Natur eingerichtet ist und den göttlichen Verheißungen und Drohungen, also der Gnade und der Gerechtigkeit entspricht, wozu auch noch, je nach dem wir uns einem von beiden zugesellt haben, die Vermittlung durch die guten und bösen Handlungen der Genien kommt, deren Tätigkeit durchaus natürlich ist, wenn auch ihre Natur durchaus erhabener ist als die unsere.“9
Für Francis Bacon (1561-1626), einen der Mitbegründer der modernen Naturwissenschaft, ist die experimentelle Wissenschaft von göttlicher Hilfe begleitet, weshalb ihre Aufgabe darin besteht, die „pneumatische“, „geistige Materie“ zu untersuchen, wobei die Frage der „Unsterblichkeit keine Frage der Wahrnehmung“ sei, sondern der Offenbarung:
„Glaube mir, das allersüßeste Lied ist, nunc dimittis, wenn ein Mensch würdige Ziele und Hoffnungen erreicht hat.“10
Auch für Isaac Newton (1643-1727), den Begründer der klassischen Mechanik, gibt es „geistige“ Entitäten. In seinem Hauptwerk Philosophiae naturalis11 spricht er von einem äußerst feinen, die groben Körper durchdringenden und ihnen verborgenen spiritus, durch den die Gliedmaßen der Lebewesen entsprechend ihrem Willen bewegt werden.
Demgegenüber behaupten Julien Offray de La Mettrie (1709-1751)12 und seine materialistischen Nachfolger, dass es keine unkörperlichen geistigen Substanzen gebe, sondern dass sich alles aus dem physischen Körper entwickelt habe. Auch das Denken sei lediglich eine Eigenschaft der Materie, deren Wesen allerdings unbekannt sei.
Noch radikaler drückt sich Paul-Henri Thiry d’Holbach (1723-1789) in seinem System de la Nature aus:
„Wenn wir unsere Seele oder die Triebfeder, die in uns selbst wirkt, ohne Vorurteile betrachten, so werden wir zu der Überzeugung gelangen, dass sie zu unserem Körper gehört, dass sie von ihm nur durch Abstraktion unterschieden werden kann, dass sie nur der Körper selbst ist, betrachtet im Hinblick auf einige seiner Funktionen, die er seiner besonderen Natur und Gestaltung verdankt.“13
Es mag überraschen, dass sich die großen französischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts wie Voltaire (1694-1778) und d’Alembert (1717-1783) von einem solchen atheistischen Materialismus distanzierten. Wie ihnen ging es auch den anderen großen Aufklärern in Europa nicht um die Propagierung des Materialismus und die Verneinung der Unsterblichkeit, sondern um Toleranz, Liberalität, Meinungsfreiheit, Gerechtigkeit und eine generelle Befreiung „des Denkens der Bevormundung“.
Immanuel Kant (1724-1804) zeigt in seiner Kritik der Reinen Vernunft, dass sich die Existenz einer „intellektuellen“ Substanz, einer unsterblichen Seele, einer transzendenten Wirklichkeit und eines göttlichen Wesens nicht zwingend beweisen lässt, sah sich aber in seiner Kritik der Praktischen Vernunft genötigt, eine transzendente geistige Welt unter einem weisen Urheber und Regenten anzunehmen, samt dem Leben in einer solchen Welt, die wir als eine künftige ansehen müssen:
„Die völlige Angemessenheit des Willens aber zum moralischen Gesetze ist Heiligkeit, eine Vollkommenheit, deren kein vernünftiges Wesen der Sinnenwelt in keinem Zeitpunkt seines Daseins fähig ist. Da sie indessen gleichwohl als praktisch notwendig gefordert wird, so kann sie nur in einem ins Unendliche gehenden Progressus zu jener völligen Angemessenheit angetroffen werden, und es ist nach Prinzipien der reinen praktischen Vernunft notwendig, eine solche praktische Fortschreitung als das reale Objekt unseres Willens anzunehmen.“14
Diese Gewissheit wurde Mitte des 19. Jahrhunderts radikal in Frage gestellt, als der Mensch definitiv als ein bloßes Zufallsprodukt rein mechanischer Geschehnisse hingestellt wurde.
Evolution und Zufall
1859 veröffentlichte Charles Darwin (1809-1882) sein Hauptwerk On the Origin of Species15, in dem er die gemeinsame Abstammung aller Lebewesen durch Evolution, die Artenbildung als Populationsphänomen und die natürliche Selektion als rein materialistisch-mechanistische Erklärung des gesamten Evolutionsprozesses vertrat. Zwar blieb die Ablehnung dieser rein naturalistischen Erklärung des gesamten Evolutionsprozesses in der Biologie bis in die zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts aufrecht. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich jedoch innerhalb kurzer Zeit eine Gruppe von Biologen mit der Aussage durch, dass die Mehrheit der Biologen die natürliche Auslese als einzigen richtungsweisenden Mechanismus in der Evolution akzeptiere. In diesem Sinne wird zudem behauptet, dass es kein eigenständiges „spirituelles Element“, keine unsterbliche Seele und damit auch keine postmortale Kontinuität des Bewusstseins geben könne.
Diese Gedankengänge wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch Ernst Haeckel (1834-1919) und den einflussreichen Wilhelm Ostwald (1853-1932) zu einem wissenschaftlichen Dogma erhoben. So sagt Haeckel:
„Die vorhergehenden Untersuchungen, die durch viele andere Ergebnisse der modernen Wissenschaft ergänzt werden können, haben das alte Dogma von der ‚Unsterblichkeit der Seele‘ als völlig unhaltbar nachgewiesen; dasselbe kann im 20. Jahrhundert nicht mehr Gegenstand ernster wissenschaftlicher Forschung, sondern nur noch transzendenten Glaubens sein.“16
Die breite Annahme dieser Verneinung der Unsterblichkeit wurde vor allem durch die plakative Negation des Transzendenten in den von Friedrich Nietzsche (1844-1900)17 und Bertrand Russel (1872-1970) vertretenen Thesen gefördert. Für Nietzsche stellt der Darwinismus die letzte große wissenschaftliche Bewegung dar. Der Zufall sei das Wesentliche an jeder Erfindung, da es in der Realität keinen Zweck und kein letztes Ziel gebe:
„Diese Welt: ein Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang, ohne Ende, eine feste, eherne Größe von Kraft, welche nicht größer, nicht kleiner wird, die sich nicht verbraucht, sondern nur verwandelt, als Ganzes unveränderlich groß, ein Haushalt ohne Ausgaben und Einbußen, ebenso ohne Zuwachs, ohne Einnahmen, von ‚Nichts‘ umschlossen als von seiner Grenze … ein Meer in sich selber stürmender und flutender Kräfte, ewig sich wandelnd, ewig zurücklaufend, mit ungeheuren Jahren der Wiederkehr … diese meine dionysische Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstörens, diese Geheimnis-Welt der doppelten Wollüste, dies mein ‚Jenseits von Gut und Böse‘, ohne Ziel, wenn nicht im Glück des Kreises ein Ziel liegt … Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem!“18
Daher sei der Krieg aller gegen alle zu führen und dem Stärkeren das Vorrecht zu geben. Diese Thesen wirkten sich schon im Ersten Weltkrieg verheerend aus, zogen doch viele Soldaten mit den Schriften Nietzsches in den Krieg und förderten so weitere Verbrechen im 20. Jahrhundert.
Nach Nietzsche wurde dieses rein naturalistische Weltbild, wie erwähnt, vor allem von dem Mitbegründer der analytischen Philosophie und Literaturpreisträger (1950) Bertrand Russel propagiert. So schreibt dieser in einem heute noch vielzitierten Absatz eines Essays von 1903, es sei nahezu sicher, dass der Mensch wegen der Zufälligkeit seines Ursprungs, seiner Vergänglichkeit und des Untergangs unseres Sonnensystems in einer sinn- und zwecklosen Welt lebe. Dies hinderte ihn nicht daran, in seinem letzten Essay 1967 zu betonen, dass die Erde schnell zum Paradies werden könnte, wenn liberale Auffassungen vertreten und die Überlegenheit der Kooperation gegenüber der Konkurrenz bejaht würden.19
Desgleichen vertritt der Hauptvertreter des logischen Empirismus und führende Kopf des „Wiener Kreises“, Rudolf Carnap (1891-1970), der zur Vaterfigur der empirischen und analytischen Philosophie in den USA wurde, die Auffassung, dass die Grundsätze der traditionellen Metaphysik ohne jeden kognitiven Gehalt seien und das Naturgeschehen auch ohne Gott und den Glauben an die Unsterblichkeit als Weiterleben einer persönlichen bewussten Seele erklärbar sei.20
Aus diesem Grunde werden auch die paranormalen Erfahrungen, die Arthur Schopenhauer (1788-1860) aus philosophischer Sicht für die wichtigsten Erfahrungen überhaupt hält21 und mit denen sich William James (1842-1909)22 Jahrzehnte hindurch beschäftigte, kaum mehr beachtet.
Behaviorismus
Aus Angst vor dem „metaphysischen Unsinn“ wird in der akademischen Psychologie der USA der Behaviorismus, der nur noch das Verhalten beschreibt, keine Seele und kein transzendentes Bewusstsein mehr kennt, zur stärksten Kraft. Und der Hauptvertreter des englischen logischen Positivismus, Alfred J. Ayer (1910-1989)23, der wie Carnap und Skinner stark von Russel und dem „Wiener Kreis“ beeinflusst wurde, sagt, dass die Unsterblichkeitshypothese nicht einmal mehr denk- und vorstellbar sei. Ja, sogar der bedeutende Philosoph John R. Searle (*1932), der für eine „Wiederentdeckung des Geistes“ argumentiert, behauptet, dass wir mit der gleichen Sicherheit, mit der wir wissen, dass sich in unserem Schädel ein Gehirn befindet, auch sicher wissen, dass Hirnvorgänge das Bewusstsein in all seinen Formen verursachen.24 Diese Reduzierung des Menschen auf das Vergängliche allen Seins führte dazu, dass sogar Theologen für eine Ganztodtheologie eintreten. So schrieb der Theologe Oskar Cullmann 1962:
„Wenn wir heute einen Durchschnittschristen, sei er Protestant oder Katholik, Intellektueller oder nicht, fragen, was das Neue Testament über das individuelle Los des Menschen nach dem Tode lehrt, so werden wir von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Antwort erhalten: ‚Die Unsterblichkeit der Seele‘. In dieser Form ist diese Meinung eines der größten Missverständnisse des Christentums.“25
Dass in der Physik, an die sich die Psychologen, Biologen und die szientistisch geprägten Philosophen anpassen wollen, bereits eine ganz andere Entwicklung begonnen hatte, wurde nicht wahrgenommen. Sagte doch schon der große Mathematiker und Astrophysiker James Jeans (1877-1946), dass die Phänomene des Raum-Zeit-Kontinuums vierdimensionale Projektionen von Wirklichkeiten sind, die mehr als vier Dimensionen einnehmen, sodass „Vorgänge in Raum und Zeit“ zu bloßen Schattenbildern werden.26
Nach diesen einführenden Bemerkungen tritt Lier den Beweis an, „dass es im Gegensatz zur landläufigen Meinung nicht ein einziges stringentes Argument gegen die Unsterblichkeitshypothese gibt und andererseits die Argumente, die dafür sprechen, zumindest erheblich stärker sind, als allgemein angenommen wird“27.
Mathematische, physikalische und naturphilosophische Aussagen
Vom mathematischen, physikalischen und naturphilosophischen Standpunkt aus ist die Unsterblichkeitsproblematik nur dann ein mögliches Thema, wenn neben der bekannten raumzeitlichen Realitätsebene auch höhere Dimensionen vorstellbar sind. Diese Vorstellungen sind zwar reichlich vorhanden, doch wird man bis zum heutigen Tag mit der Erfahrung konfrontiert, dass, wer in der breiten Öffentlichkeit erklärt, es könnte hinter den raumzeitlichen Phänomenen vielleicht höhere Dimensionen geben, immer noch mit Spott und Karriereverlust rechnen muss. Dessen ungeachtet ist die diesbezügliche Diskussion bereits in vollem Gang und nicht nur für die moderne Physik unerlässlich.
a) Raumphilosophie
Die erste eigenständige Raumphilosophie in unserem Kulturkreis hat, wie schon erwähnt, Platon entwickelt. Nach ihm existiert die sinnlich wahrnehmbare raumzeitliche Welt nicht eigenständig, sondern nur durch ihre Teilhabe an dem wahren Sein, der Welt der Ideen (Tim. 51b, d; 52a).
Der Humanist Marsilius Ficinus (1433-1499), der die Schriften Platons und der Neuplatoniker übersetzte, spricht von einer Alleinheit des Wirklichen, das hierarchisch in fünf Stufen geordnet ist: Materie, Qualität, Seele, Engel und Gott. Dabei steht der Mensch in dreifacher Weise mit dem Universum in Verbindung, mit seinem Geist mit der höheren geistigen Welt, mit seiner Seele mit der Weltseele und mit seinem Körper mit der Natur.28 Auf seine Anregung hin konzipierte später Tommaso Campanella (1568-1639) eine Weltschichtenlehre, bestehend aus der archetypischen (mundus archetypus), der geistigen (mundus mentalis), der mathematischen (mundus mathematicus), der materiellen (mundus materialis) und der Bezugswelt (mundus situalis). Diese fünf Welten schließen sich wechselseitig ein und durchdringen sich. Dabei ist der Raum in Gott, während Gott durch den Raum nicht eingegrenzt wird.29
Auch der Cambridger Platoniker Henry More (1614-1687) entwickelte eine höherdimensionale Raumvorstellung, bei welcher der Geist durch eine vierte Dimension des Raumes auf die Materie wirkt. Zudem gibt es eine ausgedehnte Substanz von viel größerer Feinheit als der Körper (auch Divine Amplitude, Göttliche Schwingung genannt), welche die gesamte Materie durchwaltet, aber nicht von ihr abhängt.30
Die Bedeutung von Campanella und More liegt insbesondere auch in ihrer Wirkung auf Newton, Locke, Leibniz und andere bedeutende Denker. Zwar hat keiner von ihnen eine höherdimensionale Raumtheorie entwickelt, doch werden nach Isaac Newton (1643-1727) die Körper von einem verborgenen Geist durchdrungen.31
Cardano, Descartes, Pascal und Leibniz hingegen lehnen eine vierte Dimension ab. Auch Immanuel Kant argumentiert unter dem Einfluss der englischen Empiristen, dass Raum und Zeit die notwendigen Bedingungen aller Erfahrungen sind, und rückt damit von seinem früheren Gedanken einer Mehrdimensionalität des Raumes (1747) ab.32
Unter diesem Einfluss wagte nicht einmal Carl Friedrich Gauß (1777-1855) seine Überzeugung von der Unvollständigkeit der euklidischen Geometrie zu veröffentlichen. Er war sogar der Ansicht, dass es Wesen geben könnte, die fähig sind, Räume von vier oder einer größeren Anzahl von Dimensionen wahrzunehmen, und hoffte in einem anderen Leben tiefere Einsichten in das Wesen des Raumes zu erlangen.33 Zur Förderung dieser Gedanken beauftragte er seinen Schüler Georg Friedrich Bernhard Riemann (1826-1866), seinen Habilitationsvortrag „Über die Hypothesen, welche der Geometrie zugrunde liegen“ auszuarbeiten. Riemann wies daraufhin 1854 nach, dass die höherdimensionalen Räume einer inneren Logik gehorchen und in sich schlüssig sind. Damit begann die neue Ära der Geometrie höherdimensionaler Räume.34
b) Die Experimente von Friedrich Zöllner
Die Reaktion war entsprechend und endete in einem Skandal. In den Jahren 1877 und 1878 führte Friedrich Zöllner (1834-1882), Ordinarius an der Universität Leipzig, bei ihm zu Hause in Leipzig mit dem amerikanischen Medium Henry Slade (1836-1905) Experimente durch, um den Beweis der vierten Dimension zu erbringen. Als Teilnehmer fungierten u.a. die Professoren G.T. Fechner (Physik und Physiologie), Ludwig (Physiologie), Scheibner (Mathematik) und Wilhelm Weber (Physik). Nachdem bei verschiedenen Versuchen aus der Sicht Zöllners und seiner Kollegen Betrugsmöglichkeiten definitiv ausgeschlossen und dennoch positive Ergebnisse erzielt wurden, erklärte Zöllner, Beweise für die vierte Dimension erhalten zu haben. Zu dem Skandal kam es, weil behauptet wurde, die angeblichen Versuchsergebnisse Zöllners ließen sich durch billige Taschenspielertricks hervorrufen. Zöllner wurde der Lächerlichkeit preisgegeben, die Universität sei durch einen Spiritisten entwürdigt worden, den beteiligten Professoren sollte man die Lehrbefugnis entziehen.35
Physiker, die sich mit höheren Dimensionen befasst hatten, distanzierten sich nun von früheren Aussagen, so auch Hermann von Helmholtz (1821-1894) und Ernst Mach (1838-1916).36 Eine sachliche Diskussion über die reale Existenz höherdimensionaler Räume war nach diesem „angeblichen Skandal“ in der Physik für Jahrzehnte kaum noch möglich. Selbst in der „Speziellen Relativitätstheorie“ Einsteins galt das Raum-Zeit-Kontinuum noch als euklidisch oder pseudo-euklidisch. Die Bedeutung der Riemannschen Geometrie wurde in der Physik erst erkannt, als Einstein das physikalische Prinzip der Allgemeinen Relativitätstheorie entdeckte und mit der Riemannschen Geometrie in eine schlüssige Form brachte.37
c) Mehr Dimensionen
Die erste bedeutsame fünfdimensionale physikalische Theorie, ebenfalls basierend auf der Riemannschen Geometrie, entwickelte dann der Mathematiker Theodor Kaluza, indem er Einsteins vierdimensionale Feldgleichung für die Schwerkraft, die Gravitation, um eine zusätzliche räumliche Dimension erweiterte und somit in fünf Dimensionen formulierte. Die damals bekannten Grundkräfte der Natur, Gravitation und Elektromagnetismus, sind demnach Teile eines größeren Ganzen. Die Theorie wurde kaum beachtet, auch wegen der (bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts vorherrschenden) grundsätzlichen Aversion vieler Physiker gegen höherdimensionale Theorien.
Der Widerspruch zwischen der Allgemeinen Relativitätstheorie und der Quantentheorie blieb jedoch bestehen. Einzeln genommen bewähren sie sich, werden sie aber zusammengefügt, so ergeben sie, wie Edward Witten bemerkt, „Unsinn“. Der Unsinn besteht nach Witten darin, dass unendliche Rechenergebnisse auftreten.38 So sind immer mehr Physiker der Ansicht, dass mit einer vierdimensionalen Theorie die Kräfte des Universums nicht angemessen beschrieben werden können.
Mathematik
Man besann sich nun auf die Mathematik, hatte doch schon Plato darauf verwiesen, dass die Mathematik die natürliche Sprache der Naturwissenschaft sei. Schließlich steht auch in der Bibel „Du aber hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet“ (Weish 11,20).
So war der große Mathematiker Kurt Gödel (1906-1978) davon überzeugt, dass die platonische Philosophie seine revolutionären mathematischen Kenntnisse ermöglicht habe. Er widmete sich Jahre hindurch der Aufgabe, nachzuweisen, dass sein Unvollständigkeitssatz 39 eine nichtmaterielle Realität impliziere. Der Satz zeigt die Grenzen der formalen Systeme ab einer bestimmten Mächtigkeit auf und weist nach, dass es in hinreichend mächtigen Systemen (wie der Arithmetik) Aussagen gibt – und geben muss – , die man weder formal beweisen noch widerlegen kann 40, wie etwa bei der Wellennatur der Quantenmechanik. Eine Welle im Sinne der Quantenphysik darf man sich nämlich nicht stofflich vorstellen wie eine Wasserwelle. Sie steht vielmehr für eine mathematische Beschreibung physikalischer Vorgänge. Da z.B. das Verhalten eines Photons nicht präzise vorhergesagt werden kann, gibt die Welle die Wahrscheinlichkeit an, mit der es auf eine bestimmte Stelle am Schirm treffen wird. An den hellen Stellen ist die Wahrscheinlichkeit größer, an den dunklen Stellen ist sie kleiner. Das Photon selbst weiß nicht, an welchem Ort es auftreffen wird. Erst im letzten Moment entscheidet der sog. Zufall (d.h. eine unbekannte Wirkkraft). Daher spricht man in der Quantenmechanik auch von zwei Prinzipien, dem Zufallsprinzip und dem Wellenprinzip.
Erst durch den Messvorgang wird der Ort des Auftreffens festgelegt, und zwar durch den Zufall. Es könnte auch ein anderer Ort sein. Der Aufenthaltsort hat keinen fixen Wert, er ist unscharf und kann nur durch eine statistische Wahrscheinlichkeit festgelegt werden. Das kommt daher, dass das Photon neben seiner Information über seinen Ort auch eine Information über seine Bewegung mit sich trägt, das heißt über seinen Impuls, der durch eine Sinuswelle dargestellt wird. Verschiedene mögliche Impulse eines Photons werden durch unterschiedliche Wellenlängen beschrieben. Da sich verschiedene Sinuswellen verstärken oder auslöschen, ergibt sich insgesamt eine Welle, die auf einen kleinen Bereich beschränkt ist, ein sogenanntes Wellen-Paket. Es ist dieselbe Welle mit der auch die Wahrscheinlichkeit seines Aufenthaltsortes angegeben wird. Damit offenbart sich ein Zusammenhang zwischen Ort und Impuls.
Ein breites Wellenpaket wird von wenigen Sinuswellen geformt, weshalb seine Information über den Impuls genauer und sein Wert schärfer ist. Gleichzeitig steht eine breite Welle für viele Aufenthaltsorte des Photons und damit für eine größere Ortsunschärfe. Im Gegensatz dazu wird ein schmales Wellenpaket von vielen Sinuswellen geformt, weshalb die Information über den Impuls unscharf bleibt, der Wert des Ortes aber schärfer ist. Ort und Impuls stehen also in einer direkten Wechselbeziehung. Je schärfer die eine Größe, desto unschärfer ist die andere. Deshalb zeigt sich auch das Wellenmuster nicht, wenn der Ort gemessen wird, und erscheint wieder, wenn nicht gemessen wird. Die Wellennatur bestätigte sich nicht nur bei Photonen, sondern auch bei normaler Materie, der Ebene der kleinsten Elemente, den Atomen.
Aus diesen Versuchen folgt nun, dass das Verhalten der kleinsten Materieteilchen davon abhängt, ob wir sie beobachten, was unsere Vorstellung von Realität zutiefst in Frage stellt. Denn nach unserer Logik sollte die Welt völlig unabhängig von uns existieren, und warum bemerken wir nichts davon in unserem Alltag? Diese Frage stellte sich auch Albert Einstein, der die Wahrscheinlichkeitsinterpretation der Quantentheorie vehement ablehnte und ad absurdum zu führen suchte, indem er fragte, ob der Mond denn nicht da wäre, wenn keiner hinsieht. Er vermutete, dass die Quantenmechanik nicht die vollständige Beschreibung der Natur ist, sondern dass versteckte Variablen hinter der Wellenfunktion stecken. Diese Ansicht unterstrich er mit dem berühmten Satz: „Gott würfelt nicht.“
Nach den vorliegenden Messungen in diesem Zusammenhang sieht man jedoch noch keine versteckten Variablen, die mehr Information über den Ort des Teilchens liefern als die Wellenfunktion, die für eine genaue Ortsbestimmung des Teilchens zu unscharf und für die Praxis daher als ungeeignet empfunden wurde. Den Ausweg fixierte man in der sog. Kopenhagener Deutung, die schließlich zum Dogma der wissenschaftlichen Arbeit und des offiziellen Denkens in der Physik werden sollte.
a) Die Kopenhagener Deutung
Diese sog. Kopenhagener Deutung geht auf eine Formulierung von Niels Bohr und Werner Heisenberg während ihrer Zusammenarbeit um 1927 in Kopenhagen zurück, die jedoch eigentlich auf der von Max Born in Göttingen vorgeschlagenen Wahrscheinlichkeitsinterpretation der Wellenfunktion in der Quantenmechanik basiert. Max Born erhielt dafür den Nobelpreis. In Kopenhagen wurde an der Schule von Bohr diese Interpretation dann von W. Heisenberg, E. Schrödinger und anderen weiterentwickelt und interpretiert.
Nach der Kopenhagener Deutung befindet sich das Teilchen nicht an einem bestimmten Ort, sondern gleichzeitig an allen Orten, an denen die Wellenfunktion nicht gleich Null ist. Erst im Moment einer Ortsmessung bricht die Wellenfunktion zusammen und es entsteht ein Teilchen an einer bestimmten Stelle. Dieser „Kollaps“ der Teilchenwelle ist umstritten. Man kommt in vielen Fällen auch zu richtigen Ergebnissen, ohne einen Zusammenbruch der Wellenfunktion annehmen zu müssen. Für die praktische Anwendung ist dieser „Kollaps“ aber sehr hilfreich, da er das Weiterrechnen vereinfacht.
Aus diesem Grund verzichtet die Kopenhagener Deutung aus rein pragmatischen Gründen darauf, den Objekten des quantentheoretischen Formalismus, also vor allem der Wellenfunktion, eine Realität in unmittelbarem Sinne zuzusprechen. Stattdessen werden die Objekte des Formalismus lediglich als Mittel zur Vorhersage der Wahrscheinlichkeiten von Messergebnissen interpretiert, die als die einzigen Elemente der Realität angesehen werden. Damit wurde jeder metaphysischen Deutung ein Riegel vorgeschoben.41
Diese Beschränkung auf Messresultate hat auf dem Gebiet der Naturwissenschaften zu der „Errungenschaft“ geführt, dass man jede andere Denkform bis heute als unwissenschaftlich hinstellt. Albert Einstein, Max Planck, Max von Laue, Erwin Schrödinger und Louis de Broglie waren zwar entschiedene Gegner dieser Deutung, der Großteil der heutigen Physiker aber teilt diese Bedenken nicht.42 Für den praktischen Physiker reicht es aus, sich an die völlig unumstrittenen mathematischen Gleichungen zu halten, obwohl es aus quantenmechanischer Sicht keine durchgängig existierende objektivierbare Welt gibt, wie wir oben dargelegt haben und wie dies auch Hans Peter Dürr, der langjährige Direktor des Max-Plank-Instituts für Physik in München, betont:
„Aus quantenmechanischer Sicht gibt es […] keine zeitlich durchgängig existierende objektivierbare Welt, sondern diese Welt ereignet sich gewissermaßen in jedem Augenblick neu. Die Welt erscheint hierbei als eine Einheit, als ein einziger Zustand, der sich nicht als Summe von Teilzuständen deuten lässt. Die Welt ,jetzt‘ ist nicht mit der Welt im vergangenen Augenblick substantiell identisch. Aber die Welt im vergangenen Augenblick präjudiziert die Möglichkeiten zukünftiger Welten auf solche Weise, dass es bei einer gewissen vergröberten Betrachtung so scheint, als bestünde sie aus Teilen und als bewahrten bestimmte Erscheinungsformen, zum Beispiel Elementarteile/Atome, ihre Identität in der Zeit.“43
b) Die Synthetische Theorie
Ganz im Sinne der Kopenhagener Deutung lehnt auch die Mitte des 20. Jahrhunderts aus der Selektionstheorie Darwins entwickelte Synthetische Theorie alle nicht-naturalistischen Erklärungen ab. Der Evolutionsprozess als Veränderung von Genfrequenzen in Populationen wird rein naturalistisch-mechanistisch erklärt. Ulrich Kutschera, einer der einflussreichsten Vertreter der Synthetischen Theorie in Deutschland, sagt daher:
„Die Synthetische Theorie liefert, ohne Alternative, den einzig plausiblen Mechanismus zur kausalen (natürlichen) Erklärung der Stammesentwicklung der Organismen der Erde. Die Evolutionstheorie hat daher heute denselben Stellenwert wie die Atomtheorie in der Physik oder das Periodensystem der Elemente in der Chemie: Sie bilden die gesicherte Grundlage der modernen Biologie.“44
Mit dieser naturalistischen Erklärung des Evolutionsprozesses ist allerdings noch nichts über dessen Verursachung gesagt – ganz im Gegensatz zu Darwin, der sein Werk On the Origin of Species wie folgt beendet:
„Es ist wahrlich etwas Erhabenes um die Auffassung, dass der Schöpfer den Keim allen Lebens, das uns umgibt, nur wenigen oder gar nur einer einzigen Form eingehaucht hat und dass, während sich unsere Erde nach den Gesetzen der Schwerkraft im Kreise bewegt, aus einem so schlichten Anfang eine unendliche Zahl der schönsten und wunderbarsten Formen entstand und noch weiter entsteht.“45
Auch Alfred Russel Wallace (1823-1912), der große Zoologe und Mitentdecker der natürlichen Auslese, den Darwin außerordentlich schätzte, gelangte zur Auffassung, dass rein naturalistische Vorgänge nicht hinreichen, um den Evolutionsprozess erklären zu können. Die Entstehung des Lebens, des Empfindens, des Bewusstseins und höherer künstlerischer und experimenteller Fähigkeiten deuten, nach seinem Ermessen, darauf hin, dass höhere Intelligenzen die Hauptlinien der Evolution nach bewussten Absichten und Zwecken geleitet hätten.46
So sagt der Physiker, Biophysiker und Molekularbiologe Alfred Gierer (*1929), dass man positivistisch auf alle Aussagen verzichten kann, die „nicht durch (naturwissenschaftliche) Erfahrung und Logik zu erhärten sind. Damit werden aber Grundfragen der menschlichen Existenz dem Denken völlig entzogen und nur noch dem Gefühl überlassen; es fragt sich, ob man das wirklich will“47.
Hier scheint, nach Gierer, der Weg jenseits der Grenzen formalen Denkens der Wahrheit näherzukommen. Der Gewinn liegt jedenfalls in der Erweiterung des Blickfeldes, die zumindest in drei Kernaussagen der philosophia perennis, den Grundwahrheiten philosophischen Denkens, zum Ausdruck kommt:
– Die materielle Welt der Phänomene, wie wir wie sie kennen, ist Teil einer größeren Wirklichkeit. Ihr unterliegt ein allumfassender Grund, der wirklicher ist als die äußere Welt.
– Der Mensch kann diesen Grund nicht nur logisch erfassen und erfahren, sondern darüber hinaus mit ihm eins werden.
– Der Mensch besteht nämlich nicht nur aus seinem physischen Körper, sondern ihm wohnt ein ewiges wahres Selbst inne, das am Weltengrund teilhat und ein derartiges Erleben ermöglicht.48
Zur Erläuterung dieser Innenschau vergleicht die Philosophin und einstige Mitarbeiterin des Instituts für Grenzgebiete der Wissenschaft (IGW), Gerda Walther (1897-1977), das Innewerden mit einem göttlichen Geisteslicht, das als dem göttlichen Geist des Menschen verwandt erlebt wird. Eine Gewähr für den göttlichen Ursprung dieses geistigen Einfalles liegt „dann vor, wenn das göttliche Geisteslicht oder der göttliche Liebesstrom oder ihre Zweieinheit selbst die betreffende Mitteilung als ihren inneren Sinn [ihr ,Noema‘] in sich tragen, so dass der sie erlebende Mensch ihn unmittelbar aus ihnen entnehmen kann“49.
Dimensionen des Bewusstseins
Die entscheidende Diskussion zum Unsterblichkeitsproblem spielt sich in der Beurteilung des Bewusstseins ab.
Alle Neuro- und Kognitionswissenschaftler, Psychologen und Philosophen, die in der Öffentlichkeit präsent sind, vertreten mit Vehemenz die These, dass Bewusstsein vom Gehirn hervorgebracht wird. Ja, sie fordern die Gesellschaft teilweise geradezu auf, daraus die entsprechenden weltanschaulichen Konsequenzen zu ziehen. Dabei haben, wie bereits angedeutet, schon vor mehr als hundert Jahren so bedeutende Denker wie William James, F.W.H. Myers und Henri Bergson in Anlehnung an Kant und die idealistische Philosophie darauf aufmerksam gemacht, dass sich alle beobachtbaren Bewusstseinsphänomene zumindest genauso gut, wenn nicht besser, erklären lassen, wenn angenommen wird, dass das Gehirn das Bewusstsein nicht erzeugt, sondern stattdessen nur wie ein Transmitter und Filter wirkt.
James machte darauf aufmerksam, dass zwischen Bewusstseins- und Gehirnvorgängen, „strikt naturwissenschaftlich“ gesehen, gar keine Verursachungen nachweisbar sind, sondern nur funktionale Abhängigkeiten.50
Ja, selbst die elf führenden Neurowissenschaftler, die in ihrem Manifest über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung die Behauptung aufstellen, dass man in den nächsten 20 bis 30 Jahren Geist, Bewusstsein, Gefühle, Willensakte und Handlungsfreiheit widerspruchsfrei als natürliche Vorgänge werde ansehen können, da sie auf biologischen Prozessen beruhten, gestehen ein, dass eine vollständige Erklärung des menschlichen Gehirns nicht erreicht werde. Die einzelnen Gehirne organisierten sich nämlich aufgrund genetischer Unterschiede und nicht reproduzierbarer Prägungsvorgänge durch Umwelteinflüsse, individuelle Bedürfnisse und einem individuellen Wertsystem folgend. Das mache es generell unmöglich, durch Erfassen von Gehirnaktivität auf die daraus resultierenden psychischen Vorgänge eines Individuums zu schließen. So bleibe die Eigenständigkeit der „Innenperspektive“ bestehen:
„Selbst wenn wir irgendwann einmal sämtliche neuronalen Vorgänge aufgeklärt haben sollten, die dem Mitgefühl beim Menschen, seinem Verliebtsein oder seiner moralischen Verantwortung zugrunde liegen, so bleibt die Eigenständigkeit dieser ,Innenperspektive‘ dennoch erhalten. Denn auch eine Fuge von Bach verliert nichts von ihrer Faszination, wenn man genau verstanden hat, wie sie aufgebaut ist. Die Hirnforschung wird klar unterscheiden müssen, was sie sagen kann und was außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs liegt, so wie die Musikwissenschaft – um bei diesem Beispiel zu bleiben – zu Bachs Fuge Einiges zu sagen hat, zur Erklärung ihrer einzigartigen Schönheit aber schweigen muss.“51
In einem Kommentar zu den Aussagen der elf Neurowissenschaftler meint daher der Direktor am Max Plank-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in München, Wolfgang Prinz:
„Was die Beziehung zwischen Gehirnprozessen und Bewusstsein betrifft, wissen wir de facto also nicht einmal, wie wir die Frage genau stellen sollen… Denn ebenso wenig wie sich Gehirnfunktionen auf Physik und Chemie reduzieren lassen, lassen sich soziale und kulturelle Phänomene auf Hirnphysiologie zurückführen.“52
In diesem Zusammenhang sind auch die Aussagen von Johannes Brahms (1833-1897), die dieser kurz vor seinem Tod über Bewusstseinszustände beim Komponieren Arthur M. Abell (1868-1958) gegenüber gemacht hat, von eindrucksvoller Anschaulichkeit. Die Aussagen entstammen einem dreistündigen Gespräch, das Abell im Spätherbst 1896 im Beisein eines zweisprachigen Stenografen und des Violine-Virtuosen Joseph Joachim mit Brahms unter der Bedingung führen konnte, sie erst fünfzig Jahre nach dessen Tod zu veröffentlichen:
„Wenn ich den Drang zu komponieren in mir spüre, wende ich mich zunächst direkt an meinen Schöpfer […] Ich spüre unmittelbar danach Schwingungen, die mich ganz durchdringen. Sie sind der Geist, der die inneren Seelenkräfte erleuchtet, und in diesem Zustand der Verzückung sehe ich klar, was bei meiner üblichen Gemütslage dunkel ist; dann fühle ich mich fähig, mich wie Beethoven von oben inspirieren zu lassen. Vor allem wird mir in solchen Augenblicken die ungeheure Bedeutung der höchsten Offenbarung Jesu bewusst: ‚Ich und der Vater sind eins!‘ Diese Schwingungen nehmen die Form bestimmter geistiger Bilder an, nachdem ich meinen Wunsch und Entschluss bezüglich dessen, was ich möchte, formuliert habe, nämlich inspiriert zu werden, um etwas zu komponieren, was die Menschheit aufrichtet und fördert – etwas von dauerhaftem Wert.
Sofort strömen die Ideen auf mich ein, direkt von Gott; ich sehe nicht nur bestimmte Themen vor meinem geistigen Auge, sondern auch die richtige Form, in die sie gekleidet sind, die Harmonien und die Orchestrierung. Takt für Takt wird mir das fertige Werk offenbart, wenn ich mich in dieser seltenen, inspirierten Gefühlslage befinde […]
Ich muss mich im Zustand der Halbtrance befinden, um solche Ergebnisse zu erzielen – ein Zustand, in welchem das bewusste Denken vorübergehend herrenlos ist und das Unterbewusstsein herrscht, denn durch dieses, als einem Teil der Allmacht, geschieht die Inspiration. Ich muss jedoch darauf achten, dass ich das Bewusstsein nicht verliere, sonst entschwinden die Ideen.“53
In diesem Zusammenhang sind auch die sog. Inselbegabungen, das Savant-Syndrom, zu nennen. Es handelt sich dabei um außergewöhnliche Leistungen, die bei Personen mit angeborener kognitiver Behinderung, aber auch nach Hirnverletzungen, Hirnhautentzündungen oder bei Menschen mit bestimmen Formen der Demenz auftreten. 50% der bekannten Inselbegabten sind Autisten, also kontaktgestörte Menschen mit Rückzug in die eigene Vorstellungs- und Gedankenwelt und Isolation von der Umwelt. Eine von 2000 Personen ist hirngeschädigt, hirnverletzt, dement oder litt an einer Gehirnhautentzündung. Sechs von sieben Inselbegabten sind männlich.
Wenngleich es keine zuverlässigen Untersuchungen darüber gibt, wie häufig das Savant-Syndrom auftritt, schlug der Autismus-Forscher Darold Treffert 1989 eine Unterscheidung in erstaunliche und talentierte Savants vor.54 Die erstaunlichen Savants haben absolut herausragende Fähigkeiten, während die talentierten überdurchschnittliche Leistungen ausweisen, die nur in Anbetracht ihrer Behinderung bemerkenswert sind.
Der Intelligenzquotient der Personen liegt meist unter 70, kann aber auch durchschnittlich, in manchen Fällen auch überdurchschnittlich sein. Sie finden sich auf den verschiedensten Gebieten, wie folgende Beispiele zeigen:
Ein außergewöhnliches Erinnerungsvermögen bewies der US-Amerikaner Kim Peek (1951-2009), der laut eigenen Angaben den Inhalt von etwa 12.000 Büchern auswendig kannte. Diese Menge an Büchern las er mit der außergewöhnlichen Fähigkeit, zwei Seiten gleichzeitig aufzunehmen, und zwar eine mit dem linken und eine mit dem rechten Auge. Zudem nannte er für jede US-amerikanische Stadt Postleitzahl, Vorwahl und die Straße, die dorthin führte. Ferner war er in der Lage, zu jedem Datum binnen Sekunden den Wochentag zu nennen. Auf diese Weise wurde er zum Vorbild des Raymond Babbitt im Film Rain Man.
Bei den musikalischen Begabungen fällt auf, dass die meisten blind sind. Der amerikanische Musiker und Autist Tony DeBlois wurde 1974 blind geboren und begann bereits mit zwei Jahren, Klavier zu spielen. Er beherrscht bereits 8000 Stücke, sowie 13 weitere Instrumente.
Als besondere mathematische Begabung gilt Daniel Tammet, der 1979 in London geboren wurde und im Alter von drei Jahren einen heftigen epileptischen Anfall hatte, der ihn dauerhaft prägte. Er begann Mathematikbücher zu lesen und Pflanzenmuster zu studieren. Im März 2004 konnte er die Kreiszahl pi innerhalb von fünf Stunden bis auf 22.514 Stellen nach dem Komma aus der Erinnerung wiedergeben und könnte es sofort wieder tun. Zudem hat er in einem Experiment bewiesen, dass er Fremdsprachen in etwa einer Woche erlernen kann.55
Ein beliebtes Betätigungsfeld der Savants ist vor allem die Bildende Kunst. So kann der 1974 in London geborene autistische Künstler Stephen Wiltshire ein Bild nach einmaligem Betrachten detailgetreu und perspektivisch korrekt zeichnen. Im Rahmen zweier Experimente zeichnete er nach Rundflügen über London und Rom detaillierte Panorama-Ansichten beider Städte.
Nicht zuletzt sind hier auch die zahlreichen Sprachengenies zu nennen, die aber nicht immer Behinderungen aufweisen, wie der deutsche Sinologe Emil Krebs (1867-1930), der 68 Sprachen perfekt in Wort und Schrift beherrschte und sich mit 111 Sprachen befasste.56
Auch diese außergewöhnlichen Begabungen und Einsichten gehen, genauso wie die Fuge von Brahms, über die gängigen hirnphysiologischen Bewusstseinserklärungen hinaus und werfen die Frage nach einer Informationsquelle auf, die hinter allen Phänomenen steht und nichtmaterieller Natur ist.
Die postmortale Persona
Nach dem Physiker Burkhard Heim existieren in Wirklichkeit weder die Raum-Zeit der physischen Dinge noch die Wahrscheinlichkeitsfelder für sich allein. Sie treten vielmehr nur gemeinsam auf, was besagt, dass das an sich materiell-energetisch nicht fassbare Wahrscheinlichkeitsfeld in die Raum-Zeit vorhandener Energien und Materie wirkt und dort das Wahrscheinlichkeitsfeld verändert, sodass jetzt vorhandene Energie bzw. vorhandene Materie sich umgruppieren. In die physische Raum-Zeit werden also aus dem nichtmateriellen Bereich Wahrscheinlichkeitsamplituden injiziert, deren Information darin besteht, dass eben jetzt vorhandene Energie und Materie sich anders gruppieren als z.B. in Wechselbeziehungen. Diese Steuerung tritt immer dann auf, wenn sich in der Raum-Zeit ein materieller Vorgang als unstetig-nichtstationär verändert. Dann öffnet sich die materielle Welt in den nichtmateriellen Hintergrund und es erfolgt eine Steuerung. Sofort darauf schließt sich die materielle Welt wieder wie aus einem etwas anderen Zustand.57
Da nun die Strukturen des Menschen in den logischen Bereichen von Physis (Bereich der Materie), Bios (Bereich des lebenden Organismus), Psyche (Bereich von Empfinden und Fühlen) und Pneuma (Mentalbereich) stets einige Komponenten in der Hyperraum-Dynamik der nichtmateriellen Welt haben, besteht nach Heim die Möglichkeit, mit den angesprochenen Denkstrukturen zur Transzendierung von Physis, Bios, Psyche und Pneuma zu schreiten und von einer postmortalen Persona zu sprechen. Der Mensch hebt sich nämlich durch die Manifestation einer identitäts- und ichbewussten und zur bewussten Abstraktion fähigen geistigen Personalität vom Hintergrund der irdischen Biosphäre ab. Beim Eintritt des Todes wird das in die Bereiche Psyche, Bios,
Materie eingebundene lebende Soma aus Psyche und Bios entlassen und vollständig der Physis (Zerfall des Soma) überantwortet, während die dem Pneuma (Geist) verwurzelte Persona nicht mehr wahrgenommen werden kann. Der so geartete Existenzbereich des Pneuma gestattet daher nach Heim aufgrund seiner reflektorischen Autonomie den Schluss auf eine postmortale Persona.58