Johannes de Rupescissa

(Frz. Jean de Roquetaillade, dt. zuweilen Johann vom Gespaltenen Felsen, (* um 1310 in Schloss Marcolès (Cantal) bei Aurillac, Auvergne; † wahrscheinlich 1366), Franziskaner, Alchemist und apokalyptischer Visionär in Südfrankreich.
J. wird den Joachimiten bzw. Spiritualen zugerechnet und verband Ideen zu einer Quintessenz, einer in der Materie verborgenen „überirdischen“ Substanz, mit Prophetien eines seiner Meinung nach bevorstehenden Weltuntergangs in einer für das Mittelalter einzigartigen „apokalyptischen“ Alchemie.
J. studierte fünf Jahre Philosophie und die freien Künste in Toulouse, befasste sich intensiv mit Alchemie und trat 1332 in den Franziskanerorden ein, wo er sein Studium vor allem in Theologie fortsetzte. Zwischen 1340 und 1344 hielt er sich im Minoritenkloster von Aurillac auf, wo er Prophezeiungen und Visionen zu verbreiten begann (u.a. sah er den Antichrist in Gestalt eines Kindes in China). Aufgrund falscher Prophezeiungen und radikaler Kritik an der Kirche (am Papsttum in Avignon und an der gängigen Simonie) wurde er von seinen Oberen 1344 eingesperrt und in verschiedene Klöster versetzt. 1349 kam er nach Avignon, um sich vor Papst Clemens VI. zu verteidigen. Eigentlich sollte er in das Kloster nach Castres, doch gelang es ihm, die ihn begleitenden Mitbrüder zu überzeugen, ihn nach Avignon zu bringen. Ein erster Prozess begann Ende 1349, aber J. blieb bis November 1356 in Avignon inhaftiert, nachdem ein 1354 eingeleiteter Prozess keine häretischen Ansichten entdecken konnte. Eine mildere Form von Gefangenschaft wurde jedoch aufrechterhalten, auch als er 1360 unter Innozenz VI. auf das Schloss Brignoles gebracht wurde. Letzte Nachrichten von ihm stammen vom Dezember 1365. Er erhielt verschiedene Zuwendungen von der apostolischen Kammer, war aber krank und lebte in einem Minoritenkloster in Avignon.
Obwohl man J. über zwanzig Jahre einsperrte, stellte man ihm im Gefängnis Schreibmaterialien (und teures Pergament) zur Verfügung, manchmal auch Bücher. So verfasste er die Visiones seu revelationes (1349) und 1356 Vade Mecum in tribulatione sowie Liber Ostensor. Seine Visionen und Prophezeiungen sind von den franziskanischen Spiritualen beeinflusst (Joachimiten, Petrus Johannis Olivi). J. geht aber weit darüber hinaus und sieht Bibel, Prophetien und Natur (in der Sicht der Alchemie) als Mittel, um die nach ihm bevorstehende Apokalypse und die Herrschaft des Antichristen zu überwinden.
Von den ca. 30 Werken von J. sind sieben erhalten. Die Visionen beeinflussten die entsprechende spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Literatur. Seine alchemistischen Werke, die er 1350 schrieb, standen unter dem Einfluss der Schriften von Arnaldus de Villanova, Ramon Llull, Roger Bacon, Geber (bzw. der Schriften, die man diesen zuschrieb). J. propagierte den von ihm destillierten Weingeist (Alkohol) als allgemeines Heilmittel, auch zur Lebensverlängerung, und nannte es quinta essentia oder aqua vitae. Diese fünfte Essenz, in Anspielung auf Aristoteles, sei himmlischen Ursprungs und wirke den verderblichen und zerstörerischen Einflüssen der Erde wie Krankheit und Alter entgegen. Nach J. ist quinta essentia von Gott gegeben, um den Körper zu erhalten, so wie er den Himmel geschaffen habe, um die Welt zu retten.
Seine Werke (einige der wenigen mittelalterlichen alchemistischen Werke, die sicher einem Autor zugeordnet werden können) zeigen zudem, dass die Ideen einer medizinischen Chemie weit vor die Iatrochemie von Paracelsus und seiner Anhänger zurückreichen. Der Einfluss seines Liber de consideratione quintae essentiae zeigt sich darin, dass es in rund 130 Manuskripten erhalten ist, darunter Übersetzungen ins Englische, Französische und Schwedische; schon im 15. Jh. lag es auf Französisch und Latein vor. J. beeinflusste auch im deutschsprachigen Raum Ärzte, Apotheker und Alchemisten wie Hieronymus Brunschwig, Walther Hermann Ryff, Conrad Gessner und Paracelsus. Seine Lehre wurde u.a. durch Philipp Ulstad weiterentwickelt und verbreitet.
In der medizinischen Anwendung von Alkohol mischte er auch Gold bei (von ihm Fixierung der Sonne im Himmel genannt), was ein verbreitetes Mittel der Verabreichung von Gold wurde.

W.: De consideratione quintae essentiae rerum omnium, Basel 1521 und 1561 (Herausgeber Guglielmo Gratorolo), 1597, Straßburg 1616 (auch französische (Lyon 1549) und englische Ausgabe (London 1856)); Giovanni di Rupescissa: Vade mecum in tribulatione. Kritische Edition von Elena Tealdi, historische Einführung von Robert E. Lerner und Gian Luca Potestà, Mailand: Vita e Pensiero. Dies Nova, 2015.
Lit.: Benzenhöfer, Udo: Johannes’ de Rupescissa ‚Liber de consideratione quintae essentiae omnium rerum‘ deutsch: Studien zur Alchemia medica des 15. bis 17. Jahrhunderts mit kritischer Edition des Textes. Stuttgart: Steiner, 1989 (Heidelberger Studien zur Naturheilkunde der frühen Neuzeit; 1).
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