Bilokation

Lat. bi, zwei; locus, Ort; engl. bilocation; körperliches Erscheinen eines Menschen an zwei verschiedenen Orten.
Berichte über B. finden sich in allen Traditionen und Religionen. So wurde die Fähigkeit der B. > Apollonius von Tyana, > Aristeas, > Pythagoras, vor allem aber Heiligen wie > Ambrosius, Franz von Assisi, > Antonius von Padua, > Petrus von Alcántara, > Alphons Maria von Liguori, > Paul vom Kreuz, Don > Bosco, Francesco Forgione (P. > Pio) usw. zugeschrieben.
Bei solchen Berichten ist zunächst grundsätzlich die Unterscheidung zu treffen zwischen der Beobachtung ein und derselben Person an zwei verschiedenen Orten durch Drittpersonen und dem Erlebnis einer Person, an zwei verschiedenen Orten zu sein. Dies soll an zwei Beispielen erläutert werden.
Antonius von Padua: Im Jahre 1226 feierte der hl. Antonius von Padua in einer Kirche bei Limoges gerade eine heilige Messe, als ihm einfiel, zur selben Stunde einem Kloster in der Stadt eine Messe versprochen zu haben. Kniend verharrte er regungslos über mehrere Minuten. Gleichzeitig nahmen die Brüder des besagten Klosters wahr, wie er ihre Kapelle betrat, dort für kurze Zeit betete und dann wieder verschwand.
Alphons von Liguori: Beim hl. Alphons Maria von Liguori wird über vier B. berichtet, von denen die vierte am besten bezeugt ist. P. Antonio Tannoia (1727-1808), der nahezu ein halbes Jahrhundert an seiner Seite verbrachte, gibt folgende Schilderung dieser Bilokation, die sich in Arienzo in Italien zutrug:

„Eines Tages – es war am Morgen des 21. September 1774 – sah man Alphons nach der Messe in völlig ungewohnter Manier erschöpft und schweigsam in seinem Lehnstuhl sitzen. Er war regungslos, sprach kein Wort, bat niemanden um irgendetwas. So saß er die ganze Nacht über, ohne morgens oder abends etwas gegessen zu haben und ohne nach jemandem zu rufen, der ihm beim Ablegen der Gewänder half. Die Bediensteten waren ganz verwirrt, sie hatten keine Ahnung, was hier vor sich ging. Sie hatten ihn zwar in Sichtweite, doch niemand traute sich an ihn heran.
Am darauffolgenden Morgen des 22. September wusste man nicht, was man denken sollte, da er immer noch schweigend dasaß. Die Wahrheit ist, dass er sich in einer anhaltenden Ekstase befand. Etwas später griff er, als ob er eben erwacht wäre, plötzlich zur Glocke, weil er zelebrieren wollte.
Er bemerkte nicht, wie gewöhnlich, einzig und allein Bruder Francesco Antonio [Romito, † 1809] um sich, sondern alle. Als Msgr. Alphons sah, wie bestürzt sie waren, fragte er verwundert: ,Was ist denn los?‘ Und diese erwiderten: ,Was wird schon sein! Seit zwei Tagen kommt kein Wort über Eure Lippen, Ihr esst nichts und gebt uns auch sonst kein Zeichen!‘ ,Ihr habt leicht reden‘, meinte Alphons, ,wisst ihr denn nicht, dass ich dem Papst zur Seite gestanden bin, der jetzt gestorben ist?!‘ “ (Gregorio)

Bald darauf kam die Nachricht, dass Clemens XIV. am 22. September um 13.00 Uhr, also in dem Augenblick gestorben war, als Alphons wieder zur Besinnung kam.
Während die anderen B. von Alphons kaum beachtet wurden, fand diese vierte Bilokation große Anerkennung und hatte entscheidenden Einfluss auf die historische und mystische Literatur. Sie ist auch die Einzige, die von dem Heiligen selbst eingestanden wurde, der kaum über sich sprach und tunlichst darauf bedacht war, private Dinge für sich zu behalten.

Kommentar: Bei der B. des hl. Antonius liegen von beiden Orten Beobachtungen vor. Dabei kann man die Beobachtung der Brüder im Kloster als Vorstellungsprojektion deuten, die Antonius im ekstatischen Zustand bei den Ordensbrüdern durch Gedankenübertragung auslöste oder aber, dass die Ordensbrüder in ihrer Erwartungshaltung die Gestalt des Antonius in ihrer Vorstellung selbst (Halluzination) erzeugten. Es könnte aber auch sein, dass die Brüder in ihrer Angespanntheit des Wartens telepathisch auf Antonius einwirkten und eine Wechselwirkung mit ihm auslösten, die zu seiner Ekstase und zur Vorstellung seiner, wenn auch nur flüchtigen, Anwesenheit im Kloster führte. In weiterer Erklärung wird in solchen Fällen auch von einer > Materialisation und > Dematerialisation sowie von > Exkorporation des Energiekörpers gesprochen, der den physischen Körper verlässt und außerhalb desselben wirksam wird. 

Beim heiligen Alphons ist hingegen nur ein Beobachtungsort dokumentiert, während die Anwesenheit beim Papst nur von ihm selbst mitgeteilt wird. Die Drittbeobachtung bei Clemens XIV. fehlt. Man kann daher auch denken, dass Alphons in einer Innenschau den Tod des Papstes erlebt hat, in einer Art telepathischer Kommunikation. Die zeitliche Koinzidenz von Erlebnis und Realereignis lässt auch an eine teleästhetische Kommunikation oder eine Fernwahrnehmung denken. 

Gemeinsam ist beiden Fällen, dass sowohl Antonius als auch Alphons sich während der angeblichen B. in einem veränderten Bewusstseinszustand, wohl der Ekstase, befanden, da sie die Umgebung nicht wahrnahmen und auch nicht ansprechbar waren.

Von einer realen körperlichen Anwesenheit an zwei verschiedenen Orten kann also keine Rede sein, auch bei den zahlreichen anderen Fällen nicht, zumal die Dokumentationen ausschließlich Beobachtungscharakter haben. Es liegen keine Messungen oder Abwägungen der beobachteten Personen an beiden Orten vor.
Die oft im Zusammenhang mit B. genannten Erlebnisse in > Trance und > Ekstase sowie die außerkörperlichen Erfahrungen gehören in den Bereich der veränderten Bewusstseinszustände. > Astralprojektion, > Außerkörperliche Erfahrung, > Doppelgänger, > Astralleib, > Ätherleib.

Lit.: Gatterer, Alois: Der wissenschaftliche Okkultismus und sein Verhältnis zur Philosophie. Innsbruck: Felizian Rauch, 1927; Thurston, Herbert: Die körperlichen Begleiterscheinungen der Mystik. Luzern: Räber, 1956; Frei, Gebhard: Zum Problem der Bilokation. Verborgene Welt 8 (1959) 4, 3-4; Ritzel, Ferdinand: Pater Pio: seine geistliche Gestalt – sein weltweites Wirken. Wiesbaden: Credo-Verlag, 21970; Schamoni, Wilhelm: Parallelen zum Neuen Testament: aus Heiligsprechungsakten übersetzt/M. e. Geleitw. v. Kard. Dr. Lorenz Jaeger. Abensberg: Josef Kral, 1971; Dettore, Ugo: L’altro regno: Enciclopedia di metapsichica, di parapsicologia e di spiritismo. Milano: Bompiani, 1973; Martinetti, Giovanni: La vita fuori del corpo/Prefazione di Massimo Inardi. Turin: Editrice Elle di Ci, 1986; Laurentin, René: Bilocations de mère Yvonne-Aimée: étude critique en référence à ses missions/P. Mahéo, Paris: O.E.I.L., 1990; Guiley, Rosemary Ellen: Harper’s Encyclopedia of Mystical & Paranormal Experience. San Francisco: Harper 1991; De Boni, Gastone: L‘uomo alla conquista dell‘anima/Vorw. v. Ernesto Bozzano. Modena: Edizioni Artestampa, 1993; Gregorio, Oreste: Das Phänomen der Bilokation im Leben des hl. Alfons von Liguori. Grenzgebiete der Wissenschaft 52 (2003) 3, 219-236; Treece, Patricia: The Mystical Body: An Investigation of Supernatural Phenomena. New York: Crossroad Pub. Co., 2005.
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