Andreas Resch: Ganzheitspsychologie

WELTBILDER DER PSYCHOLOGIE

Versucht man nun nach diesem bruchstückhaften Abriss verschiedener Vorstellungen der Psychologie über Mensch und Welt den Menschen auf dem Boden der heutigen Kenntnisse in seiner psychischen und geistigen Dimension zu verstehen, so wird man all den angeführten psychologischen Systemen die Bedeutung zusprechen, die ihnen zukommt, nämlich die einer Teilbetrachtung der psychologischen Äußerungsformen des Menschen. Ein umfassendes Bild der menschlichen Äußerungsformen bieten sie nicht. Hier ist ein viel umfassenderer Ansatz gefordert, der den Menschen in den Dimensionen von Physis, Bios, Psyche und Pneuma zu verstehen versucht.

Zur Bezeichnung dieses umfassenden Ansatzes möchte ich auf den Begriff „Ganzheitspsychologie“ zurückgreifen, der – wie bereits erwähnt – 1922 von Hans Volkelt unter der Bezeichnung „Genetische Ganzheitspsychologie“ in die Psychologie eingeführt wurde und vornehmlich von der Leipziger Schule mit F. Krüger, O. Klemm, H. Volkelt, F. Sander und A. Wellek unter dem Aspekt von Erlebnis- und Struktureinheiten der Psyche ausgebaut wurde.34
Dieser Begriff wird hier jedoch über die Erlebnis- und Struktureinheiten der Psychologie hinaus als Bezeichnung der psychisch-geistigen Dynamik im Wechselspiel von Physis, Bios, Psyche, Pneuma und Kosmos verstanden, was äußere Aktivität, Innenschau und kosmische Bedingtheit gleichermaßen umfasst. (Tab. 1)

Tab. 1: Ganzheitspsychologie

Physis, Bios, Psyche, Pneuma

Eine solche Beschreibung der psychisch-geistigen Dimension des Menschen muss daher von einer ganzheitlichen Sicht der Welt und des Kosmos ausgehen. Geschichtliche Untersuchungen und historische Analysen zwingen uns dabei zur Annahme von mindestens vier qualitativ verschiedenen Wirkkräften in Mensch und Kosmos, nämlich Physis, Bios, Psyche und Pneuma nach den einleitend gemachten Beschreibungen, die hier zum besseren Verständnis noch einmal angeführt werden:

Physis oder die materielle Welt,
Bios oder der lebende Organismus,
Psyche oder die Fähigkeit zu Empfinden und Fühlen,
Pneuma oder die Fähigkeit der Bildung von Allgemeinbegriffen und der Reflexion, der Intuition, der Kreativität und Weisheit.

Diese qualitativen Kräfte wirken auf das Bewusstsein und die Gestimmtheiten des Menschen je nach Grad ihrer jeweiligen Implikation, so dass bei der Betrachtung der psychisch-geistigen Situation des Menschen die Frage zu stellen ist: Welche Kräfte sind beteiligt und welche Kraft ist dominant? Das führt zu einer Differenzierung nach:

physischen Bedingungen, wie Einfluss der Elemente, des Klimas, kosmischer Faktoren usw.,
somatischen Bedingungen, wie Anspannung, Entspannung, Lethargie, Funktionsstillstand, Gesundheit, Krankheit usw.,
psychischen Bedingungen, wie Emotionalität, Ekstase, ozeanisches Gefühl, Freude, Angst usw.
geistigen Bedingungen, wie Intuition, Kreativität, Weisheit, geistiges Einheitserlebnis, Unio mystica usw.

Bewusstseinszustände

Diese Grundbedingungen kommen in ihrer Wirkung zunächst bei folgenden Grunddimensionen außergewöhnlicher Bewusstseinszustände zum Tragen, die unabhängig von der Art ihrer Auslösung einen invarianten Kern mit folgenden Teilaspekten aufweisen:

Ozeanische Selbstentgrenzung oder Erlebnis der kosmischen Einheit bzw. des ozeanischen Gefühls,
Angstvolle Ichauflösung oder Erlebnis der Enge und Bedrängnis,
Visionäre Umstrukturierung oder das visionäre Erleben von geänderten Bedeutungswerten.

Diese drei Teilaspekte des gemeinsamen Kerns der Bewusstseinszustände stehen untereinander in Verbindung. So kann das „Numinose“  tremens et fascinans, erschreckend und faszinierend, zugleich sein.
Die sich im jeweiligen Kontext der genannten Bedingungen von Physis, Bios, Psyche und Pneuma auf dem Boden des gemeinsamen Kerns der Bewusstseinsformen bildenden Zustände können folgende Eigenarten aufweisen und ihrerseits in Wechselwirkung stehen, die ich in Wachzuständeerhöhte Zuständehypnische Zustände und lethargische Zustände zu gliedern pflege.

a) Wachzustände

Wachzustände sind Bewusstseinszustände von konzentriertem Umweltbezug bis zur relativen Umweltvergessenheit:

Wachbewusstsein ist gekennzeichnet durch Umweltbezug, zielgerichtete Bewegung und Eigenreflexion.
Protobewusstsein ist der Zustand des Sich-Verlierens in psychische oder geistige Erlebnisformen, verbunden mit Umweltvergessenheit bei weitgehender Wahrung der Erinnerungsfähigkeit an den verlassenen Umweltbezug.
Luzidität ist gekennzeichnet durch eine innere geistige Klarheit und ein unmittelbares, z.T. bildhaftes Erfassen von Zusammenhängen und Gegebenheiten.
Ekstase ist Ausdruck der völligen Inanspruchnahme durch einen psychischen oder geistigen Inhalt, der zu einer fast gänzlichen Unbeweglichkeit, einer Verringerung aller Beziehungsfunktionen, des Blutkreislaufes und der Atmung führen kann.

b) Erhöhte Zustände

Erhöhte Zustände umfassen die Weitung des inneren Bewusstseins bis zum mystischen Einheitserlebnis:

Psychostase ist der Zustand völliger psychischer Ruhe in Gestimmtheit des ozeanischen Gefühls, der sich auf somatischer Ebene wie ein Scheintod zeigen kann.
Pneumostase ist der Zustand jener geistigen Weitung und Harmonie, der die Höchstform in der Unio mystica erreicht und körperlich als ekstatischer Tod oder Verklärtheit zum Ausdruck kommen kann.
Glückseligkeit weist in ihrer letzten Ausformung bereits über die Zeitspanne und damit den Tod hinaus und ist gekennzeichnet vom Erfülltsein der Ewigkeit des eigenen Wertes, das religiös im christlichen Verständnis in der Liebesgemeinschaft mit dem Dreifaltigen Gott seine höchste Ausformung erfährt.

c) Hypnische Zustände

Hypnische Zustände bestehen in der Herabsetzung der Bewusstseins- und Funktionsfähigkeit:

Schlaf ist ein durch sensorische Hemmung bedingter Zustand herabgesetzter Bewusstseins- und Funktionsfähigkeit aufgrund von Ermüdung zur körperlichen, psychischen und geistigen Regeneration.
Hypnose ist ein Zustand veränderter Bewusstseinseinstellung, der – vornehmlich nach dem Grad der motorischen Hemmung – von der Person selbst (Selbsthypnose) oder von einem Hypnotiseur (Fremdhypnose) hervorgerufen werden kann.
Biokömese (Körperschlaf) bezeichnet die Zustände des verlangsamten Lebens, seien diese natürlich (Winterschlaf) oder künstlich (Überwinterung der Warmblüter, Totstellung, Koma).

d) Lethargische Zustände

Lethargische Zustände sind gekennzeichnet durch Herabsetzung der Körperfunktionen bis zum irreversiblen Funktionsstillstand:

Biostase ist der völlige Stillstand aller Lebensfunktionen, ein Zustand statischen Lebens in Wahrung der Funktionsmöglichkeit, die eine Wiederbelebung ermöglicht.
Thanatose ist der Zustand des suspendierten Todes oder des Scheinlebens, der Kampf des Soma gegen seine Vernichtung (Unverweslichkeit).35

Zustandsdauer

Die einzelne Zustandsform ist häufig nur von kurzer Dauer und kann blitzartig in einen anderen Zustand wechseln, wobei sich der somatische Zustand und der Bewusstseinszustand oft völlig verselbständigen können, ohne nach Eintritt in das Wachbewusstsein pathologische Spuren aufzuweisen oder zu hinterlassen. Die Psychopathologie spielt sich zwar auch im Rahmen der aufgezeigten Dimension des Wechselspiels von Physis, Bios, Psyche und Pneuma ab, kann hier jedoch bei dieser groben Skizzierung einer wissenskonformen Ganzheitspsychologie nur erwähnt werden, zumal diese Sicht einer Ganzheitspsychologie zunächst nur ein vorläufiger Entwurf sein kann, um den Menschen als kosmischen Menschen zu verstehen, der alle aufgezeigten psychologischen Vorstellungen und Bemühungen einzugliedern vermag.

SCHLUSSBEMERKUNG

Der Mensch ist nach der hier skizzierten Ganzheitspsychologie getragen von der Eigenart und Wechselwirkung des Materiellen, des Somatischen, des Psychischen und des Geistigen in ihm, hineingestellt in den Kosmos und bezogen auf die Transzendenz.

Anmerkungen:
34 A. Wellek: Das Problem des seelischen Seins.
35 A. Resch: Formen veränderter Bewusstseinszustände (1990).

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