Buchstabenmystik

Entfaltung geistiger Lebenserfahrung und Weisheit durch Anwendung von Buchstaben als Träger verhüllter und höherer Wahrheiten. Diese Form von Mystik erwuchs aus der im alten Orient aufgekommenen Vorstellung von der Heiligkeit oder dem göttlichen Ursprung der Buchstaben und der Wertung eines Wortes durch die den einzelnen Buchstaben zugewiesenen Zahlen.
Die Berechnung des Zahlenwertes eines Wortes anhand der den Buchstaben zugeteilten Zahlen, > Gematria (hebräische Entstellung des griechischen Wortes geometria) genannt, ist seit dem 8. Jh. v. Chr. aus Milet bekannt. Dabei wird entweder die milesische Berechnung beibehalten (a = 1,… k = 20 usw.) oder die Nullen der Zehner und Hunderter werden gestrichen (regula novenaria) oder die Buchstaben werden in laufender Folge gezählt (a = 1 … w = 24).
Die dann vor allem von der jüdischen > Kabbala auf der Grundlage des hebräischen Alphabets zu einem Deutungsmedium für die gesamte Wirklichkeit ausgebaute B. enthält neun solcher Systeme. Nach der Kabbala, die auf dem jüdischen Schriftverständnis fußt, hat Gott die Welt mit Schrift und Sprache erschaffen. In den 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets, das keine Vokale kennt, sieht der jüdische Mystiker verborgene schöpferische Energien, mit deren Hilfe er sich selbst und die Welt miterschaffen kann.

In der islamischen B. werden die Buchstaben Engeln zugeordnet.
Auch > Apokalyptik, > Mantik, > Magie und > Astrologie haben die B. in verschiedener Weise aufgegriffen, wobei sie dem > Alphabet als solchem magische Kräfte zuschreiben, zumal unter allen denkbaren Kombinationen der Buchstaben auch die geheimen Götter- und Dämonennamen enthalten sind.
Ebenso bedienen sich das Christentum, verschiedene paranormologische Lehren, geheime Bruderschaften und die > Alchemisten der B. bzw. der > Buchstabensymbolik, um Botschaften zu vermitteln. So sind beispielsweise auf altchristlichen Elfenbeintafeln manchmal der Anfangs- und Endbuchstabe des griechischen Alphabets (> Alpha und Omega) eingeritzt, mit der Bedeutung von Anfang und Ende (> Chronogramm).
In babylonischen Gebeten und hebräischen Psalmen ergeben die Anfangsbuchstaben der einzelnen Verse gelegentlich ein besonderes Wort.

Lit.: Endres, Franz Carl: Mystik und Magie der Zahlen. 3., überarb. u. verm. Aufl. Zürich: Rascher, 1951; Thimus, Albert von: Der technisch-harmonikale und theosophisch-kosmographische Inhalt der kabbalistischen Buchstaben-Symbole des althebräischen Büchlein’s Jezirah, die pythagorisch-platonische Lehre vom Werden des All’s und von der Bildung der Weltseele in ihren Beziehungen zur semitisch-hebräischen wie chamitisch-altägyptischen Weisheitslehre und zur heiligen Überlieferung der Urzeit. Hildesheim [u.a.]: Olms, 1988; Coudert, Allison: Der Stein der Weisen: die geheime Kunst der Alchemisten. Herrsching: Pawlak, 1992; Dornseiff, Franz: Das Alphabet in Mystik und Magie. Reprint d. Orig.-Ausg. von 1925. Leipzig: Reprint-Verl, 1994; Frick, Karl R.H.: Die Erleuchteten: Gnostisch-theosophische und alchemistisch-rosenkreuzerische Geheimgesellschaften bis zum Ende des 18. Jahrhunderts; ein Beitrag zur Geistesgeschichte der Neuzeit. 2., unveränd. Aufl. Graz: ADEVA, 1998.

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