Deutschland

Wie in jedem anderen Land reichen die Wurzeln des Paranormalen auch in Deutschland bis zu jenen Formen des Weltverständnisses zurück, wo der Mensch sich selbst und seine Umwelt im magischen Kontext zu deuten versuchte. Aus diesem Kontext erwuchsen in Deutschland bereits in der Antike komplexe gesellschaftliche Bräuche, insbesondere im Zusammenhang mit Lebensschutz und Totenkult. Der Glaube an die Beseeltheit der Natur, der Tiere und des Menschen, an Hexen und Dämonen, Orakel und Astrologie, an die Kraft von Amuletten, heiligen Orten und heilenden Pflanzen bot Orientierung und Hilfe zugleich.

Antike und Mittelalter
Im Mittelalter, als die Theologen unbestritten das Geistesleben beherrschten, wurde dann am Rande die Tradition der babylonisch-ägyptischen Mythologie in den germanischen und keltischen Mystizismus aufgenommen. Mit Beginn der Renaissance und den Übersetzungen griechischer Werke, vor allem durch Marsilius Ficinus, fand das Okkulte auch Einzug in die deutsche philosophische Diskussion. 1510 verfasste Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim sein Werk De occulta philosophia, das zunächst in Abschriften verbreitet wurde und schließlich 1531 in gedruckter Form erschien. Darin verbindet Agrippa Elemente der Hermetik, des Neuplatonismus und der Kabbala. Zu den Vertretern des neuen Denkens gehören auch Nikolaus von Kues (1401-1464) und Theophrastus Paracelsus (1493-1541), der Benediktinerabt Johann Tritheim (Thritemius, 1462-1516) und Johannes Reuchlin, der um 1496 Professor in Heidelberg war. Nach Reuchlin lässt uns die Kabbala nicht auf dem Boden der sinnlichen Welt dahinkriechen, sondern zieht uns vielmehr zur Gemeinschaft mit Gott und den Engeln empor.
Hexenprozesse
In dieser Zeit entstand auch die Bezeichnung
Okkulte Wissenschaft, um Astrologie, Alchemie und Magie zusammenzufassen. Der Hexenglaube erfasste immer breitere Kreise und führte nach der Erfindung des Buchdrucks in der Mitte des 15. Jahrhunderts zu massenhysterischen Hexenverfolgungen vor allem zwischen 1500 und 1700. Dabei hatte der sog. Hexenhammer von Jakob Sprenger und Heinrich Institoris, der 1486/87 in Köln in lateinischer Sprache als „Malleus Maleficarum“ erschien, um die Bulle von Innozenz VIII., „Summis desiderantes“, (1484) in die Praxis umzusetzen, trotz der 30 Auflagen bis 1669 einen weit geringeren Einfluss als die allgemein verbreiteten Vorstellungen zu Magie und Hexenwesen. Die Bulle von Innozenz VIII. enthält nämlich nur die Aufforderung, verdächtige Personen ernsthaft zu prüfen und bei bestätigendem Ergebnis zurechtzuweisen, zu inhaftieren und zu bestrafen, nicht aber zu verbrennen. In der Praxis hat dies den Hexenwahn eher gemindert als gefördert. Kirchenrechtlich hat die Hexenbulle nie Bedeutung erlangt. Hier war immer der Canon Episcopi (um 840-915) maßgebend, der den Hexenglauben als Einbildung ablehnte.

Mit der von Martin Luther heraufgeführten Reformation entstand nicht nur auf theologischem Gebiet, sondern auch hinsichtlich der Paranormologie eine Mentalitätsverschiebung. Durch die Leugnung des Fegefeuers (Purgatorium) gab es keine Armen Seelen mehr, die Auferweckung von den Toten wurde in die Endzeit verlegt; in der Zwischenzeit ruhe die Seele und bedürfe keiner Fürbitten. Spuk und andere Geschehnisse wurden von Luther auf den Teufel bezogen, was nicht ohne Wirkung auf die Hexenprozesse blieb, die vornehmlich in Deutschland die höchsten Zahlen aufweisen.

Doch wenngleich speziell der Hexenglaube schon frühzeitig in Frage gestellt wurde nämlich von dem Arzt Johannes Weyer (Wiers, Wierus, 1515-1588) in seiner Schrift De praestigiis daemonum, wonach im Hexenwesen Einbildung und Halluzinationen die Hauptrolle spielen –, wagte es erst 60 Jahre später der deutsche Jesuit Adam Tanner (1572-1632), sich in seiner 1626 erschienenen Theologia universalis gegen die Hexenprozesse auszusprechen. Noch erfolgreicher war sein Mitbruder Graf Friedrich von Spee (1591-1635) mit der von ihm 1631 anonym herausgegebenen Cautio criminalis.

Aufklärung und Neuzeit
Im 17. Jh. begann man dann auch Erscheinungen wie den Magnetismus zu untersuchen. Der berühmte Jesuit Athanasius Kircher (1601-1680) bestreitet in seinem Buch De arte magnetica (1654) die Fernwirkung und verneint mit seinem Mitbruder Kaspar Schott (1608-1666) religiös-magische Einflüsse bei der Wünschelrute. Johann Gottfried Zeidler (1655-1711) betont in seinem Werk Pantomysterium, dass bei der Wünschelrute die Suggestion die Hauptrolle spiele.
Ab dem 18. Jh. begann man in Gegenbewegung zur Aufklärung und der materialistischen Naturwissenschaft von okkulten Kräften zu sprechen, die der normalen Wissenschaft unzugänglich seien. In diesem Zusammenhang ist vor allem der protestantische Theologe Friedrich Oetinger (1702-1782) zu nennen, der sich den sog. Inspirierten gegenüber skeptisch verhielt und E. Swedenborg zwar für einen Hellseher, ansonsten aber für einen Halluzinär hielt, wenngleich er von der Wirklichkeit der Geistererscheinungen überzeugt war. Mit Swedenborg hat sich schließlich auch Immanuel Kant (1724-1804) befasst.

Der bedeutendste Auftrieb für die Vorstellungen von unbekannten Kräften kam dann um 1860 mit dem Spiritismus aus den USA nach Deutschland.
Das Auftreten von Medien und insbesondere die Sitzungen des Physikers Karl Friedrich Zöllner mit dem Medium Henry Slade, an denen auch andere bedeutende Wissenschaftler teilnahmen, führten in den 1880er Jahren zu einer neuen animistischen Richtung, welche die paranormalen Phänomene auf psychologischer Ebene untersuchen wollte. Zu diesem Zweck gaben Gregor Konstantin Wittig und Alexander Aksakow mit dem Verleger Oswald Mutze die Zeitschrift Psychische Studien heraus, unterstützt von dem Philosophen Eduard von Hartmann mit seiner Schrift „Der Spiritismus“ (1884). Ebenfalls 1884 wurde in Deutschland die Theosophische Societät Germania errichtet. 1886 kam es zur Gründung der theosophischen Zeitschrift Sphinx und zur Gründung der Psychologischen Gesellschaft durch Albert Freiherr von Schreck-Notzing und Carl du Prel.

1889 veröffentlichte Hans Driesch, der bereits in seinen jungen Jahren an Sitzungen mit verschiedenen Medien teilnahm, in der Sphinx den Artikel „Die Parapsychologie“ mit dem Vorschlag, die Wissenschaft, die sich mit den aus dem normalen Seelenleben heraustretenden Erscheinungen befasst, „Parapsychologie“ zu nennen. Ebenfalls 1889 trennte sich Carl du Prel von Schrenck-Notzing und gründete die Gesellschaft für Experimentalpsychologie, mit der er sich für eine „transzendentale Psychologie“ einsetzte.
Die Psychologische Gesellschaft unter der Leitung von Schrenck-Notzing führte dann in den 1920er und 1930er Jahren an der Universität von München im Beisein von Ärzten und Prominenten Telekinese-Versuche durch. Neben anderen war bei den telekinetischen Vorführungen mit dem Medium Rudi Schneider der Schriftsteller Thomas Mann anwesend, der seine Erfahrungen in dem Roman Der Zauberberg verarbeitete.

Gegenwart
Ab den 1890er Jahren verlagerte sich mit den von Franz Hartmann herausgegebenen Lotusblüten (1892-1900) und der von Paul Zillmann veröffentlichten Metaphysischen Rundschau (1896-1918) das Interesse von der wissenschaftlichen Forschung zur subjektiven Erfahrung.
In den ersten Jahrzehnten des 20. Jh. konnte sich das Okkulte in D. völlig frei entfalten. Selbst Nationalsozialisten interessierten sich für das Thema. Rudolf Hess nahm regelmäßig Dienste von Astrologen, Magnetheilern und Hellsehern in Anspruch. Himmler förderte den Ariosophen
Karl Maria Wiligut als seinen privaten Magier und Hellseher. Wiligut wurde mit seinem Geschichtsmythos von übermenschlichen arischen Vorfahren zum Leiter der Abteilung Vor- und Frühgeschichte der SS und trug zum Ausbau der Wewelsburg als SS-Zeremonienstätte bei, wurde später aber wegen Schizophrenie aus der Partei ausgeschlossen. Adolf Hitler hingegen betrachtete die Okkultisten als einen Haufen von Wirrköpfen und so wurden mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten (1933) die okkultistischen Vereinigungen als staatsfeindliche Sekten eingestuft, zumal Hitler den Astrologen eine große Mitschuld an der Flucht von Hess nach England zuschrieb.

Die Erfahrungen des Außergewöhnlichen fanden nicht zuletzt in Kunst und Film ihren Niederschlag. Schriftsteller wie Rainer Maria Rilke, Gustav Meyrink und Thomas Mann griffen derlei Erfahrungen auf. Ebenso flossen okkultistische Motive in die Filme Das Cabinet des Dr. Caligari (1919), Der Golem, wie er in die Welt kam (1920) und in den Vampirfilmklassiker Noseferatu Eine Symphonie des Grauens (1922) ein.
In der Kriminalistik wurden vor allem in den 1920er Jahren Hellseher und Telepathen befragt. Für Betrüger, die sich okkulter Methoden bedienten, führte der Jurist Herbert Schäfer den Begriff des Okkult-Täters ein.

Im Kriegsjahr 1942 führte die deutsche Marine Experimente mit Pendeln zur Ortung von feindlichen Schiffen durch.

In den 1930er Jahren griff Joseph Bank Rhine den Ausdruck „Parapsychologie“ als Ersatz für den Begriff psychical research auf, um die Laborforschung und die wissenschaftliche Methodik hervorzuheben. Damit erlangte der von Driesch vorgeschlagene Begriff Parapsychologie internationale Verwendung.
In engem Kontakt mit Rhine gründete Prof. Hans Bender 1950 in Freiburg im Breisgau das Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene (IGPP) mit den Schwerpunkten Erforschung von Spukfällen, Laborversuche zur Außersinnlichen Wahrnehmung und Psychokinese. Heute beschäftigt sich das Institut „mit der systematischen und interdisziplinären Erforschung von bisher unzureichend verstandenen Phänomenen und Anomalien an den Grenzen unseres Wissens. Dazu zählen veränderte Bewusstseinszustande und Erfahrungsbereiche, psychophysische Beziehungen sowie deren soziale, kulturelle und historische Kontexte aus den Perspektiven von Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften“. Damit hat das Institut allerdings von der Parapsychologie Abschied genommen und sich der Psychophysik mit den gängigen Messtechniken verschrieben, um nicht mehr „Para“ zu sein.

In Gegensatz dazu befasst sich die Parapsychologische Beratungsstelle in Freiburg, die auch vom Land Baden-Württemberg gefördert wird, unter der Leitung von Dr. Dr. Walter von Lucadou mit der Beratung von Menschen, die behaupten, ungewöhnliche, paranormale, okkulte oder unerklärliche Erfahrungen gemacht zu haben.

1951 gründete Josef Kral, Abensberg (Deutschland), gemeinsam mit dem Zisterzienserabt Alois Wiesinger aus Schlierbach in Oberösterreich die Zeitschrift Glaube und Erkenntnis, die dann unter dem Titel Grenzgebiete der Wissenschaft im Resch Verlag, Innsbruck, erschien und das gesamte Gebiet des Paranormalen im phänomenalen und im weltanschaulichen Kontext abdeckte (2017 eingestellt). 1958 gründete Kral mit Prof. Dr. Gebhard Frei (Schweiz), Prof. Dr. Peter Hohenwarter (Wien) und Dr. Gerda Walther (München) die Internationale Gesellschaft katholischer Parapsychologen (IGKP), die 1966 in die Internationale Interessengemeinschaft IMAGO MUNDI mit Sitz in Innsbruck überging.

Am 11. Oktober 1987 wurde in Bonn die GWUP (Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung der Parawissenschaften) als Verein gegründet, um Fragen des Außergewöhnlichen auf der Grundlage des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu beantworten. Sie beschränkt damit die Echtheit des Außergewöhnlichen mit der Beweisbarkeit, was besagt, dass es das, was nicht beweisbar ist, nicht gibt. Wer daher unlösbare Fragen offenlässt oder sich weiterhin damit befasst, wird der Parawissenschaft zugeordnet, die es zu bekämpfen gelte. Organ der GWUP ist die vierteljährlich erscheinende Zeitschrift Der Skeptiker.
Diese Wissenschaftsgläubigkeit, verbunden mit einem Höchstmaß an Machtstruktur und Intoleranz, führte 1999 Mitglieder der GWUP, die den dort herrschenden dogmatischen und unangemessenen Umgang mit Parawissenschaften nicht länger mittragen wollten, zur Gründung der Gesellschaft für Anomalistik (GfA). Der Begriff „Anomalistik“ wurde 1973 von dem Anthropologen Roger W. Westcott eingeführt und bezieht sich auf die zunehmend interdisziplinäre Untersuchung von außergewöhnlichen Ereignissen (Anomalien), die durch die gegenwärtig akzeptierten wissenschaftlichen Theorien nicht erklärbar zu sein scheinen. Diesbezügliche Studien werden seit 2001 durch die Herausgabe der Zeitschrift für Anomalistik publiziert.

Neben diesen wissenschaftlich übergreifenden Bemühungen gibt es in Deutschland eine Unzahl von Vereinen bis hin zu rein esoterischen und okkulten Gruppierungen, Praktiken und Geheimbünden, die sich mit Einzelthemen des Paranormalen, wie Tonbandstimmen, Orten der Kraft, Jenseitskontakten oder mit dem Gesamtbereich des Außergewöhnlichen und Okkulten befassen. Darauf kann an dieser Stelle nur auf die einschlägigen Beiträge in dieser Enzyklopädie verwiesen werden.

Lit.: Dessoir, Max: Die Parapsychologie, in: Wilhelm Hibbe Schleiden (Hrsg.): Sphinx. Monatsschrift fur die geschichtliche und experimentale Begründung der übersinnlichen Weltanschauung auf monistischer Grundlage 7. Leipzig/Braunschweig, 1889, S. 341-344, Zitat siehe S. 342; Kiesewetter, Carl: Geschichte des neueren Okkultismus. Geheimwissenschaftliche Systeme von Agrippa von Nettesheim bis Carl du Prel. Leipzig, 1891; Tischner, Rudolf: Geschichte der Parapsychologie. Tittmoning: Pustet, 1960; von Lucadou, W.: Psi-Phänomene. Neue Ergebnisse der Psychokinese-Forschung. Frankfurt a.M./Leipzig: Inset Verlag, 1997; Bauer, Eberhard/Schetsche, Michael (Hrsg.): Alltagliche Wunder. Erfahrungen mit dem Übersinnlichen wissenschaftliche Befunde. Würzburg: Ergon, 2003; Schrenck-Notzing, Albert Frhr. v.: Experimente der Fernbewegung: Telekinese im psychologischen Institut der Münchener Universität und im Laboratorium des Verfassers. Union Deutsche Verlagsgemeinschaft, Reprint im Bohmeier-Verlag, Leipzig 2006; Doering-Manteuffel, Sabine: Das Okkulte. Eine Erfolgsgeschichte im Schatten der Aufklarung Von Gutenberg bis zum World Wide Web. München: Siedler, 2008; Resch, Andreas: Zur Geschichte der Paranormologie. Innsbruck: Resch, 2010.

 

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