Babylonien

Das Gebiet des heutigen südlichen Irak, an den Ufern von Euphrat und Tigris gelegen. Hier entstanden zu Beginn der späten Steinzeit zwischen 5000 und 3000 v. Chr. erste feste Siedlungen und die älteste bekannte Hochkultur der Welt. Es waren die Sumerer, die während des 4. Jahrtausends dieses Gebiet besiedelten. Ihre hoch entwickelte, auf Landwirtschaft basierende Kultur bestand aus einer Reihe von einzelnen Stadtstaaten, die sich zunächst keiner Zentralgewalt unterordneten, um 2350 aber zum altsumerischen Reich vereinigt wurden. Um 2300 erlagen die Sumerer den aus dem Norden kommenden Akkadern, die ihrerseits dann um 2150 von den Gutäern verdrängt wurden, deren Herrschaft aber nur etwa 100 Jahre dauerte. Nun lebte Sumer als sumerisches Reich wieder auf. Sumerische und semitische Einflüsse verschmolzen, doch die ständige semitische Zuwanderung benachbarter Völker führte schließlich zum Niedergang dieser Kultur und es bildeten sich zwei neue semitische Staaten: das bereits unter den Sumerern begonnene Assyrische Reich und das in der Nähe der Stadt Babylon entstehende Babylonien, das unter seinem bedeutendsten Herrscher > Hammurapi um 1700 v. Chr. bis an die Grenzen Assyriens ausgedehnt wurde. Mehrfach überfallen geriet es zeitweilig unter assyrische Herrschaft. Schließlich vernichteten die Babylonier Assyrien und unter > Nebukadnezar II. stieg Babylonien wieder zur Großmacht auf (6. Jh. v. Chr.). Danach zerfiel das Reich neuerlich. Am 16. Oktober 539 wurde Babylon von persischen Truppen besetzt. Am 29. Oktober zog schließlich der Perserkönig Kyros II. unter dem Jubel der Priesterschaft in die Stadt ein und wurde sofort als Machthaber eingesetzt. Er führte eine Politik der Duldsamkeit, gab den Städten ihre Götter zurück und gestattete den Juden, die Nebukadnezar in die babylonische Gefangenschaft geschickt hatte, nach Jerusalem zurückzukehren (2 Chron 36,20; Esra 1,2).
Die aramäische Sprache wurde als Amtssprache eingeführt, wobei die Wissenschaftler weiterhin die akkadische Sprache und Schrift benutzen konnten. Gelehrte aus Ägypten, Indien, Persien und Griechenland kamen, um ihr Wissen zu vertiefen. 333 bzw. 331 besiegte dann Alexander d. Gr. die persischen Streitkräfte in der Schlacht von Issos und Gaugamela. Die Griechen tolerierten die persische Kultur und erweiterten sie um Theater und zusätzliche Errungenschaften. Nach Alexanders Tod wurde das Gebiet durch Kriege verwüstet. Im 1. Jh. übernahmen die Parther
die Macht in Mesopotamien und beendeten damit die fast zweitausendjährige Existenz Babyloniens.
Kultur
Die zweitausendjährige Geschichte Babyloniens ist in ihrer Entwicklung von einer kulturellen Vielfalt getragen, die in ihrer Gesamtheit nicht mehr überschaubar ist, weil Bauten, Bildwerke und Texte oft nur sehr mangelhaft erhalten sind. Als Quellen stehen uns jedoch neben > Herodot, > Strabo und dem Alten Testament, Keilschrifttexte (Assurbanipal) zur Verfügung. Diese umfassen Mythen und Epen (> Adapa-Mythos, > Enumaelis, > Etana-Mythos, > Gilgameschepos, Höllenfahrt der Ischtar und des Nergal u.a.), Lieder und Gebete sowie Beschwörungen und Ritualtexte, die meist aus Priesterhand hervorgegangen sind, weshalb sie nur am Rande die Volksreligion wiedergeben.
Dabei ist zunächst festzuhalten, dass das Land, wie oben erwähnt, vor den Babyloniern und Assyrern, die Semiten waren, vom nicht-semitischen Volk der Sumerer bewohnt wurde, von denen die Semiten die Keilschrift übernahmen. Daher ist die babylonische Kultur als eine Mischung bzw. Verschmelzung von sumerischen und semitischen Kulturelementen zu sehen.
Religion
Schon um 2500 enthielten die Götterlisten der sumerischen Ureinwohner Hunderte von Namen. Die einzelnen Götter waren in erster Linie nicht Machtwesen, sondern Funktionswesen, deren Macht begrenzt war. Der Eingriff eines Gottes in den Bereich eines anderen, etwa durch einen Eroberungskrieg eines Fürsten, wurde als schwere Sünde gewertet. Als Vorort unter den Städten Babyloniens galt Nippur, dessen Gott > Enlil (Herr Wind) den Landeskönig bestimmte. Die führenden Götter waren zugleich kosmische Mächte mit bestimmten Aufgaben, besonders im Dienst der Fruchtbarkeit und der Versorgung der Menschen.
Die semitischen Babylonier des 2. Jahrtausends übernahmen das sumerische Pantheon und ordneten ihre Götter darin ein, wobei sie Götter gleicher oder ähnlicher Funktion als Beinamen einer viel kleineren Zahl erklärten. Nach etwa 1400 entstanden zweispaltige Götterlisten, in denen einem Namen rechts bis zu vierzig Namen links gegenüberstanden. > Marduk von Babylon, der unter Hammurapi zum Mittelpunkt des Pantheon wurde, hat im Weltschöpfungsepos (Enuma Elisch und Gilgamesch) sogar 50 Namen. Die zeitweilige Vormachtstellung der Assyrer bedingte eine Erhöhung ihres Gottes > Aschur. Theologen gefiel es, genealogische Verknüpfungen von Gottheiten in Götterdreiheiten (Anu-Enlil-Ea, Schamasch-Sin-Ischtar) vorzunehmen. Gegenüber der sumerischen Religion treten weibliche Gottheiten zurück und verschmelzen zu der einen Hauptgöttin > Ischtar.
Geister und Dämonen
Unter der Oberschicht der Götterverehrung finden sich ein Geister- und Dämonenglaube sowie eine Fülle magischer Vorstellungen und Praktiken. Zu nennen sind hier Schutzgeister des Einzelnen, zuweilen aus Ahnenseelen, Mischwesen (halb Mensch, halb Tier), als Hüter von Eingängen. Legion ist die Zahl der bösen Geister, die von Zauberern auf den Menschen gehetzt werden.
Sumerer und Babylonier glaubten nämlich an dämonische Zwischenwesen zwischen Göttern und Menschen, die darauf bedacht waren, den Menschen zu schaden. Als Sonderfall galt > Lamaschtu, die Dämonin des Kindbettfiebers, welche Müttern im Kindbett und deren Säuglingen gefährlich werden konnte. Zu den Dämonen zählte man auch die „Totengeister von Menschen“, die nicht bestattet wurden; sie verursachten angeblich Geisteskrankheiten. Überhaupt wurden nicht wenige Krankheiten, wie etwa Epilepsie, als Dämonen identifiziert. Die gleiche Wirkung schrieb man Hexern und Hexen zu, die sich der schwarzen Magie bedienten. Während die Sumerer keinen Zusammenhang zwischen den Angriffen der Dämonen und den Sünden der einzelnen Person sahen, konnten nach babylonischer Theologie Dämonen, Hexer und Hexen nur dann Erfolg haben, wenn der Schutzgott die einzelne Person wegen ihrer Sünden verlassen hatte.

Bekämpft wurden diese bösen Angriffe durch Beschwörung, Gebete und Ritualhandlungen einer eigenen Priesterklasse. Hilfe gegen Dämonen erwartete man vor allem von Enki/Ea, Asalluchi/Marduk und Utu/Schamasch, doch spielten auch andere, wie die Heilgöttin > Gula, eine Rolle.
Zu den Zwischenwesen gehörten neben den bösen auch gute Genien wie die > Lama (akk. Lamassu) und nach den Bildwerken ein löwenköpfiger Adler.
Magie
Der Hauptgedanke der babylonischen Weltanschauung ist der Gedanke von der Abhängigkeit der Welt und des Menschen von der Gottheit. Daraus entspringt für jeden Menschen die Notwendigkeit der Deutung der Zeichen zur Erhaltung der Harmonie mit Gott. So werden die Vorzeichenwissenschaft, die Bedeutungskunde und die Sühnewissenschaft zu besonderen Quellen für die Lebensgestaltung.

Die Vorzeichenwissenschaft befasste sich mit allem, was als > Omen angesehen wurde: die Erscheinungen der Luft, des Himmels, bestimmter Monate oder bestimmter Tage, die Bewegungen der Tiere. Manche Vorzeichen suchte man auch selbst herbeizuführen, z.B. in der Befragung durch das Los oder der Wahrsagung aus einem Gemisch von Wasser und Öl als > Becherweissagung. Noch wichtiger als die Becherwahrsagung war die > Opferschau. Am Opfertier war alles als Vorzeichen bedeutungsvoll: Augen, Lippen, Schläfen, Leber, Gallengänge usw. Hingegen ist von Wortorakeln nur vereinzelt die Rede.
Noch stärker als die Opferschau ist der Glaube an Kräfte, die Erde und Himmel durchwalten und in Wechselwirkung stehen. So wird durch die von Priestern gepflegte > Astrologie, die schon im 1. Jahrtausend intensiv betrieben wurde, der Ablauf der irdischen Dinge an den Vorgängen am Himmel abgelesen, angefangen bei Sonne, Mond und Sternen bis hin zu Stürmen, Sternschnuppen und Meteoren. Im 5. Jh. v. Chr. errechneten die Astronomen Babylons das Sonnenjahr, 410 entwickelten sie das erste Horoskop. In dieser Zeit wurde aus den Astrallehren der Babylonier die chaldäische Astrologie entwickelt, die in der Folge die Grundlage für die hellenistische Astrologie bildete.
Ein weiteres zentrales Gebiet bilden die Lehren und Mittel zur Beeinflussung des göttlichen, dämonischen und menschlichen Willens, nämlich die Zauber- und Sühnewissenschaften, zu denen auch die magische Medizin zu rechnen ist. So war die Ausübung der Heilkunst aufs Engste mit dem Gebrauch von Zauberformeln, Beschwörungen, Gebeten, Riten und Zeremonien verbunden. Die Entstehung von Geisteskrankheiten, aber auch von Formen der Epilepsie und ähnlichen Gebrechen wurden der Wirkung böser Dämonen oder Hexen zugeschrieben. Die Hexen selbst wurden genau eingeteilt, als solche mit bösen Augen, mit böser Zunge, mit bösem Mund usw. Zur Beseitigung dieser unheimlichen Wesen fertigte man Figuren an, die diese darstellten, und verbrannte sie.
Dieser magische Kampf gegen das Schicksal wird auf literarischer Ebene im > Gilgamesch-Epos sehr anschaulich dargestellt, das zwischen 2100 und 600 v. Chr. aus dem Raum Babylonien bis Kleinasien überliefert ist und von Natur, Macht, Liebe, Selbst und Tod berichtet.
Schließlich benutzten die Babylonier nachweislich mindestens schon 1750 v. Chr. das Sexagesimalsystem.

Lit.: Münter, Friedrich: Religion der Babylonier. Beilage 3 zur Religion der Karthager. Kopenhagen: Schubothe, 1827; Danzel, Theodor-Wilhelm: Magie und Geheimwissenschaft im alten Mexico. 1924; Movers, Franz Carl: Untersuchungen über die Religion und die Gottheiten der Phönizier: mit Rücksicht auf d. verwandten Kulte d. Karthager, Syrer, Babylonier, Assyrer, d. Hebräer u. d. Ägypter. Aalen: Scientia-Verl, 1967; Thorwald, Jürgen: Macht und Geheimnis der frühen Ärzte: Ägypten, Babylonien, Indien, China, Mexiko, Peru. München: Droemer Knaur, 1985; Haas, Volkert: Magie und Mythen in Babylonien: von Dämonen, Hexen u. Beschwörungspriestern. Gifkendorf: Merlin, 1986; Schott, Heinz (Hg.): Meilensteine der Medizin. Dortmund: Harenberg, 1996; Wilcke, Claus: Wer las und schrieb in Babylonien und Assyrien? Überlegungen zur Literalität im alten Zweistromland. Bayerische Akademie der Wissenschaften. München: Beck, 2000; Jursa, Michael: Die Babylonier: Geschichte, Gesellschaft, Kultur. München: Beck, 2004; Mesopotamien: Sumerer, Assyrer und Babylonier/Enrico Ascalone. [Aus dem Ital. Caroline Gutberlet. Red. Lucia Moretti]. Berlin: Parthas, 2005.
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