Englische Mystik

Nationalsprachige Tradition der christlichen Mystik in England. Ihre Blütezeit erstreckte sich auf die mystische Bewegung im ausgehenden MA (um 1330 bis um 1430). Zu den bedeutendsten Vertretern dieser Periode gehören der Liebesmystiker Richard Rolle, der Mystagoge Walter Hilton, die Visionärin Juliana von Norwich, die Ekstatikerin Margery Kempe und der Augustiner Chorherr William Flete, der in Italien als geistlicher Berater u.a. von Katharina von Siena wirkte.
Neben den Augustinern waren es vor allem Zisterzienser, Augustiner, Benediktiner, Kartäuser und z.T. auch Franziskaner, Dominikaner und Karmeliter, welche eine wachsende Zahl von Laien und Religiosen betreuten, die sich von der Welt abwandten. Als der produktivste Mystiker erwies sich Richard Rolle, dessen Einfluss bis in das 17. Jh. und über die Landesgrenzen hinaus reichte. Rolle und Hilton waren theologisch gebildet und warnten ihre Schüler eindringlich davor, in Visionen, Auditionen oder anderen sinnlich wahrnehmbaren Phänomenen das eigentliche Ziel des mystischen Weges zu sehen.
Dieses mystische Erbe wurde dann vor allem von den Kartäusern, Karmelitern, Benediktinern und dem 1415 gegründeten Doppelorden der Brigittiner durch Vervielfältigung und Verbreitung mystischer Werke in England und auf dem Kontinent, wie durch die Übersetzung der Texte The Cloud of Unknowing und Hiltens Scale of Perfection ins Lateinische, bekannt gemacht. Die Einführung des Buchdruckes in England (1476) verlieh schließlich auch der mystischen Literatur eine Breitenwirkung.
Nach der Trennung der englischen Kirche von Rom (1534) und der Auflösung aller Orden durch Heinrich VIII. spaltete sich die e. M. in eine anglikanische Tradition von der sich im 17. und 18 Jh. mehrere christlich-mystische Religionsgemeinschaften trennten (Quäker um 1660, Methodisten um 1730) und eine katholische Tradition. Zentren der katholischen Mystik zur Zeit der Gegenreformation waren Ordenshäuser der Benediktiner, Franziskaner und Jesuiten im französischen Exil.
Heute sind die seit dem 19. Jh. wieder zugelassenen Orden, insbesondere die Dominikaner in Oxford und die Brigittinerinnen in Syon, zu Trägern der katholischen Mystik in England geworden.

Lit.: The 14th-Century English Mystics. A Comprehensive Annotated Bibliography, hg.von R. Bradley/V.A. Lagorio. N.Y., 1981; Dinzelbacher, Peter: Wörterbuch der Mystik. Stuttgart: Kröner, 1989; Riehle, Wolfgang: Englische Mystik des Mittelalters. München: Beck, 2011.

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