Chartres, Kathedrale von

Chartres ist die Hauptstadt und die wichtigste Stadt des Départements „Eure-et-Loir“, 90 km südwestlich von Paris gelegen, und beherbergt mit seiner Kathedrale eines der herausragendsten gotischen Bauwerke der Welt.
Geschichte
Die Anfänge der Stadt liegen im Dunkeln. In Cäsars „Gallischem Krieg“ ist sie als Autricum erwähnt, doch ist die dortige Wallfahrtsstätte bedeutend älter. Man vermutet, dass der Granithügel, auf dem die Kathedrale heute steht, bereits in vorchristlicher Zeit den > Druiden als Heiligtum diente. Auf dem Hügel wurden eine Steingrabkammer (Dolmen) und ein > Brunnen errichtet, dessen Wasser heilende Kraft gehabt haben soll.
Im 4. Jh. wurde C. Bischofsstadt. Auf den bescheidenen hölzernen Kirchenbau folgten mehrere Steinbauten, die wiederholt durch Brände zerstört wurden. Der 876 eingeweihten Kirche übergab Karl der Kahle den Schleier der Jungfrau Maria als Reliquie, den sie beim Empfang der Botschaft ihrer Erwählung als Mutter Gottes durch den Erzengel Gabriel getragen haben soll und der heute als ca. 30 x 30 cm großes Tuch in der Kathedrale zu besichtigen ist. Damit wurde die Kathedrale zu einer Marienkirche.
Um 1020 initiierte Bischof Fulbert den ersten romanischen Bau, von dem uns nur noch die weiträumigste Krypta Frankreichs, die Türme und die nach einem kleinen Brand von 1134 in den Jahren 1145 bis 1150 neu errichtete Westfassade erhalten geblieben sind. Der verheerende Brand von 1194, den der Reliquienschrein mit dem „Schleier der Jungfrau Maria“ unversehrt überstand, rief innerhalb Europas eine Welle der Hilfsbereitschaft hervor. Könige, Adelige, Bischöfe und reiche Bürger schickten Spenden oder auch ihre Bauleute nach Chartres, sodass noch im gleichen Jahr mit dem Bau der heutigen gotischen Kathedrale begonnen werden konnte; diese wurde bereits 1220 fertiggestellt. Die offizielle Einweihung fand am 24. Oktober 1260 statt. 1979 wurde die Kathedrale in das Register des Weltkulturerbes der UNESCO aufgenommen.
Das in Stein gemauerte Geheimnis
Die imposante architektonische Erscheinung der weithin über die Stadt hinaus sichtbaren Kathedrale birgt ein in Stein gemauertes Geheimnis, das erst zu einem kleinen Teil entschlüsselt wurde: Woher kam das spontane Wissen für diese größte und erste gotische Kathedrale? Warum wurde die Kathedrale so mächtig gebaut, obwohl Chartres im Mittelalter ein Marktflecken mit nur einigen tausend Einwohnern war? Warum ist die Vierung von Notre Dame de Chartres nicht quadratisch? Wo liegt das heilige Zentrum, von dem aus die erste „ursprüngliche“ Kirche gebaut wurde? Das sind nur einige der noch offenen allgemeinen Fragen, ganz zu schweigen von den vielen Detailfragen, die sich dem Besucher nach wie vor stellen.
Die Heilige Geometrie
Einige Antworten erhält man durch die Anwendung der > Heiligen Geometrie. Diese arbeitet wie die „profane“ Geometrie, stellt aber einen spirituellen Bezug her. Ihr Urmuster ist die „Blume des Lebens“. Gott als Kreis in der Mitte, umgeben von 19 weiteren Kreisen in gleichem Abstand. Darstellungen dieser Lebensblume finden sich am ägyptischen Tempel von Abydos und in Werken Leonardo da Vincis. In der Kathedrale von Chartres ist sie im Grundriss versteckt. Nach diesem Grundriss teilt das Heilige Zentrum das Längsschiff im Verhältnis 2:1, was harmonikal exakt der Oktav entspricht, und legt das Verhältnis zum Querschiff als Quinte (3:2) fest. In der Gliederung des Kirchenschiffes finden sich vielfach der Musik entsprechende Relationen wie Oktave, Quinte, Quarte usw., genauso wie der Goldene Schnitt, der das Größenverhältnis des Längs- und Querschiffes bestimmt.
Die Skulpturen der Portale
Neben der architektonischen Grundstruktur ist auch die künstlerische Ausgestaltung der Kathedrale voller Symbolik.
An der Westfassade zeigt das Portal der Geburt Jesu die Sieben Freien Künste. Sie gehen auf das Altertum zurück und bilden seit Augustinus in der Einteilung Trivium (Grammatik, Rhetorik, Dialektik) wie Quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Physik) die Grundlage des klösterlichen Bildungsweges. Jeder Wissenschaft ist als Vertreter ein antiker Philosoph zugeordnet. In den Archivolten des linken Portals finden sich die Zeichen des > Tierkreises und Szenen der menschlichen Arbeit für jeden Monat im Jahreskreis. Das Mittelportal ist das Portal der endzeitlichen Theophanie. Nicht Jesus richtet, die Richter sind die 12 Apostel.
Das Nordportal ist der Jungfrau Maria gewidmet und enthält Darstellungen aus dem AT: Schöpfungsgeschichte, das Leiden Jobs, das Urteil Salomons und das Leben Marias.
Das Südportal
veranschaulicht die Aussendung der Jünger, das Jüngste Gericht, die Märtyrer und Bekenner.
Fenster
In den Fenstern begegnet man der mystischen Theologie des > Dionysius Areopagita. Im Mittelpunkt seines Werkes steht die Idee: Gott ist das Licht! An diesem Licht hat jede Kreatur Anteil. Sie empfängt seine göttliche Erleuchtung, um sie selbst wieder auszustrahlen. Diese theologischen Aussagen sind eingebettet in die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse der > Fibonacci-Reihe, des > Goldenen Schnitts, des > Pentagramms, der Zahl > Zwölf und des > Labyrinths.
Zahlenmystik
Beim Rundgang durch die Kathedrale begegnet man auf Schritt und Tritt der > Zahlenmystik, eingedenk der Worte der Bibel: „Du aber hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet“ (Weish 11,20).
Ort der Kraft
Die Kathedrale gilt auch als > Ort der Kraft, vor allem der Chor und die Krypta, wohin sich im Mittelalter die Pilger zur Heilung begaben, um vom Wasser des im 17. Jh. zugeschütteten Brunnens zu trinken. Als besonders positiv wird die Energie genau in der Mitte des Westportals, unter der Jesus-Vesica, empfunden.
Abbild des Kosmos
Die Kathedrale von Chartres ist in ihrer Architektur und Ausstattung ein Abbild des gesamten > Kosmos. Wie Gott die > Planeten angeordnet hat, so dass sie in ihren Umläufen um die > Sonne die > Sphärenmusik erklingen lassen, so hat auch der Mensch göttliche Gesetze verwendet, um durch die Geometrie vollendete Schönheit und durch konstruktive Gestaltung vollendeten Wohlklang zu erzeugen.

Lit.: Schmidt, Anton: Die Kathedrale von Chartres: Das in Stein gehauene Weltbild des Mittelalters, in: Andreas Resch: Die Welt der Weltbilder. Innsbruck: Resch, 1994; Baer, Gerhard: Geometrie und Arithmetik in den Strukturen der Kathedrale von Chartres. Frankfurt a.M.: Haag und Herrchen, 2002; Klug, Sonja Ulrike: Kathedrale des Kosmos: die heilige Geometrie von Chartres. Bad Honnef: Kluges Verl., 2005; Walchensteiner, Kurt Richard: Die Kathedrale von Chartres: ein Tempel der Einweihung. Saarbrücken: Neue Erde, 2006; Ladwein, Michael: Chartres: Ein Führer durch die Kathedrale. Stuttgart: Urachhaus, 2010.
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