Guyon, Jeanne-Marie Bouvier de La Motte

Genannt Madame Guyon (* 13.04.1648 Montargis, Frankreich; † 09.06. 1717 Blois, Frankreich), katholische Mystikerin.
G. war die Tochter eines wohlhabenden Richters. Während eines kurzen Aufenthaltes in einem Kloster kam sie mit den Schriften des Franz von Sales und der Johanna Franziska von Chantal in Berührung. Ihre Absicht, Nonne zu werden, verwirklichte sich nicht. Vielmehr wurde sie gegen ihren Willen von ihren Eltern sechzehnjährig mit dem um 22 Jahre älteren, reichen Adeligen Jacques Guyon, Seigneur du Chesnoy, verheiratet, weshalb sie gelegentlich auch Madame du Chesnoy genannt wird. Zwei ihrer insgesamt fünf Sprösslinge starben im Kindesalter. In Paris kam sie 1671 mit der Lehre Jacques Bertots in Berührung, die sie stark prägte und der ihr Seelenführer und Beichtvater wurde.
1676 wurde G. Witwe. Nach dem Tod Bertots 1681 übernahm sie in Gex bei Genf die Leitung einer Gemeinschaft von calvinistischen Konvertitinnen („Nouvelles Catholiques“), wo sie den Barnabiten François La Combe (1640-1715) als neuen Beichtvater wählte. Aufgrund großen Widerstands gab sie ihre erfolgreiche Arbeit in Gex bald wieder auf, um sich, durch Pater La Combe bestärkt, in Thonon niederzulassen und sich der Abfassung mystischer Schriften zu widmen, womit sie zur bedeutendsten Vertreterin des mystischen Quietismus wurde. Da sie sich zunehmend auf eigene, visionäre Erlebnisse berief, kam sie mit der katholischen Kirche in Konflikt.
1686 ließ sich G. in Paris nieder und nahm den Kontakt zu mystisch frommen Kreisen wieder auf. Zu ihnen gehörten auch einige hochadelige fromme Damen wie Madame de Maintenon, die Mätresse König Ludwigs XIV. 1688 wurde G. auf Anordnung des Pariser Erzbischofs, den ihre Verbindungen irritierten, in ein Pariser Kloster gesteckt, durch Intervention von Madame de Maintenon aber bald wieder freigelassen.
G. begegnete nun dem neu ernannten Prinzenerzieher François Fénelon, den sie ebenfalls tief beeindruckte und der ihr eng verbunden blieb. Durch ihren wachsenden Einfluss machte sie sich jedoch nicht nur bei den Mächtigen am französischen Hof, sondern auch bei den meisten kirchlichen Würdenträgern verdächtig.
Der ehemalige Prinzenerzieher und mächtige Bischof von Meaux, Jacques Bénigne Bossuet, brach den sog. Quietismusstreit vom Zaun, indem er 1694 bei einer theologischen Prüfung ihrer Schriften mehr als 30 „Irrtümer“ konstatierte. Zwar verfasste ihr Freund Fénelon eine Verteidigungsschrift, die Explication des Maximes des Saints, und G. selbst zeigte am Ende Gehorsam, nachdem Bossuet sich auch der Unterstützung des Papstes vergewissert hatte. Dennoch wurde sie 1695 erneut wie ein Staatsfeind zunächst in der Festung Vincennes, dann in einem Kloster interniert und schließlich 1698 bis 1703 sogar in der Bastille gefangengehalten, die als Gefängnis für höherstehende Personen diente.
Nach ihrer Freilassung zog sich G. krank zu einem ihrer Söhne in Diziers bei Blois zurück, wo sie ihre letzten Jahre verbrachte. Mit ihrer wachsenden Anhängerschaft, die sie nicht zuletzt in protestantischen Kreisen in England und in Deutschland fand, konnte sie nur noch schriftlich verkehren.
Die vielfältigen Schriften von G. Briefe, geistliche Gesänge, Ströme, Lieder, Buch vom innern Gebet, von der Kindererziehung, Bibelerklärungen, ihre Lebensbeschreibung usw. verschafften ihr in ganz Europa, vor allem aber in Deutschland erstaunliches Ansehen. Hier ist besonders ihre kaum zu überschätzende Bedeutung in der Geschichte des deutschen Pietismus zu nennen, gleichermaßen nachweisbar bei dessen hervorragendsten Vertretern, z.B. Gottfried Arnold, August Hermann Francke, Gerhard Tersteegen, Nikolaus von Zinzendorf und Johann Heinrich Jung-Stilling, wie bei den schwärmerischen Randgruppen (Berleburger Bibel).
Ihre Lehre ist praktisch in den beiden Hauptwerken: Moyen court et tre facile de faire araison / Kurzer und sehr leichter Weg zum inneren Gebet (1689) und Torrents spirituels / Sprituelle Ströme (1691) zusammengefasst.
Die Grundgedanken ihre Spiritualität sind dabei: die Liebe zu Gott und die Hingabe an den Willen Gottes zur Erreichung der Einheit mit Gott durch die liebevolle Unterwerfung unter das Wirken des Heiligen Geistes. Die Verwirklichung dieser Vorgaben erfolgt in drei aufeinanderfolgenden Stufen: Meditation, Gebet und Kontemplation. In der Kontemplation soll der Höhepunkt des mystischen Lebens erreicht werden.

W.: Die Ströme. Nach e. dt. Ausg. aus d. Jahre 1817; Von der Leichtigkeit, Gott zu finden: das innere Gebet der Madame Guyon / hrsg. von Emmanuel Jungclaussen. Schwarzenfeld: Neufeld Verlag, 2016.
Lit.: Poiret, P.: Madame Guyon, Oeuvre et opuscules spirituelles, 42 Bde. Amsterdam, 1713 bis 1722; Von Redern, Hedwig: Die Geschichte einer Seele: Leben, Leiden und Lehren v. J. M. B. de la Motte G., 1908; Mallet-Joris, Françoise: Jeanne Guyon. Biografie. Flammarion, 1978.
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