Äther

Ä. (griech. aither), höhere, reinere Luftschicht jenseits der Wolken, jenseits der gewöhnlichen Luft, dem aer. Im überirdischen Ä. wohnten nach der griechischen Mythologie die Götter. Zu ihnen können auch die vom Körper frei gewordenen Seelen emporsteigen, sofern sie von guten und gottesfürchtigen Menschen stammen (Rohde 1929, 223).
Nach orphischer Lehre ist der Ä. die Weltseele. Als Personifikation wird der Ä. zum Sohn des > Erebos und der > Nyx, also von Unterwelt und Nacht. Mit seiner Schwester > Hemera zeugte er Brotos, den Repräsentanten der Menschheit, nach anderer Quelle > Uranos, das Himmelsgewölbe. In einer weiteren mythologischen Variante ist Ä. der Sohn von Chaos und Caligo, ein Bruder von Nyx, Erebos und Dies. In dieser Fassung zeugt er mit seiner Schwester > Dies, die eine Personifikation des Tages darstellt, Himmel, Erde und Meer und schließlich mit seiner Tochter Erde auch viele schreckliche Personifikationen aller möglichen Leiden und Schwächen, darunter > Okeanos, > Tartarus, die > Titanen und die > Furien. Aus dem Paar > Erde und Ä. sind alle Dinge der Welt hervorgegangen, wobei die Erde den Mutterschoß bildet, aus dem der Ä. alles erzeugt. Der Ä. symbolisiert hier das aktive, geistige und beseelte Element (Rohde 1903, Bd. 2, 255f.). Der Ä. wird auch als Vater der Wolken, des > Pan und des > Eros gesehen, und bisweilen wird er mit Uranos und ebenso mit der > Sonne identifiziert.
Nach philosophischen Darstellungen ist Ä. die > Quintessenz, die feinste Materie, die den Weltraum erfüllt, ein Element, das sich von den anderen vier unterscheidet, eine göttliche Kraft, ein Körper, der sich ohne Anfang und Ende bewegt (Aristoteles). Die Seelen seien von derselben Art. Synkretisten verstehen durch Verschmelzen der verschiedenen Anschauungen ihrer Vorgänger den Ä. als lichtartige, beseelte, himmlisch astrale, überirdische, feinste Materie. Nach den > Neuplatonikern, insbesondere Porphyrios und Proklos, bildet der Ä. die Körper der Dämonen und Engel. Er dient zudem als Vehikel der Seelen (ochema), die aus ihm als Umhüllung einen Leib nehmen, der zwischen ihnen und ihrem irdischen Leib vermittelt. > Origenes knüpft hier mit seiner Lehre über die Eigenschaften des wiederauferstandenen menschlichen Leibes an.
Diese Auffächerung der platonischen Auffassung von Ä. als „corpus spiritualis“ und der aristotelischen als „materia caeli“ pflanzt sich über das Mittelalter in die Neuzeit fort. So spricht > Agrippa von einem „spiritus mundi“. Ähnlich bestehen für > Paracelsus alle Wesen aus einem elementarischen, irdischen, sichtbaren und einem himmlischen, unsichtbaren Leib, der „spiritus“ genannt wird. Ähnliche Vorstellungen leben heute weiter in der Theosophie, im Rosenkreuzertum, bei den Vitalisten, den Spiritisten, in der Reinkarnationslehre und in der Esoterik.
In der Physik erhält der Ä. mit Newton die Bedeutung einer feinen Materie zur Klärung des Lichtes und der Schwerkraft. Mit der allgemeinen Relativitätstheorie (1916), die auf der experimentellen Ununterscheidbarkeit von Schwere und Beschleunigung sowie auf der speziellen Relativitätstheorie beruht, wurde an die Stelle des Ä. eine von der Verteilung stellarer Massen abhängige hypothetische Struktur von Raum und Zeit gesetzt.

Lit.: Origines: De Principiis III, 41; Paulys Real-Encyclopädie. Hg. v. G. Wissowa u. a. Stuttgart, 1894ff., Bd. 1 1894; Rohde, Erwin: Psyche. 2 Bde. Tübingen und Leipzig: J.C.B. Mohr, 31903; hg., ausgew. u. eingel. von Hans Eckstein. Leipzig: Alfred Kröner, 1929; Whittaker, Edmund Taylor: A History of the Theories of Aether and Electricity From the Age of Descartes to the Close of the Nineteenth Century. Los Angeles: Tomash Publishers, 1987; Mittelstraß, Jürgen (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd. 1. Stuttgart: Verlag J.B. Metzler, 1995.
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