Chirologie

(Griech. cheir, Hand), Handlesekunst. Durch Deutung der Handinnenformen und -linien sollen der Charakter und die Eigenschaften einer Person entschlüsselt werden, eine Praxis, die tief in der Vorstellung verwurzelt ist, dass der Mensch sein Schicksal buchstäblich in den Händen trage.
Die C. hat eine wechselvolle Geschichte. Man nimmt an, dass die alten Chinesen 3000 v. Chr. damit begannen, Form, Linien und Färbung der Hand zu untersuchen. Die ersten gesicherten Hinweise finden sich in der indischen Literatur der vedischen Zeit (um 2000 v.  Chr.). Für Aristoteles (384-322 v.  Chr.) ist die Hand „das Organ der Organe“. In der Bibel steht in Ijob 37,7: „Er versiegelt die Hand aller Menschen, sodass alle Welt sein Tun erkennt.“ Auch die Römer kannten die C. Cicero erwähnt sie und auch Juvenal. Dann verschwindet sie, im Gegensatz zur > Chiromantie, um erst im 15. Jh. mit den Zigeunern in Europa wieder aufzutauchen. Aus dem Jahre 1522 stammt das älteste uns erhaltene Handbuch der C., das bereits alle Regeln enthält, nach denen die Kunst heute ausgeübt wird. Allerdings war die C. damals noch stark mit der > Astrologie verbunden, woran heute nur noch die Terminologie erinnert. 1644 veröffentlichte John Bulwer, der sich vornehmlich mit > Alchemie befasste, eine Chirologia. Bedeutende Vertreter der C. sind ferner Robert > Fludd (1574-1637) und > Paracelsus (1491–1541). In Deutschland wurde die C. im 17. Jh. an den Universitäten von Leipzig und Halle gelehrt, während sie in England verboten war. Nach Carl Gustav Carus (1789-1869) ist die Hand das merkwürdigste Kapitel der Symbolik menschlicher Gestalt.
Einen entscheidenden Beitrag nicht nur zur Charakterdeutung, sondern auch zu medizinisch diagnostischen Zwecken der C. lieferte Ernst Issberner-Haldane (1886-1966). C.G. Jung schrieb ein Vorwort zu The hands of children von J. Spier. Anthropologen des 20. Jh. begründeten schließlich die Sonderstellung des Menschen in der Evolution mit der Ausbildung der Hand.
Obwohl es in der zeitgenössischen C. keine einheitliche Systematik gibt, wird die Hand allgemein als Abbild des ganzen Menschen verstanden, da der Mikrokosmos „Hand“ den Makrokosmos „ganzheitlicher Mensch“ abbilde. Die fünf Finger der Hand und ihre „Berge“ werden meist verschiedenen Planeten zugeordnet. Die Linien der Hand teilt man hingegen in Hauptlinien: Kopflinie, Herzlinie, Lebenslinie; Nebenlinien: Schicksalslinie, Gesundheitslinie, Venusgürtel; Kleine Linien: Marslinie, Intuitionslinie, Ehelinie ein. Bei den Händen selbst wird die linke als Träger angeborener Persönlichkeiten, die rechte als Träger erworbener und individueller Möglichkeiten gedeutet; entsprechend gilt die chirologische Regel bei Linkshändern umgekehrt.
Wenngleich die C. ein Grenzgebiet von Biologie und Psychologie bildet, wurde sie wegen ihrer Nähe zur Chiromantie von diesen Wissenschaftszweigen völlig vernachlässigt.

Lit.: Bulwer, John: Chirologia: or, The naturall language of the hand, composed of the speaking motions, and discoursing gestures thereof, whereunto is added Chironomia: or, The art of manual rhetoricke, consisting of the naturall expressions, digested by art in the hand, as the chiefest instrument of eloquence, by historicall manifesto’s, exemplified out of the authentique registers of common life, and civill conversation, with types, or chyrograms, a long-wish’d for illustration of this argument (1644). New York: AMS Press, [1975]; Carus, Carl Gustav: Ueber Grund und Bedeutung der verschiedenen Formen der Hand in verschiedenen Personen. Eine Vorlesung. Stuttgart, 1846; Mangoldt, Ursula von: Zeichen des Schicksals im Bild der Hand: Anlagen und Möglichkeiten. Olten; Freiburg i. Br.: Walter, 1961; Issberner-Haldane, Ernst: Die medizinische Hand- und Nagel-Diagnostik. Freiburg i.Br.: Bauer, 1984; Wenzel, Irmgard: Lehrbuch Handdiagnostik. München: Elsevier, Urban und Fischer, 2004.
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