Abgrund

A. (lat. abyssus), bezeichnet in der christlichen Mystik den unergründlichen Innenraum der Gottheit. So ist bei > Hadewijch das Bild des A. die Veranschaulichung des Einheitsmoments im Leben der Gottheit (I. Vision, 175). Dabei ist nach Meister > Eckhart Gott „im Meer seiner Grundlosigkeit“ nicht zu begreifen (DW, I 123,2 f). Heinrich > Seuse fühlt sich in seinen Schauungen „in den wilden Abgrund der göttlichen Verborgenheit“ hineingezogen (Bihlmeyer, 21). Diese Verborgenheit erfährt der Mensch, nach Johannes > Tauler, wenn ihn Verstand und Weisheit „in den göttlichen Abgrund führen, wo Gott sich selbst erkennt und sich selbst versteht und seine eigene Weisheit und Wesenheit schmeckt. In diesem Abgrunde verliert sich der Geist so tief und in so grundloser Weise, dass er von sich selbst nichts weiß“ (Oehl, 55). > Mechthild von Magdeburg hingegen bezeichnet mit Abgrund den alles Negative umfassenden Zustand der > Hölle. Hier klingt das psychologische Verständnis des Abgrundes an, das in der > Kabbala mit dem Begriff des > Abyss und im AT mit > Scheol beschrieben wird.

Lit.: Bihlmeyer, Karl (Hg.): Heinrich Seuse, Deutsche Schriften. Stuttgart, 1907; Eckhart, Meister: Die deutschen und lateinischen Werke. Stuttgart: Kohlhammer, 1936; Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit. Einsiedeln: Benziger, 1955; Oehl, Wilhelm (Hg.): Deutsche Mystikerbriefe des Mittelalters: 1100-1550. Unveränd. reprograf. Nachdr. d. Ausg. München, 1931. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1972; Gerald Hofmann: Hadewijch, Das Buch der Visionen, Teil 1. Einleitung, Text und Übersetzung. Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog, 1998.
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