Analytische Psychologie

Bezeichnung der Psychologie von > C.G. Jung, auch Komplexe Psychologie genannt, die das weitaus umfassendste System der Tiefenpsychologie enthält.
Jung versteht Psyche als Gesamtheit aller psychischen Prozesse, bewusste wie unbewusste, und teilt sie – ontogenetisch gesehen – in folgende Schichten ein:

a)  Das Bewusstsein mit vier angeborenen Funktionen: Denken, Fühlen, Empfinden und Intuition. Diese Funktionen können im einzelnen Individuum nach dem Einstellungstypus Extraversion/Introversion verschieden gewichtet sein. Von der jeweils gegebenen Typologie hängt auch die Art des allgemeinen psychischen Verhaltens des einzelnen Menschen zu seiner Umwelt ab, was Jung als Persona bezeichnet. Sie stellt einen Ausschnitt des Ichs dar, der sich ausschließlich auf das Verhältnis zu den Objekten, zum Außen bezieht und einen Kompromiss zwischen Individuum und Sozietät bildet. So hat eine richtig funktionierende Persona drei Faktoren Rechnung zu tragen: dem eigenen Ich-Ideal, dem Bild, das sich die Umwelt von jemandem macht, dem Umweltideal, sowie den physisch und psychisch gegebenen Bedingtheiten, die der Verwirklichung des Ich- und Umweltideals Grenzen setzen.

b)  Das Unbewusste umfasst zwei Bereiche, das persönliche Unbewusste und das kollektive Unbewusste.
Das persönliche Unbewusste enthält Vergessenes, Verdrängtes, unterschwellig Wahrgenommenes, Gedachtes und Gefühltes aller Art.
Das kollektive Unbewusste mit den genuinen Wesenszügen des Menschen muss in folgende Zonen geschieden werden: Zone der Emotionen und primitiven Triebe, über die u.U. noch eine bestimmte Ich-Kontrolle möglich ist; Zone der Invasionen (Visionen, Halluzinationen, Neurosen und Psychosen sowie der schöpferischen Geister), die elementar hervorbrechen, nie ganz bewusst zu machen sind und einen völlig autonomen Charakter haben; Zone des nie Bewusstzumachenden, des kollektiven Unbewussten, die zentrale Kraft, aus der sich einst die Einzelpsychen ausgeschieden haben.
Was die Äußerungsformen des Unbewussten betrifft, so lassen sich folgende Erscheinungsformen unterscheiden: Symptome als Stauung eines gestörten Energieablaufs; Komplexe als seelische Persönlichkeitsteile, psychische Inhalte, die sich vom Bewusstsein abgetrennt haben und autonom funktionieren; Archetypen als angeborene Abbilder von instinktiven, d. h. psychisch notwendigen Reaktionen auf bestimmte Situationen; Synchronizität als Prinzip akausaler Zusammenhänge.
Dieses psychische System befindet sich nach Jung in dauernder energetischer Bewegung, die von der Libido aufgrund der Gegensatzstruktur der Psyche getragen wird. Unter Libido versteht man die Gesamtheit jener psychischen Energie, die sämtliche Formen und Tätigkeiten des psychischen Systems durchpulst und miteinander verbindet; die Gegensatzstruktur ist ein der menschlichen Natur inhärentes Gesetz zur Selbstregulierung.

c)  Individuation: Wie Freud hat auch Jung ein Modell der Persönlichkeitsentwicklung erstellt, wobei er zu den wenigen Psychologen gehört, die die psychische Entfaltung bis zum Alter hin gestalten. Diese Entwicklung nennt er Individuation, die folgende Stufen umfasst: die Erfahrung des Schattens als Begegnung mit jener Uranlage, die man nicht aufkommen lässt, weil sie zu den bewussten Prinzipien im Gegensatz steht; die Begegnung mit der Gestalt des „Seelenbildes“, anima beim Mann, animus bei der Frau, als komplementär-geschlechtlicher Anteil der Psyche; die Begegnung des Mannes mit dem Archetypus des Alten Weisen, der Personifikation des geistigen Prinzips, und die Begegnung der Frau mit der Magna Mater, der Erdmutter, dem stofflichen Prinzip; die Begegnung mit dem Selbst als dem letzten Erfahrbaren in und von der Psyche. Das Selbst ist nämlich eine dem Bewusstsein übergeordnete Größe, die nicht nur den bewussten, sondern auch den unbewussten Psycheteil umfasst.

Somit ist nach Jung die Individualpsyche ein Teil der Universalpsyche, der nach dem Tod in die Universalpsyche aufgeht. Sie ermöglicht die Allverbundenheit und die Individualität.
Was schließlich die religiöse Dimension des Menschen betrifft, so sagt Jung: „Jegliche Aussage über das Transzendente soll streng vermieden werden, denn sie ist stets nur eine lächerliche Anmaßung des menschlichen Geistes, der seiner Beschränktheit unbewusst ist. Wenn daher Gott oder Tao eine Regung oder ein Zustand der Seele genannt wird, so ist damit nur über das Erkennbare etwas ausgesagt, nicht aber über das Unerkennbare, über welches schlechthin nichts ausgesagt werden kann.“ (Kommentar, S. 50)

Lit.: Jung, C.G.: Gesammelte Werke. Solothurn; Düsseldorf: Walter, 1964ff.; Jung, C.G.: Kommentar zu „Das Geheimnis der goldenen Blüte“. Zürich: Rascher, 61947, S. 50; Jacobi, Jolande: Die Psychologie von C.G. Jung: eine Einführung in das Gesamtwerk/Mit einem Geleitwort von C.G. Jung. 5., rev. u. erg. Aufl. Zürich; Stuttgart: Rascher, 1967.
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