Alraune

Mandragora officinarum L., geheimnisumwobene Pflanze aus der Familie der Nachtschattengewächse, berühmteste Zauberpflanze aller Zeiten. Die Etymologie des Wortes „Mandragora“ ist ungeklärt, dafür lässt sich aus ihrem germanischen Namen A., ahd. alruna, seine Bedeutung ablesen: ahd. runen heißt nach Horst „wissen, erforschen, enträtseln“ (Horst, Bd. 5, S. 333) und nach Kluges Etymologischem Wörterbuch „heimlich und leise reden“, wie es noch heute in dem Verb „raunen“ weiterlebt. Auch einige der kaum zählbaren volkstümlichen Namen für die A. klingen aufschlussreich: Arztwurzel, Alraunmännchen, Armesünderblume, Dollwurz, Drachenpuppe, Erdmännchen, Folterknechtwurzel, Hackemännchen, Henkerswurzel, Hundsapfel, Galgenmännlein, Geldmännlein, Hausväterchen, Kindleinkraut, Liebesapfel, Liebeswurzel, Mannträgerin, Menschenwurzel, Unholdwurzel und Zauberwurzel.
Die frühesten schriftlichen Zeugnisse über die A. sind wahrscheinlich auf assyrischen Keilschrifttafeln sowie im AT (Gen 30,14) erhalten (Rätsch 1998, 345). Die Pflanze wurde in der Antike als Anästhetikum, Antiseptikum, Tonikum und Narkotikum benutzt (Müller-Ebeling, 194). Für die alten Assyrer war die A. ein Schmerz- und Betäubungsmittel. In Ägypten, Griechenland und Rom verwendete man sie als psychoaktiven Zusatzstoff zum Wein, oder man stellte, so in Griechenland, ein A.-Bier her, das ebenfalls einen bewusstseinsverändernden Effekt hatte. A.wein war auch ein Todestrunk für einen Gekreuzigten, so verlangte es eine römische Sitte. Bei Lukian heißt es im 2. nachchristlichen Jh., dass auf der Insel der Träume nur Mohn und Mandragora blühen (Verae historiae, II, 33). In der Spätantike bezeugt Suidas die hypnotische Wirkung der A., ihre Frucht lasse alles in Vergessenheit versinken.
Die magischen Kräfte der Mandragora, die man in der Spätantike als ein Geschenk des > Hermes, des Gottes der > Zauberei, ansah, setzte man sowohl für den > Heil- als auch für den > Schadenzauber ein. Im Laufe der Christianisierung Germaniens kam die A. immer mehr in Misskredit. Im 12. Jh. schreibt > Hildegard von Bingen der Pflanze schon wegen ihrer Ähnlichkeit mit einem Menschen „mehr teuflische Einflüsterung“ zu als anderen Kräutern. Man müsse die Pflanze daher vor Gebrauch reinigen und sie nach dem Herausziehen aus der Erde 24 Stunden in Quellwasser legen; dann wäre sie rein, hätte allerdings auch ihre Zauberkraft verloren. Mandragora kann laut Hildegard Trugbilder hervorrufen und ist ein Mittel gegen Traurigkeit (Physica I, 56).
Der Glaube an das wunderwirkende A.-Männchen ist jüngeren Datums und hat sich nachweislich erst seit dem 10. Jh. verbreitet. Die Mandragora-Wurzel diente dieser Vorstellung entsprechend als > Fetisch. Zu Beginn des 13. Jhs., wenn nicht früher, kam es zur Herstellung sog. „Allraunichen-Bilder“, lat imaguncula Alrunica (Horst, Bd. 6, 277-297), denen man besondere Wunderkräfte zuschrieb (Horst, Bd. 6, 298-310). Sie übernahmen die Funktion von Haus- und Schutzgeistern und wurden zu > Heinzelmännchen. Die aus der A. geschnitzten Bilder oder Figuren sind fast ausnahmslos Heinzelweibchen (Horst, Bd. 5, S. 326).
Das Allraunichen kann wie der gute Hauskobold seinem Verehrer auch die Geheimnisse der Zukunft voraussagen (Horst, Bd. 6, S. 298, S. 302) – eine Funktion, die mit der ursprünglichen Wortbedeutung der A. zusammenhängt. Die Fähigkeit der > Präkognition ist der A. schon von Tacitus (De Morib. Germ. c. VIII. Annal. IV. 61) und Cäsar (De Bello gallico L. I. 50) zugeschrieben worden.
Wie andere berühmte Zauberpflanzen, etwa > Tollkirsche, > Bilsenkraut und > Stechapfel, ist die Mandragora ausgesprochen giftig, und als Gift hat man sie auch verwendet. In größerer Menge genossen wirkt sie tödlich, das bezeugt schon Theophrast (Caus. pl. VI 4,5). Das weite Spektrum der psychoaktiven Wirkungen geringerer, nicht tödlicher Dosen der Pflanze wurde bereits im Altertum erkannt. Sie beeinflusst Befinden, Verhalten, Sinneswahrnehmung und Bewusstsein und führt zu Unruhe, Aufgeregtheit, Schwindel und sogar Tobsucht, letztendlich zu einem paralytischen Stadium mit Schlaftrunkenheit. Nach > Plutarch (Mor. 15F) glaubte man sogar, dass Wein, in dessen Nähe A. wuchs, sanften Schlummer hervorrufe. Seit dem 1. Jh. wurde der M.-Wein, wozu der Saft aus der Wurzelrinde verwendet wurde (Dioskorides, IV 75, 5), als Narkotikum bei Operationen benutzt. Vor allem der Wurzelrindensaft der Art Mandragora microcarpa lässt den Patienten unmittelbar in der Stellung, in der er sich beim Trinken befindet, für 3 bis 4 Stunden in narkotischen Schlaf fallen (Dioskurides, IV 75, 5).
Der Wurzelsaft galt als Menstruation und Geburtswehen fördernd, während der Same getrunken werden sollte, um die Gebärmutter zu reinigen, das Menstruationsblut rot zu machen und den abgestorbenen Fötus abzutreiben. Die A. diente weiters bei Geschwülsten, (Augen-)Entzündungen, und Gliederschmerzen. Umschläge aus den Blättern hatten kühlende Wirkung, und der Wurzelsaft wurde bei Podagra und Rose eingesetzt. Auch Kropf und Fettgeschwülste wurden mit der Wurzel behandelt. Im 15. Jh. war die A. ein Bestandteil der beliebten Pappelsalbe, die neben Pappelknospen ausschließlich aphrodisische und psychoaktive Kräuter enthielt.
Für medizinische Zwecke wurden alle Teile der Pflanze verwendet. Die Früchte sollten frisch genossen, die Blätter gekaut oder getrocknet werden, geraucht wie Tabak oder als Räucherwerk benutzt werden.
Die bisher nachgewiesenen Inhaltstoffe der A. sind die Tropanalkaloide Scopolamin, Atropin, Apoatropin, L-Hyoscyamin, Mandragorin, Cuskohygrin, Nor-Hyoscyamin, 3-Tigloyloxytropan und 3,6-Ditigloyloxytropan. Sie ergeben zusammen die früher als „Mandragorin“ bzeichnete psychoaktive Mischung (Rätsch 1998, 355).

Lit.: Horst, Georg Conrad: Zauber-Bibliothek oder von Zauberei, Theurgie und Mantik, Zauberern, Hexen, und Hexenprocessen, Dämonen, Gespenstern, und Geistererscheinungen. 6 Bde. Mainz: Florian Kupferberg, 1821-1826; Dioskurides: Pedanii Dioscuridis Anazarbei de materia medica libri V ed. M Wellmann. 3 voll. Berolini, 1907-1914. Dt. Übersetzung von J. Berendes. Stuttgart, 1902; Paulys Real-Encyclopädie. Hg. v. G. Wissowa u. a. Stuttgart, 1894ff., Bd. 14 1930; Zahlner, Ferdinand: Kleines Lexikon der Paranormologie. Hg. v. A. Resch. Abensberg: Josef Kral, 1972; Hoops, Johannes (Hg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, 17 Bde ff. Berlin; New York: Walter der Gruyter, ²1973ff.; Schöpf, Hans: Zauberkräuter. Graz: ADEVA, 1986; Bächtold-Stäubli, Hanns (Hg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. 10 Bde. Berlin: W. de Gruyter, 1987; Rätsch, Christian: Heilkräuter der Antike in Ägypten, Griechenland und Rom. Mythologie und Anwendung einst und heute. München: Eugen Diederichs, 1995; DNP = Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Hg. v. Hubert Cancik u. Helmuth Schneider, Bd. 1ff. Stuttgart; Weimar: J.B. Metzler, 1996 ff.; Rätsch, Christian: Enzyklopädie der psychoaktiven Pflanzen. Aarau, CH: AT, 1998; Müller-Ebeling, Claudia u.a.: Hexenmedizin. Aarau, CH: AT, ²1999.
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