Annius von Viterbo

Der Dominikanerpater Giovanni Nanni da Viterbo, bekannter als Annius von Viterbo (1432-1502), veröffentliche 1494-1498 eine Sammlung von Manuskripten mit Kommentaren zu Texten, die fälschlicherweise Berosus, Cato, Xenophon u.a. zugeschrieben wurden und 1498 in Rom als sein Hauptwerk mit dem Titel Antiquitatum variarum volumina XVII erschienen. In diesen Schriften beschreibt A. weitläufig einen germanischen Stammbaum. Dies hatte fatalen Einfluss auf die Bildung des Mythos einer gemeinsamen Abstammung der Germanen und ihrer frühen Heldengeschichte, ausgelöst durch die Wiederentdeckung der Germania des römischen Historikers Tacitus im 15. Jh. Tacitus erwähnt nämlich im zweiten Kapitel seiner im Jahre 98 publiziertenGermania einen mythischen Stammvater der Germanen namens > Tuisto: „Die Germanen feiern in alten Liedern, den einzigen Denkmälern ihrer Überlieferung und Geschichte, einen erdgeborenen Gott Tuisto und seinen Sohn Mannus, den Urvater und Begründer ihres Stammes…“ Diese Ausführungen wurden nun von den deutschen Humanisten nach den genealogischen Beschreibungen der Germanen rezipiert, die A. den deutschen Gelehrten in einer raffinierten Synthese anbot.
Nanni integrierte nämlich antike Informationen in den biblischen Ursprungsmythos und behauptete in einem dem babylonischen Priester Berosus zugeschriebenen „Fragment“ (sog. Pseudo-Berosus), dass der einzig von Tacitus erwähnte germanische Tuiscon ein direkter Nachfahre des biblischen Noah sei. Aus germanischen Stammesnamen wie den Ingävonen, Herminonen, Istävonen, Sueben etc. leitete Nanni deren Stammväter ab, nämlich Ingävon, Herminon, Suevus usw. und konstruierte so eine völlig fiktive deutsche Urvätergenealogie. Nannis Pseudo-Berosus wurde nämlich in Deutschland zeitgleich mit der Taciteischen Germania rezipiert und war ab dem zweiten Jahrzehnt des 16. Jhs. allgemein bekannt. Er suggerierte den deutschen Humanisten, dass die Deutschen aufgrund ihrer biblischen Wurzeln ein „uralt volck“, die älteste Nation Europas, das europäische Urvolk schlechthin seien.
So entwickelte sich in Deutschland Mitte des 16. Jhs. auf der Grundlage dieser Fälschung ein in Europa einzigartiger Stammväterkult. Dieser hatte die Funktion, das durch die Reformation in seinem Zusammenhalt gefährdete Heilige Römische Reich Teutscher Nation auf eine neue ideologische Grundlage zu stellen: Erstens sollte die Religionsspaltung durch den Gedanken einer gemeinsamen Abstammung aller Deutschen aufgehoben werden; zweitens sollte sich das Reich von seiner römischen Tradition lösen. 1543 erschien in Nürnberg die erste Tuiscongenealogie, die 12 Holzschnitte umfasste. Sie beginnt mit Tuiscon und endet mit dem ersten fränkischen Kaiser, Karl d. Großen (800-814).

W.: Berosi sacerdotis chaldaici antiquitatum libri quinque reliquorum antiquitatum authorum catalogum, sequens indicabit pagellacum commentariis Joannis Annii viterbensis. Wittebergae: Typis Martini Henckelij sumptibus Samuelis Seelfischij, 1612.
Lit.: „Römische Caesaren, germanische Stammväter und Römisch-deutsche Kaiser“. In: Die Kultur der Kleider. Zum hundertjährigen Bestehen der Lipperheideschen Kostümbibliothek. Hrsg. von Adelheid Rasche. Berlin, 1999; Hutter, Peter: Germanische Stammväter und römisch-deutsches Kaisertum. Hildesheim [u.a.]: Olms, 2000; Tacitus, Cornelius: Germania: lateinisch und deutsch. Übers., erl. und mit einem Nachw. hg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam, 2000.
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