Besessenheit

(Engl. possession, fr. possession; it. possessione; span. obsesión), Besetzung von Körper und/oder Geist einer Person durch überwältigende geistige Kräfte und Mächte bis zur Ausschaltung des eigenen Ichbewusstseins und der persönlichen Verhaltenskontrolle. B. tritt als Phänomen und Vorstellung in allen Kulturen auf und reicht bis an den Ursprung der Menschheitsgeschichte zurück. Dabei fußte B. ursprünglich auf den Vorstellungen von bösen Geistern (Dämonen), die den Menschen umlauern und bei mangelnder Abwehr oder persönlichem Zutun in ihn einfahren können. Ferner wurden auch alle körperlichen und geistigen Veränderungen ohne erkennbare Ursache bösen Geistern zugeschrieben, die es zu bekämpfen galt.

1. Psychologische Deutung
Nach heutigem Gesundheitsverständnis müssen hinsichtlich B. alle Diagnosen nach dem Internationalen Dia­gnosenschlüssel ICD-10 klassifiziert werden. In diesem Schlüssel liest man unter der Nummer F 44.3 folgende Beschreibung von „Trance- und Besessen­heitszuständen“: Dies sind

„Störungen, bei denen ein zeitweiliger Verlust der persönlichen Identität und der vollständigen Wahrnehmung der Umgebung auftritt; in einigen Fällen verhält sich ein Mensch so, als ob er von einer anderen Per­sönlichkeit, einem Geist, einer Gottheit oder ,einer Kraft‘ beherrscht wird. Aufmerksamkeit und Bewusstsein können nur auf ein oder zwei Aspekte der unmittelbaren Umgebung begrenzt und konzentriert sein und häufig findet sich eine eingeschränkte, aber wiederholte Folge von Bewegungen, Stellungen und Äußerungen“.

Das diagnostische Manual DSM IV psychischer Störungen zählt die Beses­senheit zu den „dissoziativen Störungen (oder hysterischen Neurosen)“:

„Die Überzeugung der Besessenheit von einer anderen Person, einem Geist oder einem anderen Wesen kann als Symptom einer Multiplen Persönlich­keitsstörung auftreten. In solchen Fällen ist das Symptom ,besessen zu sein‘ in Wirklichkeit Ausdruck der Erfahrung des Einflusses der anderen Persönlichkeit auf das Verhalten und die Stimmung des Individuums. Das Gefühl der ‚Besessenheit‘ kann jedoch nicht nur als Symptom der disso­ziativen Störung auftreten, sondern auch als Wahn in einer psychotischen Störung, z. B. der Schizophrenie.“

Oft handelt es sich bei diesen Erscheinungsformen multipler Persönlichkeiten jedoch nur um die Aktivierung von sekundären Persönlich­keiten. In derartigen Fällen sollte man von der Diagnose „Schizophrenie“ zu „Dissoziativer Reaktion“ übergehen. Solche dissoziativen Reaktionen können nämlich in kontrollierbaren Ansätzen kreative Phasen darstellen.

Tab. 1 dazu siehe unter: Lexikon der Paranormologie, Band 2: B – Byzanz (Andreas Resch), S. 195

2. Trance- und Besessenheitszustände
In diesem Zusammenhang sind auch die verschiedenen Trancezustände zu beachten, also jene Bewusstseinsformen, in denen sich die Person zwar bewusst ist, aber anscheinend die äußeren und in­neren Reize nicht wahrnimmt oder nicht darauf reagiert. Diese Perso­nen handeln, als ob sie sich in ihrer eigenen Welt befänden. Sie sind je­doch nur anscheinend teilnahmslos, weil sie in Wirklichkeit sehr kom­plexe Handlungen ausführen können.

a) Besessenheitstrance
Bei der Besessenheitstrance kommt zur normalen Trance der Aspekt der Besetzung durch ein anderes Wesen hinzu. Form, Praxis, Erfah­rung und Bedeutung sind der beobachtenden Gemeinde wohlbekannt, weshalb die Besessenheitstrance eine allgemeine soziale Erfahrung darstellt, die von der Gemeinde gepflegt und akzeptiert wird. Die Be­sessenheitstrance kann selbst induziert werden, etwa von einem Hei­ler als Teil des Exorzismus, sie kann aber auch als Manifestation einer Besessenheit erfahren werden. Zudem kann sie ein ritueller Teil einer religiösen Handlung sein. In all diesen Fällen ist die Besessenheits­trance zwar als einmalig, jedoch als im Kontext spezieller Aktivitäten einer Gemeinde als normal zu betrachten.

b) Neurotisches Besessenheitsverhalten
Im Gegensatz zur Besessenheitstrance beinhaltet das neurotische Besessenheitsverhalten keine spezifischen Bewusstseinsfor­men, sondern zeigt nur Verhaltensmuster, die von der Gesellschaft auf der Linie „außergewöhnlich bis pathologisch“ eingestuft werden. Es dient sowohl dem Symptomausdruck als auch der Symptomlösung. Aus diesem Grunde wird das neurotische Besessenheitsverhalten von man­chen Kulturgruppen als Form der Konfliktaustragung bejaht.

c) Psychotisches Besessenheitsverhalten
Wenngleich es zwischen neurotischen und psychotischen Syndro­men Überlappungen gibt, zählt man zum psychotischen Besessenheits­verhalten eine Reihe kulturgebundener reaktiver Syndrome, wie Amok­laufen, > Latah (das zwangsmäßige Nachahmen von Handlungen bei Malayen, Afrikanern und Lappländern), > Koro (die vor allem in Asien epi­demisch auftretende Angst, der Penis könnte sich in den Körper zu­rückziehen, was zum Tod führen würde), > Pibloktoq (auch „arktische Hy­sterie“ genannt – ein- bis zweistündige Anfälle vor allem bei Frauen, mit tierischen Schreien und Zerreißen der eigenen Kleider – nach dem Anfall sind die Personen wieder völlig normal), > Witiko (die Angst, in ein Mon­ster verwandelt zu werden) oder gewisse Verhaltensmuster des Voo­doo-Rituals. Die Symptome sind charakterisiert durch ein stereotypes Verhalten meist psychotischen Ausmaßes, das kulturell eindeutig als pathologisch bezeichnet wird.

d) Tabellarische Darstellung der Eigenart der Besessenheitstrance
Die folgenden Tabellen veranschaulichen die physiologischen und transpersonalen Unterschiede der Besessenheitstrance zu anderen Trancezuständen (Tab. 1-2, nach Gagliardi/Margnelli, 1991):

Tab. 2 siehe unter: Lexikon der Paranormologie, Band 2: B – Byzanz (Andreas Resch), S. 196

3. Dämonische Besessenheit
Während der Glaube an dämonische Besessenheit und Exorzismus sehr weit gestreut ist, sind das aktuelle Auftreten von Fällen dämoni­scher Besessenheit und die Praxis des > Exorzismus begrenzter. So ist z.B. das Auftreten des Empfindens, von einem Dämon besessen zu sein, meist mit folgenden sozialen Ge­gebenheiten verbunden:

–  bedrückende soziale Struktur, aktuell vor allem Mangel an Sinngebung
–  Verlust des Vertrauens in die Effizienz der Institutionen
–  scheinbare Unfähigkeit, mit den Übeln der gegebenen Situation fertig zu werden.

Wenn diese Faktoren eintreten, beobachtet man die Per­sonifizierung des Umfeldes in böse Dämonen, eine Verschiebung des so­zialen Protests in Form von Anklage, Besessenheit und Verhexung so­wie persönlicher Erfahrung von Besessenheit. Das Besessensein von sozialem Übel wird personifiziert, wobei der Angeklagte, der Kläger und der Exorzist die Symbolisierung des sozialen Konflikts in einer Ersatzform zu lösen suchen, weil aktiver Protest und Reform unmöglich zu sein scheinen.

a) Formen
Allgemein werden drei Formen von B. unterschieden:

Circumsessio (Umsessenheit): Die Dämonen belagern einen Menschen, ohne in seinen Körper einzudringen und ihm Schaden zuzufügen.
Obsessio (Besetzung): Der Dämon ergreift Besitz des Menschen, indem er in seinem Körper wohnt.
Possessio (Besitznahme): Der Mensch ist ein völlig willenloses Objekt der Dämonen, die ihn körperlich und geistig in Besitz nehmen und jeder Freiheit berauben.

b) Reaktionen
Der Ausbruch der Reaktionen des „Besessenen“ ist nicht vorherzusehen. Zuweilen geschieht es ganz plötzlich, dann wiederum gehen deutliche Anzei­chen voraus: der Betroffene schließt sich ab, beginnt zu schweigen, sein Blick geht ins Leere, die Pupillen verengen sich zu einem Punkt, er beginnt tief zu atmen, zeigt Ekel und neigt zu Brechreiz; alsdann setzen teils ruckarti­ge Bewegungen ein, die sehr oft auf den Hals- und Schulterbereich be­schränkt sind, Zittern am ganzen Leib macht sich bemerkbar. Mehr oder minder verständliche Schreie und Röcheln machen sich breit, unflätige Reden prasseln hernieder, die Schreie werden immer dröhnender, hefte Be­wegungen durchzucken den ganzen Körper und verlaufen immer unko-

ordi­nierter, bis schließlich die motorische Krise in höchst bizarre und unnatür­liche Haltungen ausartet. In der Folge flaut die Krise ab, das Opfer ist sehr geschwächt, manchmal schläft es ein, um ein paar Minuten später mit dersel­ben Abfolge der Verhaltensformen zu beginnen; oder aber es kommt zu kei­ner Krise mehr. Fast immer jedoch kommt es zu einer verstärkten Urinab­sonderung. Nach einiger Zeit ist sein Verhalten entspannt, die Haltung ist aufrecht und auch die Ausdrucksweise ist bestimmt. Der Betroffene macht ganz den Eindruck, als könne er sich an nichts mehr erinnern.

c) Theologische Aspekte
Die Bibel versteht unter B. die Besitzergreifung eines Menschen durch einen Dämon oder bösen Geist, der in ihm negativ handelt, was sich in verschiedenen beeinträchtigenden Formen zeigen kann: in Krankheit (1 Sam 16,15-23; Mk 9,14-29), in schädigendem Verhalten der Betroffenen gegen sich selbst und die Umwelt (Mk 5,1-5), in Verwahrlosung (Mt  12,43-45; Lk 11,24-26). B. wird

im jüdischen und biblischen Schrifttum dem Wirken Satans und der ihm untergebenen Geisterwelt zugeordnet. Die endgültige Überwindung der Dämonen wird einzig und allein von Gott erwartet. Menschen können Dämonen nur für gewisse Zeit bannen (Sam 16,15-23).

Wie in allen Religionen sind auch im Christentum seit dem Neuen Testament zahlreiche Fälle von dämonischer B. belegt, die man durch Gebete und Riten, insbesondere durch den Exorzismus, zu bekämpfen sucht. Vorbild ist dabei Christus, der Kraft seiner göttlichen Vollmacht (Mk  1,22.27) die verschiedenen Formen der B. im Menschen überwindet und damit ein Zeichen des Anbruchs der Gottesherrschaft setzt.
Wie immer man auch die dämonische B. definiert: eine direkte Beurteilung einer echten dämonischen B. ist aus den Verhaltensmustern, wie oben gezeigt, nicht möglich; man kann höchstens von Indizien sprechen, die jedoch einer besonderen Abwägung bedürfen, wie unter > Exorzismus gezeigt wird.

Lit.: Ringger, Peter: Das Problem der Besessenheit. Oberengstringen/Zürich: Verlag Neue Wissenschaft, 1953; Petersdorff, Egon von: Dämonologie. I.  Band. Dämonen im Weltenplan. München: Verlag f. Kultur u. Geschichte, 1956; ders.: Dämonologie. II. Band. Dämonen am Werk. München: Verlag f. Kultur u. Geschichte, 1957; Balducci, Corrado: Gli indemoniati/M. e. Vorw. v. Emilio Servadio. Rom: Coletti, 1959; Roesermueller, Wilhelm Otto: Die göttliche Heilkunst Jesu: Beten und Fasten, die biblische Radikalkur gegen geistig-seelische Störungen, Gemütsdepressionen, Selbstmordgedanken, Besessenheit und leibliche Krankheiten; ein hilfreicher, religiöser Ratgeber für Hoffnungslose, Verzweifelte und von der ärztlichen Kunst Aufgegebene. Freiburg i.Br.: Hermann Bauer, 31960; Rodewyk, Adolf: Die dämonische Besessenheit: in der Sicht des Rituale Romanum. Aschaffenburg: Paul Pattloch, 1963; ders.: Dämonische Besessenheit heute: Tatsachen und Deutungen. Aschaffenburg: Paul Pattloch, 1966; Tod und Teufel in Klingenberg: eine Dokumentation/Manfred Adler; Balducci, Corrado; Bender, Hans; Elliger, Katharina; Fischer, Heinz-Joachim; Haag, Herbert; Rahner, Karl; Ratzinger, Joseph Kard.; Resch, Andreas; Rodewyk, Adolf [Mitarb.]. Aschaffenburg: Paul Pattloch, 1977; Teufel – Dämonen – Besessenheit: zur Wirklichkeit des Bösen/Walter Kasper; Karl Lehmann [Hrsg.]. Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag, 1978; Aubin, Nicolas: Geschichte der Teufel von Loudun: oder der Besessenheit der Ursulinen und von der Verdammung und Bestrafung von Urbain Grandier, Pfarrer derselben Stadt. 2., verb. Aufl. Berlin: Zerling, 1981; Naegeli-Osjord, Hans: Besessenheit und Exorzismus. Remagen: Der Leuchter, Otto Reichl Verlag, 1983; Frei, Gebhard: Probleme der Parapsychologie: die Welt der Parapsychologie, Besessenheit, Exorzismus und Ekstase. Die Parapsychologie in der Welt des Wissens/Mit einem Vorwort von Andreas Resch. Innsbruck: Resch, 31985; Calducci; Corrado. Il diavolo: “…esiste e lo si può riconoscere”. Casala Monferrato: Piemme, 51989; Gagliardi, Giorgio/Marco Margnelli: Psychologische und psychophysiologische Betrachtungen zum Ritus des Exorzismus im christlich-katholischen Bereich. In: Grenzgebiete der Wissenschaft 40 (1991) 1; Goodman, Felicitas D.: Ekstase, Besessenheit, Dämonen: die geheimnisvolle Seite der Religion. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn, 1991; Naegeli, Hans: Umsessenheit und Infestation: die leichteren Formen der Besessenheit. Frankfurt a. M.: R.G. Fischer, 1994; Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen DSM IV: übersetzt nach der 4. Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders der American Psychiatric Association/dt. Bearb. u. Einf. von Henning Saß. Göttingen [u.a.]: Hogrefe, 1996; Schiebeler, Werner: Besessenheit und Exorzismus: Wahn oder Wirklichkeit? Aus parapsychologischer Sicht. Ravensburg: Wersch Verl., 21999; Internationale Klassifikation psychischer Störungen: ICD-10 Kapitel V (F); diagnostische Kriterien für Forschung und Praxis/Weltgesundheitsorganisation. Hrsg. von H. Dilling. 2., korrig. und erg. Aufl. Bern [u.a.]: Huber, 2000; Exorzismus oder Therapie? Ansätze zur Befreiung vom Bösen. Regensburg: Friedrich Pustet, 2005.
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